Dem Vergessen entreißen: Vor 60 Jahren – Ernst Kamieth, ein Opfer des Kalten Krieges

Der Kalte Krieg war, wie jeder andere auch, ein Krieg voller Lügen. Ein typische Beispiel ist Verdrehung der Tatsachen rund um den Tod des Reichsbahn-Dienstellen-Leiters Ernst Kamieth.

Der 7. November 1951 war kein gewöhnlicher Tag, nicht in der DDR und auch nicht in Berlin (West): Beiderseits der Grenze wurde für die Feierlichkeiten zum 34. Jahrestag der Oktoberrevolution gerüstet, jener 10 Tage, die die Welt erschütterten, wie der US-amerikanische Schriftsteller John Reed so treffend geschrieben hatte. Die Vorbereitungen waren freilich nicht nur diesseits und jenseits der Grenze sehr unterschiedlicher Natur, sie waren es auch und vor allem innerhalb des Gebietes jenseits der Grenze, das als „Frontstadt“ Berlin (West) sehr unrühmlich in die Geschichte eingehen sollte, prallten doch gerade hier auf engstem Raume und vielfach ineinandergreifend zwei Welten zusammen, wie sie gegensätzlicher nicht sein konnten: Da war der von blindwütigem Antikommunismus geprägte Senat unter dem vom Kommunisten zum hasserfüllten rechten Sozialdemokraten gewordenen Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter auf der einen und neben den Kreisverbänden von SED und FDJ vor allem die das Eisenbahnnetz betreibende Deutsche Reichsbahn auf der anderen Seite. Die war bekanntlich mit dem 7. Oktober 1949 zum staatlichen Verkehrsunternehmen der DDR geworden und dem Senat seitdem erst recht ein gewaltiger Dorn im Auge. Freilich war er gegen besatzungsrechtliche Regelungen, darunter jene auch von den westlichen Alliierten nie in Frage gestellte Übertragung des Eisenbahnbetriebes in allen vier Sektoren durch die sowjetische Kommandantur an die Deutsche Reichsbahn, machtlos, doch seit der erst wirtschaftlichen und dann politischen Spaltung wurden im Schöneberger Rathaus alle Register gezogen, um sie aus der nunmehrigen besonderen politischen Einheit zu vertreiben. Ein der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR unterstehendes Verkehrsmittel in ihrem Machtbereich – da sahen die in hysterischem Antikommunismus befangenen Verantwortlichen im wahrsten Sinne des Wortes Rot. Das Eisenbahnnetz als eine Art „exterritoriales Gebiet des Kommunismus“ war in ihren Augen ein Zustand, der augenblicklich beseitigt werden musste. Das war allerdings zu jenem Zeitpunkt weder politisch noch verkehrsrechtlich und schon gar nicht verkehrstechnisch machbar, selbst bei einem Eingreifen der westlichen Besatzungsmächte. Die allerdings dachten zum Leidwesen des Senats mit keiner Silbe daran, es sich wegen des Bahnverkehrs mit der sowjetischen Besatzungsmacht (bis zum vertraglichen Erlöschen der Kontrollfunktionen 1955) und dann mit der DDR zu verderben, denn die lebensnotwendige Versorgung ihrer Truppenkontingente stand und fiel mit der Deutschen Reichsbahn. So wurde auf eine Art Zermürbungstaktik in Form eines nahezu täglichen Kleinkrieges gesetzt: Die dem Senat unterstehende Polizei maßte sich rechtswidrig Befugnisse und die Durchführung von Amtshandlungen auf dem Gelände der dem Ministerium für Verkehrswesen der DDR unterstehenden Deutschen Reichsbahn an, wogegen durch antikommunistisch verhetzte Einwohner von Berlin (West) verübte gefährliche Anschläge auf Züge und Bahnanlagen nicht unterbunden und bestraft, sondern wohlwollend geduldet wurden. Insbesondere verursachte die dem Senat unterstehende Polizei, nach ihrem damaligen Präsidenten Johannes Stumm (SPD) im Straßenjargon häufig „Stumm-Polizei“ genannt, bei rechtswidrigen Besetzungen von Bahnanlagen schwere Zusammenstöße sowohl mit Angehörigen der dem Ministerium des Innern der DDR zugehörigen Transportpolizei als auch Mitarbeitern der Deutschen Reichsbahn. Insgesamt war in Berlin (West) seit 1949 eine von antikommunistischer Hysterie geprägte Pogromstimmung geschürt worden, in deren Gefolge jegliche politische Betätigung gegen die in der BRD vorangetriebene Wiederaufrüstung samt Westintegration sowie der Kampf gegen Atombewaffnung mit allen polizeilichen und justiziellen Mitteln ohne Rücksicht auf die eigenen Gesetze unterdrückt wurde, genauso, wie es wenig später auch hinsichtlich aller Protestaktionen gegen Arbeitslosigkeit (Im Januar 1953 kamen auf 751.569 Beschäftigte sage und schreibe 258.551 Arbeitslose!), Preistreiberei und Wohnungsnot in Berlin (West) geschah. In diesem nicht anders denn als eine Art Staatsterrorismus zu kennzeichnenden Klima war es kein Wunder, dass der bevorstehende 7. November 1951 im Schöneberger Rathaus die Alarmglocken schrillen ließ. Für die Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn in ihren Diensträumen selbstverständliche Feiern zum 34. Jahrestag der Oktoberrevolution waren auf jeden Fall zu verhindern, koste es, was es wolle, und gleichgültig, ob