Kalter Krieg in Berlin (West): Vor 50 Jahren – vom „UGO-Putsch“ zum S-Bahn-Boykott

So manches wissenswerte findet man nicht in den Geschichtsbüchern. Auch „wikipedia“ ist der „UGO-Putsch“, der bürgerkriegsähnliche Zustände annahm, nicht bekannt. Zeit, Licht ins Dunkle zu bringen.

Selbst wenn man lange in der Geschichte des 20. Jahrhunderts sucht, so wird man doch kein anderes Verkehrsmittel finden, das derart von einer als „Kalter Krieg“ in die Geschichte eingegangenen friedensgefährdenden Politik, die seitens der kapitalistischen Hauptmächte das „Zurückrollen“ („roll back“), dessen, was dort unter Kommunismus verstanden wurde, im Allgemeinen und seitens der BRD und der Verantwortlichen der „Frontstadt“ Berlin (West) das „Verschwinden“ der DDR im Besonderen zum Ziel gehabt hatte, in Mitleidenschaft gezogen worden ist wie die Berliner S-Bahn: Als der Betrieb nach Beseitigung der schlimmsten Kriegsschäden ab 6. Juni 1945 schrittweise wieder in Gang kam, ahnte freilich noch niemand, dass der mit Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht an die Deutsche Reichsbahn übertragene S-Bahn-Betrieb in „Groß-Berlin“, wie das Gebiet der Großstadt gemäß Gesetz vom 27. April 1920 genannt wurde, alsbald zu einem schwerwiegenden Politikum werden würde. Dabei war diese Maßnahme nicht nur eine Selbstverständlichkeit, zumal damit die bereits seit 1924 bestehende Lage bestätigt wurde, sie war auch von den ab Juli dort Besatzungsrechte ausübenden alliierten Siegermächten USA, Großbritannien und Frankreich nie in Frage gestellt worden. Mit der von eben diesen Siegermächten ab 1948 durchgesetzten wirtschaftlichen und schließlich auch politischen Spaltung der Stadt aber entstand eine grundsätzlich andere Lage, denn dem in den westlichen Sektoren installierten separaten Magistrat (ab Oktober 1950 Senat) im Schöneberger Rathaus war der Betrieb durch die Deutsche Reichsbahn ein Dorn im Auge. Ein der Sowjetischen Besatzungszone unterstehendes Verkehrsmittel in ihrem Machtbereich – da sahen die in hysterischem Antikommunismus befangenen Verantwortlichen im wahrsten Sinne des Wortes Rot. Das S-Bahn-Netz als eine Art „exterritoriales Gebiet des Kommunismus“ war in ihren Augen ein Zustand, der augenblicklich beseitigt werden musste. Das war allerdings zu jenem Zeitpunkt weder politisch noch verkehrsrechtlich und schon gar nicht verkehrstechnisch machbar, selbst bei einem Eingreifen der westlichen Besatzungsmächte. So wurde zunächst dafür gesorgt, dass sich am 23. Mai 1948 vom in ganz Berlin gegründeten Freien Deutschen Gewerkschaftsbund unter Richard Schröter (1892 – 1977, SPD) in den westlichen Sektoren eine selbstverständlich stramm antikommunistisch ausgerichtete „Unabhängige Gewerkschaftsopposition“ (UGO) abspaltete und der FDGB nicht mehr als Tarifpartner anerkannt wurde. Diese UGO nutzte die durch die rechtswidrige Einführung der Separatwährung „Deutsche Mark der Deutschen Bundesbank“ verschuldete und mittels ausschließlich politisch motiviertem Wechselkurs von 1:4 bis 1:5 zusätzlich verschärfte schwierige finanzielle Lage der in Berlin (West) wohnenden Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn schamlos aus und inszenierte für den 21. Mai 1949 einen von schweren Auseinandersetzungen geprägten Streik, der den Verkehr nicht nur lahmlegte, sondern auf dem Bahnhof Zoologischer Garten auch ein Todesopfer forderte und letztlich bürgerkriegsähnliche Züge annahm. Der Reichsbahndirektion Berlin entstand ein Schaden in Höhe von 50,6 Millionen Deutscher Mark der Deutschen Notenbank. Dass diese auch als „UGO-Putsch“ bekannt gewordenen Ereignisse sowohl durch vom Senat eiligst vorgenommene Zahlungen von Arbeitslosengeld und den Einsatz der ihm unterstehenden Polizei, für die Alarmstufe I galt, als auch durch von SPD und UGO organisierte Stör- und Sabotagetrupps unterstützt wurde, machte die damit verfolgten politischen Ziele nur allzu deutlich: „Der Zustand, daß inmitten des Hoheitsgebietes der drei westlichen Militärmächte und des verfassungsmäßigen Magistrats ein so lebenswichtiger Bestandteil des öffentlichen Lebens wie der Eisenbahnbetrieb einer anderen Hoheitsgewalt sogar mit weitgehend angemaßten Polizeibefugnissen unterworfen ist, erscheint auf die Dauer unerträglich.“, schäumte der Spalter-Magistrat noch im Oktober 1949, wobei jene Anmaßung in Wahrheit für sich und seine Polizei galt. Die westlichen Besatzungsmächte zwangen Magistrat und UGO erst dann zum Abbruch des Streiks, als die Versorgung ihrer eigenen Truppen kurz vor dem Zusammenbruch stand. Dabei bewies die dann von ihnen durchgesetzte Annahme der zwischen FDGB und Deutscher Reichsbahn schon in der ersten Streikwoche getroffenen Vereinbarung zur Entlohnung der in Berlin (West) ansässigen und arbeitenden Eisenbahner nochmals mit aller Deutlichkeit, dass Magistrat und UGO die durch ihre „Frontstadt“-Politik absichtlich verschuldete schwierige Lebenslage nur als Vorwand für ihre politischen Ziele benutzt hatten. Nun wurde versucht, die Deutsche Reichsbahn auf andere Weise aus Berlin (West) zu vertreiben: Bei einer Einbeziehung seines Machtbereiches in den Gründungsprozess der BRD als westdeutschem Separatstaat, so spekulierte der von Ernst Reuter (SPD) geleitete Magistrat, in Form eines (damals) zwölften „Bundeslandes Berlin“ (Baden-Württemberg entstand erst 1952 aus den drei Ländern Württemberg-Baden, Baden und Südwürttemberg-Hohenzollern, das durch Frankreich abgetrennte Saarland trat 1957 der BRD bei.), müssten Bahnanlagen und -betrieb zwangsläufig an die künftige Deutsche Bundesbahn abgegeben werden. Während die USA einer solchen, die Rechte der UdSSR natürlich verletzenden „Lösung“ aufgeschlossen gegenüberstanden, machten Großbritannien starke Vorbehalte und Frankreich offene Ablehnung deutlich. Der Hauptwiderstand kam jedoch – man lese und staune – vom späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer! Mit List und Geschick freilich vermied es der „alte Fuchs“, wie ihn der seine Schliche und Ränke wohl am besten durchschaut habende Heinz Renner, der unbestritten fähigste und profilierteste Parlamentarier der KPD, so treffend genannt hatte, diese Ablehnung öffentlich zu machen. Vielmehr spielten sich Adenauer und die französische Regierung dabei gegenseitig die Bälle zu, um diese Einbeziehung zu durchkreuzen. Nicht zu Unrecht fürchtete er nämlich, dass die SPD, in Berlin (West) immerhin Regierungspartei, in diesem Falle seiner CDU die Vormachtstellung streitig machen könnte. Zudem hätten sich dann auch hier der am 16. März 1951 gegründete Bundesgrenzschutz der BRD und die Deutsche Grenzpolizei der DDR gegenübergestanden; die Grenze wäre folglich nicht mehr in dem Maße offen gewesen, wie das zum Ausplündern des zweiten deutschen Staates für nötig erachtet wurde. Die Einbeziehung von Berlin (West) in die staatliche Organisation der BRD wurde denn auch durch die drei Stadtkommandanten Brigadegeneral Frank L. Howley (USA), Brigadegeneral J. Ganeval (Frankreich) und Generalmajor G. K. Bournes (Großbritannien) mit Schreiben vom 14. Mai 1949 ausdrücklich untersagt.