rechtswidrig oder nicht. Dass mit der dieserhalb befohlenen polizeilichen Brutalität schließlich und endlich sein Leben ausgelöscht werden würde, ahnte der damals 55 Jahre alte Leiter der Reichsbahn-Dienststelle Bahnbetriebs-Wagenwerk (Bww) Potsdamer Güterbahnhof, Ernst Kamieth, freilich nicht, als er an diesem Tage seinen planmäßigen Dienst antrat. Er ahnte auch nicht, dass eine Einheit der Stumm-Polizei alsbald die Dienststelle stürmen würde, angeblich, um diese nach „kommunistischem Propagandamaterial“, das sie allein schon wegen ihrer fehlenden Zuständigkeit gar nichts anging, zu durchsuchen. Dass mit dieser rechtswidrigen Aktion die vorgesehene Feier verhindert, zumindest aber gestört werden sollte, ergibt sich von selbst. Wie dem Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“ Nummer 44/1952 nach großzügigem Überlesen des auch dieser sich so gern seriös gebenden Zeitschrift eigenen antikommunistischen, von Hass und Häme geprägten Vokabulars zu entnehmen ist, drang der Vorsteher des Reviers 103, Hermann Zunker, mit einer Abteilung Bereitschaftspolizei in den Kulturraum (Der „SPIEGEL“-Text entbehrt hier nicht der herabwürdigenden Gänsefüßchen.) der Dienststelle ein, um diese nach „kommunistischem Propagandamaterial“ zu durchsuchen. Der Inspektor der Stumm-Polizei tat dies keineswegs aus eigener Machtvollkommenheit, sondern befehlsgemäß – ein Zeichen mehr dafür, dass diese und andere Aktionen auf höchster „Frontstadt“-Ebene mit der bekannten „deutschen Gründlichkeit“ geplant worden waren. Als der nichtsahnende Dienststellenleiter den Kulturraum betrat und angesichts der da so unerwartet und emsig wühlenden Polizisten völlig überrascht war, benahm sich deren Anführer ganz so, als sei er und nicht Ernst Kamieth für das Bww Potsdamer Güterbahnhof zuständig, indem er ihn anherrschte: „Was wollen Sie denn hier?!“ Der „SPIEGEL“-Text freilich verharmloste das an Vandalismus grenzende polizeiliche Verhalten wider jede selbst behauptete Seriosität als „Säuberung“ des Raumes „von bedrucktem Papier“. Polizei-Inspektor Zunker seinerseits zeigte sofort, wer nun der Herr im Hause war, indem er den ihm empört „Erlauben Sie, ich bin hier der Dienststellenleiter.“ antwortenden Ernst Kamieth mittels kraftvollem, richtiger ausgedrückt brutalem Schlag ins Gesicht die Machtverhältnisse „klarmachte“. Laut „westberliner info“ Nummer 4/88 war er von Zunker bewusstlos geschlagen worden, wogegen „DER SPIEGEL“ behauptete, Ernst Kamieth habe den Raum ganz verstört und mit den Worten „Warum schlagen die mich bloß?“ verlassen und sei erst während der anschließenden Feierstunde bewusstlos zusammengebrochen. Tatsache ist jedenfalls, dass er noch auf der Fahrt ins Krankenhaus verstarb und dass sein Tod in ursächlichem Zusammenhang mit Zunkers Gewalttat stand, wie der angesehene und erfahrene Gerichtsmediziner Prof. Dr. Anders (40.000 Sektionen) nach der in der Charité in der Hauptstadt der DDR durchgeführten Autopsie feststellte: „Die Auslösung einer Hirnblutung bei Schlagaderverkalkung und Hochdruck durch einen erheblichen Schlag gegen den Kopf ist durchaus als möglich anzusehen. Die Annahme eines Zusammenhanges zwischen Schlag und folgender Blutung ist nur dann gerechtfertigt, wenn die ersten Erscheinungen einer Schädigung des Gehirns sofort auftreten, jedenfalls nicht später als zwei Stunden. Die Zeugenaussagen erweisen eindeutig, daß die ersten Erscheinungen sofort auftraten. Es bestehen daher keine Bedenken, den Schlag und die mit dem Auftritt verbundene Erregung als ursächlich für die Hirnblutung und damit für den Tod anzusehen.“ Selbst die von ihm getroffene Einschränkung, es könnte wahrscheinlicher sein, „daß der Schlag Kamieth in einen Erregungszustand brachte, der die wichtigen Gefäße auf Grund der Blutdruckerhöhung zur Ruptur gebracht“ haben müsse, bedeutete keinerlei Entlastung des gewalttätigen Inspektors Hermann Zunker, denn sein Schlag war auch in diesem Falle der Auslöser für den tragischen Tod. Alle Bemühungen der Gegenseite, das Gutachten zu widerlegen, scheiterten - „Es ist absurd, an der Glaubwürdigkeit des Professors Anders den leisesten Zweifel zu hegen.“ sagte der in Berlin (West) tätige Gutachter Dr. Weimann, der mit bislang 25.000 Sektionen ebenfalls ein hohes Maß an Erfahrung besaß und allen politischen Vorgaben zum Trotz als Wissenschaftler urteilte. Diesen Beschreibungen nach zu urteilen kann es sich um ein Aneurysma verum gehandelt haben, eine bei Verkalkung und Bluthochdruck auftretende sackartige und sehr dünnwandige Erweiterung von Blutgefäßen. Reißt diese infolge plötzlicher starker Erregung oder mechanischer Einwirkung, etwa durch einen oder mehrere Schläge, kommt es zu, unter Umständen erst nach einigen Stunden eintretenden, potentiell tödlich wirkenden inneren Blutungen.