Mit der für die Spalter in Bonn und Berlin (West) keineswegs unerwartet erfolgten Gründung der DDR als Antwort auf die Ausrufung des westdeutschen Separatstaates verloren die Verantwortlichen im Schöneberger Rathaus vollends die Beherrschung. Jetzt galt es erst recht, die S-Bahn in ihrem Machtbereich zur Zielscheibe ihrer wütenden Angriffe zu machen. Waren sie auch noch stolz darauf, statt der Entwicklung sachlicher und vernünftiger Beziehungen zur DDR als dem natürlichen Umland von Berlin (West) durch eine mit Begriffen wie „Frontstadt“, „Billigste Atombombe“ (Regierender Bürgermeister Ernst Reuter, SPD) „Pfahl im Fleische der DDR“ und „Einfallstor in die Zone“ gekennzeichnete Politik auf unversöhnliche Feindschaft zu setzen, so war ihnen die von nun an dem Ministerium für Verkehrswesen unterstehende S-Bahn ein „unerträglicher kommunistischer Stachel“, den es mit allen Mitteln zu beseitigen galt: Die dem Senat unterstehende Polizei maßte sich rechtswidrig Befugnisse und die Durchführung von Amtshandlungen auf dem Gelände der dem Ministerium für Verkehrswesen der DDR unterstehenden Deutschen Reichsbahn an, wogegen durch antikommunistisch verhetzte Einwohner von Berlin (West) verübte gefährliche Anschläge auf Züge und Bahnanlagen nicht unterbunden und bestraft, sondern wohlwollend geduldet wurden. Insbesondere in den 1950er Jahren verursachte die dem Senat von Berlin (West) unterstehende Polizei, nach ihrem damaligen Präsidenten Johannes Stumm (SPD) häufig „Stumm-Polizei“ genannt, bei rechtswidrigen Besetzungen von Bahnanlagen schwere Zusammenstöße sowohl mit Angehörigen der dem Ministerium des Innern der DDR zugehörigen Transportpolizei als auch Mitarbeitern der Deutschen Reichsbahn. So hatte der Polizeiinspektor Hermann Zunker bei einer zum 33. Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November 1951 inszenierten rechtswidrigen Durchsuchungsaktion im Potsdamer Güterbahnhof den Dienststellenleiter Ernst Kamieth so schwer verletzt, dass dieser am gleichen Abend verstarb. Der Totschläger in Uniform wurde erst nach massiven Protesten am 11. Januar 1952 verhaftet und am 10. Mai 1954 trotz nachgewiesener weiterer fünf Fälle von Körperverletzung im Amt unter Zugrundelegung „mildernder Umstände“ zu lediglich 22 Monaten Haft verurteilt. Dabei hatten sich ausgerechnet Politiker der SPD öffentlich mit ihm solidarisiert und dafür gesorgt, dass er bis zur Verurteilung auf freiem Fuß bleiben konnte. Hasserfüllte und militante antikommunistische Politik gipfelten gerade auf dem Gelände der Deutschen Reichsbahn in fast alltäglichen Fehden zwischen Uniformträgern beider Seiten, denen die die Oberhoheit in der besonderen politischen Einheit innehabenden westlichen Besatzungsmächte im wohlverstandenen eigenen Interesse als Initiatoren und Nutznießer des „Kalten Krieges“ nicht nur tatenlos zusahen, sondern diese Entwicklung durch die 1949 ohne Zustimmung der sowjetischen Seite erfolgte, somit einseitige und daher rechtswidrige Übertragung der Bewachungsaufgaben auf in Berlin (West) gelegenen Bahnhöfen der Deutschen Reichsbahn an die dem Senat unterstehende Polizei nach Kräften förderten.