Dass der, noch dazu durch einen Angehörigen der Polizei von Berlin (West) verursachte, gewaltsame Tod eines Mitarbeiters der Deutschen Reichsbahn in der aufgeheizten Atmosphäre jener Zeit sofort zum Politikum werden musste, war unter diesen Bedingungen unvermeidlich. Dabei waren die Auseinandersetzungen auf beiden Seiten bis zum Beginn der 1970er Jahre weniger von Sachlichkeit, dafür aber um so mehr von rüdesten Verbalattacken geprägt. Von einer „Kultur des Streits“ konnte keinerlei Rede sein, was auch die Aus- und Bewertung der vorhandenen Pressemeldungen zu dieser Untat nicht gerade leicht macht: In der DDR schlug die Empörung hohe Wellen, es hagelte Proteste, Arbeitskollektive gaben Verpflichtungen ab, nun erst recht hohe Leistungen zur Stärkung der Republik zu erbringen, in den Zeitungen erschienen geharnischte Beiträge, in denen die in der „Frontstadt“ herrschende antikommunistische Pogromstimmung gegeißelt wurde. So rief die IG Eisenbahn (Vorläufer der IG Transport und Nachrichtenwesen) im FDGB dazu auf, „gegen den ständig zunehmenden Terror der Stummpolizei die Aktionseinheit der Eisenbahner zu festigen.“ Die Belegschaft des Bahnhofs Berlin-Schöneweide verpflichtete sich, „als Antwort auf die Ermordung Kamieths unseren Transportplan vorfristig zu erfüllen.“ Eine im Reichsbahndirektionsbezirk Dresden zugunsten der Witwe des Getöteten organisierte Sammlung erbrachte einen Betrag von 1.152,76 D-Mark der Deutschen Notenbank, die dortige IG Eisenbahn rief ein „Ernst-Kamieth-Aufgebot“ ins Leben und eine Reihe von Dienststellen gab Verpflichtungen zu Höchstleistungen ab. In einem Beileidsschreiben tschechoslowakischer Eisenbahner wurde die strenge Bestrafung des Täters gefordert. Arbeitskollektiven wurde der Ehrenname „Ernst Kamieth“ verliehen und in verschiedenen Orten, so in Halle, Straßen nach ihm benannt. Natürlich kam nicht alles von selbst, doch es braucht keineswegs verschwiegen zu werden, dass Partei- und Staatsführung ebenso wie Presse und Rundfunk sehr aktiv und mit Recht empört waren. Euphorische Schlagzeilen wie „Held und Patriot im Friedenskampf“ waren gewiss übertrieben, doch schließlich war Ernst Kamieth Opfer einer Gewalttat geworden, die Ergebnis einer so rechtswidrigen wie von den in Berlin (West) politisch Verantwortlichen befohlenen Polizeiaktion als Bestandteil der von ihnen geschürten antikommunistischen Pogromstimmung war. Dementsprechend wurde dort versucht, die Untat nicht nur herunterzuspielen, sondern den Totschläger in Uniform auch noch reinzuwaschen und zu beschützen: Zunächst wurde ganz offiziell gelogen und behauptet, es habe am 7. November 1951 gar keinen Überfall auf die Reichsbahn-Dienststelle gegeben. So schrieb die von der US-amerikanischen Besatzungsmacht herausgegebene „Neue Zeitung“: „Die Westberliner Polizei hatte dazu schon am Donnerstag erklärt, am Jahrestag der Oktoberrevolution sei kein Polizeibeamter auf dem Potsdamer Güterbahnhof gewesen.“ Die nach der Spaltung der Berliner Gewerkschaftsorganisation in der „Frontstadt“ tätige und dem bundesdeutschen DGB angehörende „Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands“ (GdED) unterstützte in ihrer antikommunistischen Verblendung ganz offen diese Linie, indem sie behauptete: „Bei einer Feierstunde zum Jahrestag der bolschewistischen Oktoberrevolution ist es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der SED angehörenden Eisenbahnern und Kamieth gekommen. ... Nach erregten Debatten ist Kamieth zusammengebrochen. Im Krankenhaus hat man einen Gehirnschlag festgestellt, an dem er verstarb. Kamieth ist bereits seit längerer Zeit wegen zu hohen Blutdrucks in ärztlicher Behandlung.“ Hier wurde der polizeiliche Überfall in eine Auseinandersetzung zwischen den Angehörigen der Reichsbahn-Dienststelle umgefälscht und ihr Leiter in einen politischen Gegensatz zur SED gestellt, wobei angesichts der recht dürftigen Quellenlage erst nach umfangreichen Nachforschungen festgestellt werden kann, ob er selbst Mitglied der Partei war oder nicht. Ein großer Teil der in Berlin (West) wohnenden und arbeitenden Eisenbahner gehörte ihr jedenfalls an und der Getötete war immerhin Leiter einer Dienststelle gewesen. Gleichwohl wurde in der von der Deutschen Reichsbahn herausgegebenen Eisenbahner-Zeitung „Fahrt frei“ stets vom „Kollegen Ernst Kamieth“ gesprochen, während er in „trend“, Untertitel „onlinezeitung“, 02/09 als Kommunist bezeichnet wurde, was in aller Regel eine Mitgliedschaft in der SED bedeutete.