Hinsichtlich der Vorgeschichte jenes 13. August ist bedeutsam, was der nun jeder DDR-Freundlichkeit unverdächtige US-amerikanische Senator William Fulbright als Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des Senats am 30. Juli 1961 nicht ohne Grund in einem Fernsehinterview gesagt hatte: „Ich verstehe nicht, warum die Ostdeutschen nicht ihre Grenze schließen, denn ich glaube, daß sie ein Recht haben, sie zu schließen.“ Für den Senat von Berlin (West) jedenfalls war am 13. August jenseits aller wütenden Proteste höchstens der Zeitpunkt überraschend, denn wie ein internes Papier vom 18. Oktober 1960 nachweist, war man sich im Schöneberger Rathaus schon Monate zuvor der möglichen Auswirkungen der „Frontstadt“-Politik durchaus bewusst gewesen: „Der Bericht macht eindringlich darauf aufmerksam, daß im Falle östlicher Absperrmaßnahmen ein Ersatz für die Grenzgänger aus der Arbeitsmarktreserve in West-Berlin nicht mehr möglich sein würde, da selbst bei Eingliederung der sicher nicht immer für einen Austausch geeigneten bisherigen >Auspendler< ein ungedeckter Bedarf von weit mehr als 36.000 Arbeitskräften bliebe. Um diese Lücke auszufüllen, müßten – die Familie nur zu drei Personen im Durchschnitt gerechnet – etwa 110.000 Personen aus dem Bundesgebiet zuziehen.“ Dem Senat war folglich seit langem klar, dass sich die DDR die von Berlin (West) betriebene Ausplünderungs-, Stör- und Sabotagepolitik nicht ewig bieten lassen würde. Allein der ausschließlich politisch motivierte, weil nicht durch realen Kaufkraftunterschied begründete Wechselkurs von einer D-Mark der Deutschen Bundesbank zu vier bis fünf D-Mark der Deutschen Notenbank brachte zwar den Westberliner Wechselstubenbesitzern märchenhafte Gewinne, verursachte aber der DDR Schäden in Millionenhöhe. So betrug beispielsweise im Jahre 1950 der durchschnittliche Bruttolohn für Arbeiter und Angestellte in der BRD und in Berlin (West) 250 D-Mark der DBB. Beim zu Recht als „Schwindelkurs“ gebrandmarkten Umtauschverhältnis von 1:4 erhielten Einwohner von Berlin (West) sowie die in dieser besonderen politischen Einheit arbeitenden und deshalb als Grenzgänger bezeichneten DDR-Bürger in den Wechselstuben sage und schreibe 1.000 D-Mark der DNB. Angesichts der niedrigen Preise und Mieten in der DDR hatten diese Grenzgänger damit gegenüber ihren Mitbürgern nicht nur völlig ungerechtfertigte Vorteile, verfügten bei kaum größerer Arbeitsleistung über einen wesentlich höheren Lebensstandard, sorgten für einen hohen Abkauf und damit für zusätzliche Lücken im nach wie vor nicht ausreichenden Warenangebot und sie zahlten ihrem Staat auch keine Steuern. Die kassierte ja der Westberliner Fiskus. Ebenso profitierten Einwohner von Berlin (West) von diesem Schwindelkurs und der offenen Grenze in reichem Maße, denn Waren und Dienstleistungen kosteten sie in der Hauptstadt der DDR dann nur ein Viertel oder noch weniger dessen, was sie zu Hause hätten zahlen müssen. Insbesondere nach Abschaffung der Lebensmittelkarten 1958 nahm der Abkauf von Nahrungs- und Genussmitteln so stark zu, dass es angesichts der immer noch im Aufbau befindlichen und keineswegs reibungslos funktionierenden Wirtschaft oft genug zu Versorgungsproblemen kam, die natürlich den Unmut der Bevölkerung auslösten. Solchen Unmut als Vorstufe von massenhafter Unzufriedenheit, die sehr schnell schwerwiegende politische Auswirkungen erreichen konnte, nach Kräften zu schüren, galt dem Senat als wichtiger Bestandteil seiner hasserfülltem Konfrontationspolitik: Professionelle Banden erschwindelten sich in der DDR mittels gefälschter Papiere in Geschäften von HO und Konsum-Genossenschaften massenhaft Kreditverträge, kauften dann für ein Butterbrot von Anzahlung beispielsweise hochwertige feinmechanisch-optische und elektrische Geräte in großen Mengen auf und verschoben sie dank offener Grenze und zum Teil sogar in den Zügen der Deutschen Reichsbahn nach Berlin (West) und von dort in weitere kapitalistische Staaten. Sie machten dabei nicht nur ihren doppelten Schnitt durch Kreditbetrug und Schwindelkurs, denn der DDR gingen sowohl Waren für die eigene Bevölkerung als auch dringend benötigte Deviseneinnahmen verloren, wenn westeuropäische Importeure Lieferverträge kündigten, weil Konkurrenten mit Hilfe solcher gutorganisierter Schieberbanden die gleichen Fabrikate weit unter Marktpreis anboten. Die dafür notwendige umfangreiche Beschaffung von Personaldokumenten der DDR war „dank“ offener Grenze ein Kinderspiel – sie wurden in den vom Senat für ihrem Staat illegal den Rücken gekehrt habende DDR-Bürger eingerichteten und propagandistisch als „Flüchtlingslager“ bezeichneten Sammellagern wie dem in Marienfelde von professionellen Händler- und Fälscherbanden für um die 15 D-Mark der DBB liegende Preise aufgekauft und entsprechend „bearbeitet“. So zahlte sich die von Politik und Propaganda nach Kräften geförderte Abwerbung von Bürgerinnen und Bürgern der DDR, vor allem gut ausgebildeten Fachkräften, nicht nur für die bundesdeutsche und Westberliner Wirtschaft sowie für Politik und Propaganda, sondern auch für staatlicherseits wohlwollend geduldete oder gar geförderte kriminelle Banden aus. Hinzu kam die Rolle von Berlin (West) als Tummelplatz aller möglichen antikommunistischen Spionage- und Sabotageorganisationen, von denen die sogenannte „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) des Rainer Hildebrandt und der „Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen“ (UfJ) besonders unrühmlich bekannt wurden.