Die Lüge vom angeblich überhaupt nicht stattgefundenen Überfall der Stumm-Polizei jedenfalls war nicht lange zu halten und so versuchte es der US-amerikanische Stadtkommandant General Lemuel Mathewson zunächst mit der halben Lüge: „Die Westberliner Polizei hat Stunden vor dem Tod Kamieths auf dem Bahnhof nach illegalem Propagandamaterial gesucht. Kamieth ist von den Polizeibeamten zur Seite gestoßen worden, als er das Kommando in einem Raum einzusperren versucht hat. Die amerikanischen Behörden haben erfahren, daß Kamieth noch stundenlang danach seine Arbeit fortgesetzt und vier Stunden später an einer Versammlung im Potsdamer Bahnhof teilgenommen hat, die nicht von Westberliner Polizei gestört worden ist. Während dieser Zusammenkunft ist der Dienststellenleiter erkrankt und in ein Krankenhaus gebracht worden, wo er gestorben ist.“ Zwar wurde hier weiterhin versucht, dem Opfer die Schuld in die Schuhe zu schieben, doch immerhin war die rechtswidrige Polizeiaktion nicht mehr abzustreiten gewesen. Selbstverständlich wurden die in der DDR erhobenen und berechtigten Forderungen nach Bestrafung des Totschlägers in Uniform mit dem unsäglichen Begriff „übliche Propagandaphrasen“ abgetan.


Doch allen Lügen und Abwiegelungsversuchen zum Trotz kam die Justiz in Berlin (West) nicht mehr um die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens herum, zumal auch der amtierende Leiter der Sowjetischen Kontrollkommission, A. S. Sussin, vom Stadtkommandanten im US-amerikanischen Sektor gefordert hatte, für die strenge Bestrafung aller Beteiligten zu sorgen. Am 30. November sah sich der zuständige Oberstaatsanwalt genötigt, Inspektor Zunker verhaften zu lassen. Vorerst kam dieser jedoch noch einmal ungeschoren davon, zumal er einen ihm wohlgesonnenen Haftrichter fand, der ihn flugs auf freien Fuß setzen ließ. Für die auf unversöhnlichen Konfrontationskurs eingeschworene „Frontstadt“-Politik durfte es keinen stramm antikommunistischen polizeilichen Totschläger Hermann Zunker, sondern ausschließlich ein „Opfer kommunistischer Propaganda“ Hermann Zunker geben. Diese Strategie ging jedoch nicht auf und so sah sich die Generalstaatsanwaltschaft schließlich gezwungen, einen Antrag auf richterliche Untersuchung zu stellen, worauf Zunker am 5. Dezember beurlaubt und vom Dienst suspendiert wurde. Im Ergebnis der Ermittlungen, vor allem aber der öffentlichkeitswirksamen Tätigkeit des von Dr. Anneliese Groscurth, der Witwe des von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfers Georg Groscurth, geleiteten und ihren Namen tragenden Ausschusses, war es nicht mehr zu verhindern, dass er am 10. Januar 1952 in Untersuchungshaft genommen wurde. Unterstellt man den amtlichen Ermittlern einmal unvoreingenommenes und sachliches Vorgehen, was in der von antikommunistischer Hysterie geprägten Atmosphäre selten genug, gelegentlich aber durchaus vorkam, dann wurde ihre Tätigkeit zumindest massiv behindert, um das Verfahren gegen Hermann Zunker schließlich und endlich im Sande verlaufen zu lassen: Die Ermittlungen wurden nicht wie üblich der Kriminalpolizei, sondern der selbständigen Abteilung V übertragen. Deren Leiter Sangmeister betraute seinen Kriminalassistenten Scheschlock mit dieser Aufgabe. Was dieser herausbekam, war nicht weiter verwunderlich, sondern bestätigte die in Berlin (West) herrschende antikommunistische Hysterie, nach deren Logik nicht wahr sein konnte, was nicht wahr sein durfte: So waren die am Überfall vom 7. November beteiligt gewesenen 15 Polizisten durch die Inspektion Kreuzberg und auch von Hermann Zunker persönlich umgehend unter Druck, und zwar sehr starken Druck gesetzt worden, um sie zu Falschaussagen zugunsten ihres Einsatzleiters zu veranlassen. Ebenso mussten sie zugeben, dass sie entweder selbst gesehen hatten, wie Zunker ohne Anlass und völlig unberechtigt auf Ernst Kamieth einschlug, oder für die mit dem Herumwühlen in den ausgelegten Materialien gerade beschäftigt Gewesenen zumindest ein vom Schlagen herrührendes „klatschendes Geräusch, von offener Hand hervorgerufen“ zu hören gewesen war. Das mühsam zusammengebastelte Lügengebäude brach dank des „Groscurth-Ausschusses zum Schutz der demokratischen Rechte und zur Verteidigung von Patrioten in Westberlin“ mit der Herausgabe der Flugschrift „Zunker ist der Mörder“ rasch zusammen, zumal sich auch Kriminalassistent Scheschlock mit den Worten, er habe sich in der Nazi-Zeit bemüht, ein anständiger Mensch zu bleiben und gedenke dies auch weiterhin zu tun, dem Ansinnen seines Vorgesetzten Sangmeister widersetzte, das Zunker schwer belastende Ermittlungsprotokoll „zu ändern“, sprich zu fälschen.