Nachdem dieser zum Schaden der DDR betriebenen Politik mit der für den Senat wie gesagt nicht unerwartet erfolgten Schließung der Staatsgrenze ein empfindlicher Schlag versetzt worden war, dauerte es einige Tage, bis man sich in Bonner Bundeskanzleramt und Schöneberger Rathaus von dem Schrecken etwas erholt hatte. Dann aber tobte sich die ganze Wut aus, obwohl nichts so sehr angebracht war wie nüchternes und dabei vor allem kritisches Nachdenken über die unselige „Frontstadt“-Politik. Gerade das aber war unter keinen Umständen gewollt, im Gegenteil, nun galt es, den geradezu abgrundtiefen Hass auf die DDR bis zur „Frontstadt“-Psychose zu schüren. Aufgehetzte Gruppen wurden massenhaft an die im Bau befindlichen Grenzanlagen geschickt, angeblich um zu „protestieren“, in Wahrheit aber um blindwütig zu toben, zu randalieren und Angehörige der Grenzsicherungskräfte zu provozieren oder gar tätlich anzugreifen. Von letzteren zur Beruhigung der Lage herübergereichte Informationsblätter zu den wahren Ursachen der Grenzschließung wurden in solch hysterischer Atmosphäre von den Adressaten gar nicht erst gelesen, sondern zerfetzt, auf den Grenzzaun gespießt oder behöhnt, sofern man den Inhalt wenigstens überflogen hatte. Die Wahrheit war nicht gewollt und selbst Einwohner von Berlin (West), die solchem Wüten abhold waren, wollten nicht begreifen, dass sich die DDR all das, was ihr seitens der „Frontstadt“ angetan worden war, nicht mehr bieten ließ, wogegen ihnen die bisherige feindselige Politik keinen Augenblick kritischen Betrachtens wert war. Man handelte nach dem Grundsatz, wonach man mit der anderen Seite alles machen, die aber sich dann nicht einmal dagegen wehren dürfe: „Ja, aber mit uns können die das doch nicht machen!“ Hauptsächliches Opfer dieser durch das aus gutem Grund unterbliebene Eingreifen der westlichen Besatzungsmächte geradezu ins Maßlose gesteigerten ohnmächtigen Wut wurde nun die S-Bahn in Berlin (West): Am 17. August 1961 begann ein vom Senat unter Willy Brandt (SPD) und ausgerechnet auch dem nicht minder im hysterischen Antikommunismus befangenen bundesdeutschen DGB, in dem die als Spaltergewerkschaft keine Tarifpartnerin der Deutschen Reichsbahn gewesene UGO aufgegangen war, bar jeder Fähigkeit und jeden Willens zur kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit der „Frontstadt“-Politik inszenierte und sowohl mit psychischer als auch physischer Gewalt gegen Fahrgäste durchgesetzte Boykott der von der Deutschen Reichsbahn betriebenen S-Bahn. Scheinheilig und wahrheitswidrig hieß es dazu aus dem Vorstand der Westberliner SPD: „Es ist politisch wichtig, daß wir Berliner uns ... so verhalten, denn das allein entspricht einer solidarischen Haltung mit den bedrängten Brüdern im Ostteil unserer Stadt.“ Der DGB sah zudem in der S-Bahn mit ihren als „Kampfpreise“ verleumdeten niedrigen Fahrpreisen eine unliebsame Konkurrentin für die in ihm organisierten Beschäftigten der (West-) Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG), war ihr also doppelt feindlich gesinnt. Nicht umsonst hatte er bereits zehn Jahre zuvor, am 8. September 1951, schon einmal einen Boykott zu inszenieren versucht, war aber bei der Bevölkerung von Berlin (West) weitgehendst auf Unverständnis gestoßen. DGB-Mitglieder und antikommunistisch verhetzte Studenten versperrten nun den Fahrgästen mit Transparenten wie „Der S-Bahn Fahrer zahlt den Stacheldraht“ und „Keinen Pfennig mehr für Ulbricht“ nicht nur den Weg, sondern wurden bei Nichtbefolgung des Boykotts mindestens handgreiflich. Der sich gewöhnlich immer so unpolitisch gebende DGB hat sich in Sachen Antikommunismus und DDR-Feindlichkeit mit einem – bis heute nicht kritisch aufgearbeiteten – untilgbaren Schandmal befleckt. Die stramm antikommunistischen Erzeugnisse aus dem Hause Axel Cäsar Springer, allen voran die „BILD-Zeitung“, heizten gemeinsam mit Rundfunk und Fernsehen, wofür Begriffe wie RIAS und SFB stehen, die Stimmung ganz bewusst an. Leben und Gesundheit der Angehörigen der Transportpolizei wurden durch auf Grund dieser beispiellosen Hetzpropaganda mit so anmaßenden und verlogenen Losungen wie „Transportpolizei raus aus dem freien Berlin!“ weiter verschärften verbalen und tätlichen Angriffen auf das Äußerste gefährdet. Die Deutsche Reichsbahn versuchte die durch eine antikommunistische Pogromstimmung geprägte Lage schließlich durch Zurückziehung der Transportpolizei und die am 30. Januar 1962 erfolgte Bildung einer ihr direkt unterstehenden Bahnpolizei aus nur mit Schlagstöcken bewaffneten Einwohnern von Berlin (West) zu beruhigen, doch seitens des Senats bestand daran gar kein Interesse: Einvernehmliche Regelungen hinsichtlich Übergabe, Strafverfolgung und Aburteilung festgenommener Straftäter sowie kriminalpolizeilicher Ermittlungen wurden einerseits verhindert, andererseits maßten sich die Behörden der besonderen politischen Einheit an, die deshalb weiterhin notwendige und durch das Recht der DDR begründete Tätigkeit der Transport-Kriminalpolizei durch Verhaftungen und gar Verurteilungen wegen „Amtsanmaßung“ massiv zu behindern. Anstelle einer Verständigung mit der DDR wurde viel Geld für den hunderte von Millionen verschlingenden Neubau parallel verlaufender Strecken der Westberliner U-Bahn und die Einrichtung von Buslinien zum Fenster hinausgeworfen. Da die BVG selbstverständlich gar nicht in der Lage war, das angesichts des inszenierten Boykotts schlagartig gestiegene Fahrgastaufkommen umgehend durch parallel zu den S-Bahn-Strecken geführte und damit Konkurrenz-Buslinien zu bewältigen, sorgte mit der nicht weniger stramm antikommunistischen ÖTV eine Einzelgewerkschaft des DGB für die rigorose Durchsetzung dieses völlig unwirtschaftlichen Vorhabens: Mit einem natürlich propagandistisch gebührend ausgeschlachteten finanziellen und organisatorischen Kraftakt sondergleichen ließ sie insgesamt 178 Busse bundesdeutscher Verkehrsunternehmen über die Transitautobahn (und damit provokatorisch über das Hoheitsgebiet der DDR!) in die „Frontstadt“ überführen. Die Einwohnerinnen und Einwohner von Berlin (West) hielt der Senat mit Hilfe ausschließlich politisch motivierter horrender Unterstützungszahlungen aus der BRD und Tag für Tag auf sie einhämmernder antikommunistischer Propaganda bei der Stange, was dazu führte, dass die Zahl der S-Bahn-Fahrgäste mit Ausnahme der die Züge zum Grenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße benutzenden stetig sank, obwohl die S-Bahn trotz notwendig gewesener Preiserhöhungen weiterhin das billigste Nahverkehrsmittel in Berlin (West) blieb. Doch der durch den Boykott verursachte immense Schaden traf nicht nur die DDR, auch die BRD konnte sich die hohen Unterstützungszahlungen schon nach drei Jahren kaum noch leisten: Bis 1964 war das mit Bonner Mitteln ausgeglichene Defizit der BVG von 14 auf 93,7 Millionen D-Mark der DBB angestiegen. Das hieß, um im fernen Berlin (West) die DDR durch einen Verlust von 29 Millionen D-Mark der DBB zu schädigen, hatte das Bundesfinanzministerium den dreifachen Betrag aufzubringen! Das mittels politisch motiviertem Boykott erzwungene Absinken der Fahrgastzahlen von 500.000 auf 100.000 im Herbst 1961 war teuer erkauft worden, nunmehr zu teuer, denn mit Fernschreiben Nummer 84 ließ Bundeskanzler Ludwig Ehrhard den Vorsitzenden des DGB von Berlin (West), Sickert, im März 1964 mitteilen, dass die hohen Steuerzuschüsse der BRD nicht weiter aufgestockt werden konnten. Bundesfinanzminister Rolf Dahlgrün (FDP) hatte den Stadtkämmerer Hoppe zuvor schon davon in Kenntnis gesetzt: „Die Bundesregierung leistet zum Ausgleich des Berliner Haushalts einen allgemeinen Zuschuß von rund 1,4 Milliarden Mark. Über diesen Betrag hinauszugehen, ist leider nicht möglich.“ So stiegen die Fahrpreise für U-Bahn (35 Pfennige der BdL gegenüber 20 Pfennigen der BdL für die S-Bahn), Straßenbahn und Bus ab 1. April um bis zu 50 % - der Einzelfahrschein für den Bus von 40 auf 50 Pfennige der Bank deutscher Länder (BdL), für die damals noch verkehrende Straßenbahn von 40 auf 60 Pfennige BdL. Damit war die BVG auf einigen Strecken dreimal so teuer als die – ohnehin schnellere – S-Bahn. Um ein Aufweichen des Boykotts zu verhindern, wurde versucht, die Stimmung mit Durchhalteparolen zu verbessern. So erklärte Verkehrssenator Otto Theuner (SPD), er hoffe, „daß die Bevölkerung ihre bewundernswerte Disziplin beibehält“, wobei er mit dem Wort „Disziplin“ den verordneten S-Bahn-Boykott vornehm umschrieb. Dennoch geriet er ins Visier der ultrarechten Springer-Presse und nicht weniger rechts stehender eigener Parteifreunde, die ihn wütend der „Sabotage“ der „Frontstadt“-Politik bezichtigten: „Von Springers 'Bild'-Zeitung und sogar von einigen SPD-Genossen im Westberliner Stadtparlament wird Theuner der Frontstadt-Sabotage verdächtigt, weil er den Boykott der Berliner Stadtbahn - des in sowjetzonaler Regie betriebenen Konkurrenzunternehmens zu Westberlins U-Bahn und Omnibussen - nicht tatkräftig genug unterstütze: Den Berlinern, die nach dem 13. August von der S-Bahn auf BVG-Verkehrsmittel umstiegen, werde trotz höherer Fahrpreise kein ausreichender Ersatz für die Stadtbahn geboten. An den Bushaltestellen stauten sich die Fahrgäste zu langen Warte-Kolonnen ('Bild': 'Das ist Ihr Werk, Herr Senator!').“ („DER SPIEGEL“ Nummer 47/1961). Weit nüchterner als der Senator war da BVG-Direktor König, der ungeachtet allen psychischen und physischen Drucks mit der Rückwanderung von rund 100.000 Fahrgästen zur S-Bahn rechnete. Der „Tagesspiegel“ drückte das so aus: „Wer einen Kleinrentner, der durch die S-Bahn-Sperre geht, künftig scheel ansieht, erwartet von ihm das Zahlen einer politischen Luxussteuer, die in keinem Verhältnis zu seinem Einkommen steht.“ Mit der „politischen Luxussteuer“ war der hohe Preis für eine Fahrt mit der BVG gemeint. Geld dürfe für Durchsetzung und Aufrechterhaltung des Boykotts keine Rolle spielen, hatte Springers „BILD-Zeitung“ gefordert – sie war sehr schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden! Die so sehr befürchtete Rückwanderung zur S-Bahn kommentierte „DER SPIEGEL“ Nummer 13/1964 wie folgt: „Damit wäre der S-Bahn-Boykott - die einzige politisch eindrucksvolle Gegenmaßnahme des Westens auf Ulbrichts Mauerbau - am Ende.“ Im übrigen war die Darstellung, der inszenierte S-Bahn-Boykott sei eine „berechtigte Protestmaßnahme“ der Bevölkerung von Berlin (West) gegen die dank „Frontstadt“-Politik erzwungene Grenzschließung, lediglich eine Schutzbehauptung. Worum es den Verantwortlichen in der „billigsten Atombombe“ wirklich ging, enthüllte das nun jeder DDR-Freundlichkeit völlig unverdächtige Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“ am 15. November 1961 in seiner Ausgabe 47. Dort hieß es unter anderem: „Der konsequente Boykott der sowjetzonaler Regie unterstellten S-Bahn ist aber nach Ansicht des Schöneberger Senats das einzige Mittel, Ulbrichts weitverzweigtes Stützpunkt-System in Westberlin endlich zu liquidieren.