Doch wer glaubte, nun werde auch in Berlin (West) Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen, sollte sich sehr rasch geirrt haben: Zwar war eine Beschwerde gegen den Haftbefehl zunächst vom Landgericht abgelehnt worden, doch eine zweite ließ dem Totschläger in Uniform ganz schnell hilfreich unter die Arme greifen, denn über die hatte der Strafsenat beim Kammergericht zu entscheiden. Dessen Vorsitzender, Senatspräsident Levi, war Mitglied des rechtspolitischen Ausschusses der SPD und deren Antikommunismus und DDR-Feindschaft gestalteten sich bekanntlich oftmals noch schärfer, hysterischer und militanter als bei der CDU. So stellte sich die sozialdemokratische Fraktion im Abgeordnetenhaus lautstark vor den nicht zum ersten Male wegen Körperverletzung im Amt in heftige Kritik geratenen Polizei-Inspektor und verlangte am 7. März 1952 per Dringlichkeitsantrag die sofortige Haftentlassung. Zahlreiche und durchaus sehr prominente Funktionäre der SPD, so der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Willy Kressmann, waren sich nicht zu schade, sich öffentlich mit dem uniformierten Totschläger zu solidarisieren. Welche Beweggründe ausgerechnet er hatte, lässt sich kaum nachvollziehen, zumal er laut Internet-Lexikon WIKIPEDIA wegen seines Eintretens für Gespräche zwischen dem Senat von Berlin (West) und dem Magistrat von Berlin - Hauptstadt der DDR sowie zwischen den Regierungen von BRD und DDR in seiner Partei nicht wohlgelitten war und sich überdies 1962 ein Parteiordnungsverfahren und die Entfernung aus dem Amt einhandeln sollte, weil er auf die Mitverantwortung des Senats für die Grenzschließung vom 13. August 1961 hingewiesen hatte, worauf er 1963 die SPD voller Verbitterung verließ. Wenn trotz allem die Weiterführung des Verfahrens auch nicht mehr zu verhindern war, so wurde Hermann Zunker immerhin am 21. März 1952 aus der Haft entlassen, da „weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr“ bestünden. Aus diesem Anlass ließ der Befehlshaber der Schutzpolizei, Oberst der Wehrmacht a.D. Erich Duensing (1905 – 1982, SPD), folgenden „Tagesbefehl“ veröffentlichen: „Die gegen den Inspektor der Schutzpolizei Zunker verhängte Haft wurde am 21. März 1952 aufgehoben. Es kann mit besonderer Genugtuung verzeichnet werden, daß Vertreter der Parteien sich um die Freilassung bemühten. Wir alle wollen dankbar zur Kenntnis nehmen, daß die im Kampf um die Erhaltung der Demokratie in vorderster Reihe stehenden Angehörigen der Schutzpolizei stets Verständnis und Wohlwollen nicht nur beim Parlament, sondern auch bei der Justiz finden werden. Dies wollen wir bei allen zukünftigen Einsätzen nicht vergessen!“ Diese Worte muss man erst einmal verdauen – rechtswidrige Besetzung und Durchsuchung einer Dienststelle der Deutschen Reichsbahn samt Tötung eines Menschen wurden als „Kampf um die Erhaltung der Demokratie“ hingestellt! Ja, auch ein Erich Duensing war sich in der gnadenlosen Bekämpfung dessen, was in der „billigsten Atombombe“ unter Kommunismus verstanden wurde, treu geblieben, hatte er sich doch seine Sporen dazu nicht nur als einstiger Offizier der preußischen Landespolizei, sondern auch und vor allem als Truppführer und Generalstabsoffizier der Wehrmacht des „Dritten Reiches“ bei den mit aller Brutalität geführten Aktionen gegen die Partisanenbewegung in der besetzten Ukrainischen SSR „verdient“ gehabt. Auf das engste durch den gemeinsamen militanten Antikommunismus mit ihm verbunden, erkor ihn der ehemalige Nazi-Verfolgte und nunmehrige Regierende Bürgermeister Willy Brandt 1962 gar zum Polizeipräsidenten von Berlin (West), als der er die Studentenproteste von 1967 mit aller Härte niederzuschlagen versuchte, was ihn dann noch im gleichen Jahr das Amt kosten sollte.