Noch immer verfügt die Sowjetzonenregierung in Westberlin über 117 rote Bastionen:

- 75 S-Bahnhöfe,

- 25 Güterbahnhöfe,

- 15 Verwaltungsdienststellen und

- 2 Reichsbahnausbesserungswerke.

Diese 117 DDR-Bastionen entlang dem 150 Kilometer langen Streckennetz werden nicht nur dazu benutzt, den reibungslosen Stadt- und Fernbahnverkehr aufrechtzuerhalten.

Das S-Bahn-Gelände innerhalb Westberlins, das mehr Fläche umfaßt als der 1037 Hektar große Bezirk Kreuzberg (192 000 Einwohner), wird von der DDR vielmehr als sowjetzonales Territorium betrachtet, auf dem sich Ulbrichts Genossen unter dem Schutz sowjetzonaler Transportpolizisten ungehindert zur 5. Kolonne formieren können.“ Mit der „5. Kolonne“ waren die Mitglieder der Westberliner Kreisorganisationen der SED gemeint, die sich nach der bereits am 26. April 1959 erfolgten Wahl einer eigenen Leitung im Gefolge der Grenzschließung am 24. November 1962 auch zu einer eigenen Partei, der SED - Westberlin (SED-W) konstituierten, die schließlich auf dem außerordentlichen Parteitag am 15. Februar 1969 den Namen Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) annahm und damit deutlich machte, dass sie bei aller politischen Verbundenheit und notwendigen finanziellen Unterstützung kein „Ableger“ der SED der DDR war, wogegen CDU, FDP und SPD nichts anderes denn Ableger der entsprechenden bundesdeutschen Parteien darstellten. Die sich hier zwangsläufig ergebende Frage, wie es denn 1946 im US-amerikanischen, im britischen und im französischen Sektor zur so gern behaupteten „Zwangsvereinigung“ von KPD und SPD gekommen war, sei hier nur am Rande erwähnt. Endziel des inszenierten Boykotts war folglich, gegen die seit 1945 bestehenden alliierten Vereinbarungen die Deutsche Reichsbahn und mit ihr letztlich die DDR zum Rückzug aus Berlin (West) zu zwingen, die besondere politische Einheit also, um einen Begriff aus dem Jargon der regierenden bürgerlich-klerikalen Kommunistenhasser im heutigen Polen zu benutzen, zu „entkommunisieren“. Das wäre schließlich und endlich einer nachträglichen und natürlich rechtswidrigen Ausdehnung des bundesdeutschen KPD-Verbots auf die „Frontstadt“ gleichgekommen, zumal es mit Sicherheit kaum umfangreicher juristischer Spitzfindigkeiten bedurft hätte, diesem auch die SED-W zu unterwerfen. Obwohl die Partei von der Mitgliederzahl her klein blieb und angesichts der vom hysterischen Antikommunismus geprägten Atmosphäre bei Wahlen nie in das Abgeordnetenhaus einziehen konnte, galt sie dem Senat als wider seine Konfrontationspolitik löckender „Stachel“, als Pfahl innerhalb des „Pfahls im Fleische der DDR“ sozusagen.