Im übrigen ging die Führung der SPD von Berlin (West) noch über ihr Parteimitglied Erich Duensing hinaus, als sie den Erlass eines Gesetzes verlangte, mit dem Angehörigen der Polizei im Kampf gegen alles politisch Linke geradezu ein Freibrief für Brutalität und Ungesetzlichkeit ausgestellt werden sollte. Für Dr. Friedrich Karl Kaul war das Anlass, an den Befehl des SA-Oberführers Schwarz zu erinnern, mit dem dieser 1933 die an der berüchtigten „Köpenicker Blutwoche“ beteiligt gewesenen Mörder jeglicher polizeilicher und richterlicher Verfolgung entzogen hatte: „Ich werde nicht dulden, daß die Kämpfe gegen den Marxismus dadurch gehemmt werden, daß sich die Polizeiorgane unberechtigterweise einschalten!“ Zudem warnte der angesehene Strafverteidiger vor Illusionen darüber, dass die Justiz von Berlin (West) dem Opfer Ernst Kamieth nun volle und uneingeschränkte Gerechtigkeit widerfahren ließe, als er schrieb, die erste Phase im Kampf um diese habe „mit einem Teilsieg der rechtlich Denkenden geendet.“ Vom Urteil des Schwurgerichts hänge es ab, ob es „diesen Sieg des Rechts zu einem vollständigen“ machen werde. Er sollte recht behalten, denn erst mehr als zwei Jahre nach der Untat wurde Inspektor Zunker angeklagt. Bis dahin blieb er auf freiem Fuß und konnte ungestört seinen Dienstobliegenheiten als Leiter des Reviers 103 nachgehen, auch wenn manchem seiner Kollegen nicht wohl dabei war, und selbstverständlich erfreute er sich weiterhin der wohlwollenden Behütung durch die im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien, allen voran wie immer und unrühmlicherweise die SPD. Das Gericht handelte wie nicht anders zu erwarten gewesen nach jenem unheilvollen Grundsatz, wonach bei einer gegen Links und erst recht gegen die DDR begangenen Straftat das Motiv „Verständnis“ erfordere und natürlich auch finde. Als „strafmildernd“ wurde angesehen, dass der Angeklagte „ein Polizeirevier an der Sektorengrenze“ leite. Den „Kommunismus“ also gewissermaßen täglich vor Augen, das musste sich gemäß diesem Argument wohl auf die Psyche negativ auswirken, demzufolge war der einen „solch schweren Dienst Leistende“ offenbar eher zu bedauern und statt auf die Anklagebank in ein Sanatorium zu schicken. So erhielt Hermann Zunker für die während der Verhandlung nachgewiesenen weiteren fünf Fälle von Körperverletzung im Amt und die Tötung Ernst Kamieths am 10. Mai 1954 die so milde wie lächerliche Gesamtstrafe von 22 Monaten Gefängnis. Den Verfechtern eines auch weiterhin unversöhnlichen Konfrontationskurses war diese geradezu juristische Bescheidenheit und Mildtätigkeit immer noch zu hart und so klagte der „Telegraf“ als eines ihrer Sprachrohre, das Urteil sei geeignet, die Moral „der im vordersten Einsatz stehenden Kämpfer negativ zu beeinflussen.“