Die bei allen Nahverkehrsmitteln übliche finanzielle Unterstützung lehnte der Senat nicht nur stets und ständig ab, mittels einer dubiosen „Treuhandstelle“ und der Behauptung, die Deutsche Reichsbahn habe nur die Betriebsrechte, sei aber nicht Eigentümerin von Fahrzeugen und Anlagen, ließ er ihr Einnahmen in Millionenhöhe, die ihr durch Vermietungen und Verpachtungen zustanden, vorenthalten, weshalb dieser natürlich die notwendigen Gelder für eine Modernisierung des S-Bahn-Netzes fehlten. Zudem verstieg sich ein politisch gewendeter Autor der in der DDR begründeten Zeitschrift „Verkehrsgeschichtliche Blätter“ nach 1990 gar zu der Behauptung, die Deutsche Reichsbahn sei im Gegenteil dem Senat Gewerbesteuer schuldig gewesen, obwohl sie als Staatsbahn nie, weder vor noch nach 1945, von der Gnade einer städtischen Gewerbeerlaubnis abhängig war. Außerdem stand der S-Bahn-Verkehr nach Kriegsende auf besatzungsrechtlicher und damit für den Senat von Berlin (West) unanfechtbaren Grundlage. Völlig aus der Luft gegriffen war die Behauptung, die Fahrzeuge seien nicht Eigentum der Deutschen Reichsbahn, denn sämtliche zwischen 1924 und 1941 in Dienst gestellten S-Bahn-Züge waren natürlich von ihr selbst bei der einschlägigen Industrie bestellt und bei Ablieferung auch bezahlt worden. Dabei spielte es keine Rolle, dass sie bis zum Erlass des entsprechenden Befehls der sowjetischen Militäradministration, der den Bahnbetrieb ab 1. September 1945 in die Hände der Eisenbahner legte, ein staatskapitalistisches Unternehmen gewesen war. Dafür spricht ebenfalls, wenn auch nur nebenbei, dass der Senat in ohnmächtiger Wut zusehen musste, wenn sowohl Bahnhöfe als auch auf den Strecken in Berlin (West) eingesetzte S-Bahn-Züge wie bei der Deutschen Reichsbahn üblich am 1. Mai und am 7. Oktober mit der Staatsflagge der DDR und der roten Fahne geschmückt waren. Im Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“ hieß es dazu in der erwähnten Ausgabe 47/1961: „Im Herbst 1959 erwies sich erstmals, daß die westlichen Alliierten nicht gewillt sind, im S-Bahn-Streit Partei zu nehmen. Als DDR-Genossen am Gründungstag der Ulbricht-Republik auf Westberliner Bahnhöfen ihre mit Hammer und Zirkel dekorierten Staatsflaggen hißten, wiesen die drei westlichen Stadtkommandanten ein Hilfebegehren des Senats brüsk ab: Sowjetzonale Flaggen auf Westberliner Bahnhöfen seien kein Grund zum Aufmarsch westlicher Streitkräfte.“ Und weiter hieß es: „Auch als Ulbricht-Eisenbahner einen diesseits der Sektorengrenze auf westlichem Territorium gelegenen Reichsbahn-Wasserturm mit den Initialen der Deutschen Demokratischen Republik - DDR - bepinselten und mit einer FDJ-Fahne schmückten, blieben die von Westberliner Zeitungen geforderten Gegenaktionen aus: Der französische Stadtkommandant Lacomme ließ es mit einem Protest bei Sowjet-Oberst Solowjew in Karlshorst bewenden.“ Selbstverständlich wurde das alles im Schöneberger Rathaus als „Provokation“ aufgefasst, doch im gleichen Atemzuge war es in den Augen der dort Verantwortlichen keine Provokation, dass Bundestag und Bundesrat sowie die zwecks Wahl des Staatsoberhauptes aus beiden gebildete Bundesversammlung rechtswidrig Tagungen in der nicht zur BRD gehörenden Stadt abhielten, der Bundespräsident der BRD über einen „Amtssitz“ im Schloss Bellevue verfügte, mit Bundesdruckerei und Bundesumweltamt staatliche Dienststellen angesiedelt wurden und auf dem ehemaligen Reichstagsgebäude die Staatsflagge der BRD wehte. Das waren selbstverständlich bewusst und gewollt gegen die DDR gerichtete schwere Provokationen, die auch nach Inkrafttreten des Vierseitigen Abkommens mit stillschweigender Duldung der westlichen Besatzungsmächte beibehalten wurden, obwohl dieses ausdrücklich bestimmte, dass Berlin (West) „so wie bisher kein Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland“ war und „auch weiterhin nicht von ihr regiert werden“ durfte. Im übrigen tat der Senat alles, um die S-Bahn aus dem Bewusstsein der Bevölkerung endgültig zu verbannen: Angrenzende Straßen sowie nahegelegene U-Bahnhöfe und Bushaltestellen der BVG enthielten keinerlei Hinweise mehr auf Bahnhöfe und Haltepunkte der S-Bahn, Umsteigemöglichkeiten wurden nirgendwo ausgewiesen. Zudem wurde das beliebte Nahverkehrsmittel aus sämtlichen Reiseführern und Prospekten getilgt, damit möglichst kein ausländischer Besucher auf die S-Bahn aufmerksam wurde. Bürgerinitiativen und der Fahrgastverband IGEB, die angesichts der nahezu unlösbar gewordenen Verkehrsprobleme ab Mitte der 1970er Jahre für eine Versachlichung des Verhältnisses zur S-Bahn als unabdingbare Voraussetzung für eine Wiederbelebung dieses Nahverkehrsmittels eintraten, wurden als „kommunistische Gruppen“ diffamiert. Zudem behauptete der Senat wider besseres Wissen: „Die S-Bahn hat im Westberliner Nahverkehr keine Bedeutung. Der Nahverkehr ist durch ein schnelles U-Bahn und Omnibus-Netz ausgebaut, so dass kein Bedarf an diesem Verkehrsmittel besteht. Die aktuellen Fahrgastzahlen beweisen, dass die S-Bahn in Berlin (West) nicht notwendig ist.“ Andererseits hagelte es in Fällen von propagandistischer Nützlichkeit und Verwertbarkeit heuchlerische Beschwerden über den Zustand von Fahrzeugen und Bahnhöfen, heuchlerisch deshalb, weil ja die in der besonderen politischen Einheit Verantwortlichen mit dem von ihnen inszenierten Boykott und der Verweigerung einer sachlichen Zusammenarbeit diese Entwicklung verschuldet hatten. Weshalb sollte die Deutsche Reichsbahn angesichts des politisch erzwungenen starken Fahrgastrückgangs und damit auch ihrer Einnahmen in D-Mark der DBB Millionen für die Modernisierung oder gar Neubeschaffung von S-Bahn-Zügen sowie die Renovierung oder Rekonstruktion von Bahnhöfen aufwenden? Zusätzliche Verluste erlitt die Deutsche Reichsbahn außerdem durch sich häufende und bis zum Beginn der 1980er Jahre anhaltende politisch motivierte verbrecherische Anschläge antikommunistisch verhetzter Einwohner auf Bahnanlagen und Fahrzeuge: Dazu gehörten die Zerstörung von Fensterscheiben und Sitzgestühl ebenso wie die von Gleisanlagen und Signalkabeln, auf die Gleise gelegte oder geworfene gefährliche Hindernisse wie Schwellen und Betonplatten, Steinwürfe auf Fahrzeuge, das Aufschmieren politischer Hetzparolen und vieles andere mehr. All diese – auch nach Westberliner und bundesdeutschem Recht als „Gefährliche Eingriffe in den Bahnverkehr“ zu ahndende – Verbrechen geschahen mit wohlwollender Duldung der Behörden, die in ihrer antikommunistischen Verblendung keine Gelegenheit zu „Nadelstichen“ ausließen. Weitere und sehr gefährliche, weil Leben und Gesundheit der Fahrgäste auf das Äußerste bedrohende, Eingriffe in den Bahnverkehr unternahmen, vor allem nach Fertigstellung der im „Frontstadt“-Jargon gehässig und bösartig als „Mauer“ diffamierten Grenzsperranlagen, verharmlosend und lobhudelnd als „Fluchthelfer“ ausgegebene bewaffnete kriminelle Schleuserbanden, die, ebenfalls mit wohlwollender Duldung, ja, offener Unterstützung der Behörden, sogenannte „Fluchttunnel“ unter dem Bahngelände gruben: So senkte sich im Februar 1962 auf dem an der Grenze gelegenen S-Bahnhof Wollankstraße plötzlich der Bahnsteig an einer Stelle um fast einen Meter – Ursache war ein solcher Tunnel, der unter einem Stützpfeiler schließlich zusammenbrach und so entdeckt wurde. Von einem kurzen Feuergefecht zwischen Grenzsoldaten und Mitgliedern der Schleuserbande einmal abgesehen gehört wahrlich nicht viel Fantasie dazu, um sich vorstellen zu können, was bei der Einfahrt eines Zuges unweigerlich geschehen wäre! Bei privatkapitalistischen Unternehmen folgt allein schon angesichts der finanziellen Verluste bekanntlich die Schließung oder Verlagerung des gesamten Betriebes! Dennoch hielt die Deutsche Reichsbahn außer dem Fernreise- und dem Güterverkehr auch den S-Bahn-Verkehr in der Stadt aufrecht, obwohl die von 36 auf nur noch 7 Millionen D-Mark der DBB gesunkenen Einnahmen nicht einmal dessen Betriebskosten deckten. Sie tat es im Interesse der noch verbliebenen Fahrgäste, sie tat es auch in der Hoffnung auf ein allmähliches Umdenken in breiteren Kreisen der Bevölkerung, wenn ein solches schon von Politik und Medien nicht zu erwarten war. Sie musste es zudem tun, um einen möglichen Verlust der Betriebsrechte zu vermeiden, was einen Triumph der unsäglichen Konfrontationspolitik und ihrer Verfechter bedeutet hätte: Wie „DER SPIEGEL“ Nummer 13/1964 berichtete, baute Innensenator Joachim Lipschitz (SPD) gerade auf einer möglichen Einstellung des S-Bahn-Verkehrs seine Taktik auf – er „hoffte, die DDR-Stützpunkte auf dem Westberliner Reichsbahngelände langsam aushungern zu können. Lipschitz wollte auf diesem Umweg zu dem Ziel kommen, das ihm die drei auf den Viermächtevereinbarungen beharrenden Westmächte verbaut hatten: Sie lehnten seine Forderung ab, das der Reichsbahn 1945 überlassene Betriebsrecht im Westsektor dem Westberliner Senat zu übertragen.“ In ähnlicher Weise hatte er bereits versucht, mit einer am 18. August 1961 veröffentlichten schwarzen Liste die weitere Tätigkeit darin namentlich genannter Bürger der DDR in Berlin (West) zu verhindern. Laut dieser war einer Reihe von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf Senatsbeschluss von nun an das Betreten der besonderen politischen Einheit verboten: Walter Ulbricht oder Täve Schur konnte das nicht sonderlich beschweren, denn sie pflegten sich schon seit Jahren nicht mehr dort aufzuhalten, doch für Prof. Dr. Friedrich Karl Kaul, dem wohl bekanntesten und fähigsten Strafverteidiger in der DDR, konnte das unangenehme Folgen haben. Übte der mit alliiertem Beschluss bei allen Gerichten – auch denen der anderen Sektoren und Besatzungszonen bzw. ab 1948/49 in Berlin (West) und der BRD – zugelassene prominente Jurist seine Tätigkeit auf Westberliner Gebiet länger als ein halbes Jahr nicht aus, konnte er nach den Bestimmungen der dortigen Anwaltskammer schlicht und einfach aus der Liste der zugelassenen Anwälte gestrichen werden! Für so manchen von der „Frontstadt“-Justiz verfolgten Linken wie auch für den Ausgang von Prozessen gegen Nazi- und Kriegsverbrecher, aber auch für aus politischen Gründen von ihr inhaftierte Bürger der DDR hätte das unangenehme Folgen haben können. Im übrigen hatten die drei westlichen Besatzungsmächte einen für sie äußerst schwerwiegenden Grund, dem Verlangen der ultrareaktionären „Frontstadt“-Politiker nicht nachzugeben: Verfügten sie, natürlich gegen den Willen der UdSSR und damit so einseitig wie rechtswidrig, den Entzug der Betriebsrechte, waren ihre zwangsläufig von der Deutschen Reichsbahn auszuführenden Versorgungstransporte in höchstem Maße gefährdet. Damit aber stand und fiel ihre seit der Sprengung des Alliierten Kontrollrates ohnehin nicht mehr begründete Anwesenheit in Berlin (West), die sie jedoch unter allen Umständen aufrechterhalten wollten. Verkehrsminister Dr. Erwin Kramer hatte hinsichtlich einer vom Senat sehnlichst herbeigewünschten Beschlagnahme der S-Bahn unmissverständlich klargemacht: „Die verkehrstechnischen Sicherheitseinrichtungen der S-Bahn und der Fernzüge sind ... in Westberlin gekoppelt.“ Auch sein späterer Nachfolger Otto Arndt, damals Präsident der Reichsbahndirektion Berlin, hatte darauf hingewiesen, dass das S-Bahn-Netz „organisch mit den Anlagen, die dem Fernverkehr dienen“, verbunden war.

Zwecks Beendigung der unhaltbaren Zustände im S-Bahn-Netz von Berlin (West) und zur Lösung der auch durch den viele Millionen verschlingenden Neubau von U-Bahn-Linien nicht zu bewältigenden Verkehrsprobleme gab es seitens der DDR mehrfach den Vorschlag, den Betrieb per Vertrag an den Senat zu verpachten. Doch die nach wie vor in ihrem stupiden Antikommunismus befangenen Verantwortlichen im Schöneberger Rathauses blieben stur – die S-Bahn durfte nach ihrer Ansicht keinerlei Rolle mehr spielen und mit der inzwischen weltweit anerkannten DDR wollten sie auch weiterhin nicht verhandeln. Erst als sich die DDR auf Grund des dadurch verursachten, immer größer werdenden und ihre ohnehin problematische Devisenlage weiter verschärfenden Defizits 1980 zu drastischen Maßnahmen in Gestalt der Schließung der meisten und der Ausdünnung der Fahrpläne auf den noch betriebenen Strecken gezwungen sah und dadurch sowohl einen Streik ihrer Beschäftigten in Berlin (West) als auch ein Umdenken bei zahlreichen Einwohnerinnen und Einwohnern der besonderen politischen Einheit auslöste, bequemte sich der Senat endlich zu Verhandlungen über die Zukunft dieses traditionellen Nahverkehrsmittels. Durch dieses ein Aufweichen des Boykotts bedeutendes Wiedererwachen des Interesses an der S-Bahn in der Bevölkerung gerieten die Verantwortlichen im Schöneberger Rathaus in Zugzwang, wobei ihr Handeln freilich nicht ohne Hintersinn war: Im Jahre 1981 standen die nächsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus an und die SPD-FDP-Koalition unter Vogel/Brunner wollte weiterregieren. So wurde die Wiederbelebung der S-Bahn als Wahlkampfthema „entdeckt“. Der (aus der BRD importierte) Regierende Bürgermeister Hans-Jochen Vogel warb mit seinen als Münchner Oberbürgermeister beim Aufbau der dortigen S-Bahn gewonnenen Erfahrungen. Nunmehr konnte sich auch die CDU dem Thema nicht mehr verschließen und ließ nach ihrem Wahlsieg am 10. Mai einen Ausschuss zur Erarbeitung eines S-Bahn-Konzepts bilden. Am 22. Juni 1982 legte Verkehrssenator Volker Hassemer ein Konzept vor, das außer der Verbindung Friedrichstraße – Charlottenburg die Einstellung aller noch betriebenen und nach Modernisierung die abschnittsweise Wiederinbetriebnahme von acht Strecken im Zeitraum von 1991 bis 2005 (!) vorsah. Hier handelte es sich freilich ausschließlich um Vorstellungen jener Senats-Kommission, die erstens keineswegs mit dem zuständigen Ministerium für Verkehrswesen der DDR abgestimmt waren und die zweitens angesichts der Höhe der veranschlagten Investitionskosten und des vorgesehenen langen Zeitraumes mehr den Eindruck einer Alibi-Veranstaltung erweckten, mit der unter Verweis auf angeblich fehlende Mittel letztlich doch auf die S-Bahn verzichtet werden sollte. Zur Erinnerung – bei der Inszenierung des berüchtigten Boykotts durfte Geld keine Rolle spielen! Geharnischte Proteste aus der Bevölkerung zwangen schließlich zum Versprechen, zumindest den Betrieb dreier Linien aufrechtzuerhalten, und sich endlich dazu zu bequemen, die Bereitschaft zu Verhandlungen mit der DDR zu erklären. Doch auch hier wurde zunächst versucht, das Vierseitige Abkommen zu unterlaufen, indem der einzig mögliche Weg in Gestalt von direkten Gesprächen zwischen dem Senat und dem Ministerium für Verkehrswesen durch Einschaltung der Bundesregierung der BRD unter allen Umständen vermieden werden sollte. Der Senat wollte sich damit völkerrechtswidrig den Anschein einer bundesdeutschen Landesregierung geben, scheiterte jedoch an der konsequenten Haltung der DDR, die ihm schließlich zwecks Erreichung eines schnellen, im Interesse der Westberliner Bevölkerung liegenden Ergebnisses insoweit entgegenkam, als dass die Verhandlungen durch hochrangige Beauftragte von Senat und Deutscher Reichsbahn geführt wurden, womit der Betrieb am 9. Januar 1984 an die „Berliner Verkehrsgesellschaft AG“ (BVG) übertragen werden konnte. Damit war endlich ein Problem gelöst, dass es ohne die unselige Spaltung der Stadt überhaupt nicht und bei Realismus, Unvoreingenommenheit, Sachlichkeit und Augenmaß statt des im Schöneberger Rathaus herrschenden hysterischen Antikommunismus weder in der genannten Form noch in dieser Schärfe gegeben hätte.