Bleibt noch nachzutragen, dass die Trauerfeier für den Leiter der Dienststelle Bww Potsdamer Güterbahnhof am 13. November 1951 stattfand und dass diese nur in der Hauptstadt der DDR möglich war. Im Kultursaal der Reichsbahndirektion Berlin widmete ihm deren Präsident Max Barth einen Nachruf, die Trauerreden hielten der Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn, Dr. Erwin Kramer, und der erste stellvertretende Vorsitzende der IG Eisenbahn, Otto Seeger. Der zur Grenze am Potsdamer Platz führende Trauerzug umfasste 30.000 Menschen, vor allem Eisenbahner, die in Uniform ihrem getöteten Kollegen das letzte Geleit gaben. Ab Potsdamer Platz hatte der Senat von Berlin (West) ein großes Polizeiaufgebot aufmarschieren lassen, natürlich keineswegs deshalb, um dem Opfer von Inspektor Zunker die letzte Ehre zu erweisen, sondern um die Trauernden einzuschüchtern. Dennoch wurde der Sarg auch in Berlin (West) von nahezu 10.000 Menschen bis zum im US-amerikanischen Sektor gelegenen Matthäi-Friedhof begleitet. Allerdings sollte der Tote vorerst keine Ruhe im Grab finden: In einer sprichwörtlichen Nacht-und-Nebel-Aktion öffneten Polizisten bei grellem Scheinwerferlicht das Grab und exhumierten die sterblichen Überreste – natürlich ohne Wissen und Genehmigung der Angehörigen. Als Frau Kamieth am Mittwochmorgen in Begleitung von Kollegen ihres getöteten Mannes das Grab aufsuchte, war es zu ihrem großen Erstaunen und Entsetzen leer. Ziel und Zweck jenes geheimnisvollen nächtlichen Unternehmens war es gewesen, mittels erneuter Autopsie das Gutachten von Prof. Anders zu widerlegen, was freilich nicht gelingen sollte.


Quellen 


1.      „Fahrt frei“, Untertitel „Die Wochenzeitung der deutschen Eisenbahner“, Ausgabe 46/1951 und weitere, nicht nummerierte auszugsweise Nachdrucke des 1. bis 5. Jahrgangs, Ritzau KG - Verlag Zeit und Eisenbahn 1994

2.      Internet-Lexikon WIKIPEDIA

3.      „SPIEGEL online“: „DER SPIEGEL“ Nummer 44/1952

4.      „trend“, Untertitel „onlinezeitung“, 02/09

5.      „westberliner info“ Nummer 4/8


Hans-Joachim Weise