 

Quellen:

1.      Autorenkollektiv: „Kleines Politisches Wörterbuch“, 3., überarbeitete Auflage, Dietz Verlag, Berlin 1978

2.      Autorenkollektiv: „50 Jahre Berliner S-Bahn 1924 – 1974“, Herausgeber: Reichsbahndirektion Berlin, Verwaltung der S-Bahn

3.      „Fahrt frei“, Wochenzeitung der deutschen Eisenbahner, Auszugsweiser Nachdruck 1. - 5. Jahrgang, Ritzau KG Verlag Zeit und Eisenbahn, D-86932 Pürgen 1994

4.      Heinrich, Eberhard und Ullrich, Klaus: „Befehdet seit dem ersten Tag“ (Untertitel: „Über drei Jahrzehnte Attentate gegen die DDR“), Schriftenreihe Geschichte, Dietz Verlag, Berlin 1981

5.      Internet-Seite www.stadtschnellbahn-berlin.de

6.      Internet-Lexikon WIKIPEDIA

7.      Janikowski, Andreas und Otte, Jörg: „Deutschlands S-Bahnen“, transpress Verlagsgesellschaft mbH, Berlin 1994

8.      Kaul, Friedrich Karl: „Der Verteidiger hat das Wort“ (Untertitel: „Hier und Drüben“), Verlag Das Neue Berlin, 1. Auflage, Berlin 1978

9.      „Modelleisenbahner“, Nr. 9/2011, Verlagsgruppe Bahn GmbH, D-82256 Fürstenfeldbruck

10.  „Potsdamer Abkommen“, Herausgeber: Historische Gedenkstätte des Potsdamer Abkommens, Cecilienhof, Potsdam; Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1966

11.  Prodöhl, Günter: „Solange die Spur warm ist“ (Untertitel: „Kriminalgeschichten“), Deutscher Militärverlag, Berlin 1961

12.  Rossberg, Ralf Roman: „Grenze über deutschen Schienen 1945 – 1990“, EK-Verlag, D-7800 Freiburg 1991

13.  Spiegel online: „DER SPIEGEL“, Ausgaben 47/1961 und 13/1964

14.  Teller, Hans: „Der kalte Krieg gegen die DDR“ (Untertitel: „Von seinen Anfängen bis 1961“), Akademie-Verlag, Berlin 1979

15.  Thomas, Siegfried: „Konrad Adenauer und die Entstehung der BRD“, Schriftenreihe Geschichte, Dietz Verlag, Berlin 1989

16.  „Verkehrsgeschichtliche Blätter“, verschiedene Ausgaben ab 1990, Herausgeber „Verein Verkehrsgeschichtlche Blätter e.V.“, Berlin; begründet 1974 als internes Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft „Verkehrsgeschichte“ des Deutschen Modelleisenbahn-Verbandes der DDR, öffentliche Herausgabe nach Aufnahme in das Presseverzeichnis der DDR 1984

 

Hans-Joachim Weise