Faschistische Frauenpolitik: Zwei Führerinnen im „Dritten Reich“

Führerinnen? Gab es in der absolut männerdominierten Gesellschaft des „Dritten Reiches“ nicht ausschließlich Führer? Im Prinzip ja, doch Frauenbild und Frauenpolitik der NSDAP mussten ja auch der Bevölkerung so nahegebracht werden, dass sie sich möglichst in ihrer Gesamtheit damit identifizierte. Was nun deren weiblichen Teil betraf, schien es doch am wirksamsten, wenn Frauen in herausragender Position dieses rückschrittliche Frauenbild nicht nur verbreiteten, sondern ebenso praktisch vorlebten. Da nun die Jugend – männliche wie weibliche - als wichtiger Teil der Bevölkerung ihren „Reichsjugendführer“ hatte, dazu auch jede Berufsgruppe ihren eigenen, man denke unter anderem an den „Reichsärzteführer“, „Reichsgesundheitsführer“, „Reichsrechtsführer“, „Reichsbeamtenführer, „Reichsstudentenführer“, „Reichsdozentenführer“, „Reichsbauernführer“, lag es nahe, den Frauen im allgemeinen, den Mädchen und jungen Frauen im besonderen sowie den spezifisch weiblichen Berufsgruppen eigene „Führerinnen“ zu verordnen. So gab es eine „Reichsfrauenführerin“ und eine „Reichshebammenführerin“. Für die Mädchen und jungen Frauen gab es zwar keine Person, die den Titel „Führerin“ trug, sie hieß „Reichsreferentin“, eine Spitzenposition war es dennoch. Hinsichtlich der Grundsätze und Richtlinien jener Politik waren freilich auch hier Männer als „Führer“ bestimmend – die anfangs schlicht als „Leiterin der NS-Frauenschaft“ bezeichnete „Reichsfrauenführerin“ unterstand letztlich dem „Reichswalter“ der NS-Volkswohlfahrt (NSV), Erich Hilgenfeldt. Unmittelbarer Vorgesetzter der „Reichsreferentin“ des Bundes Deutscher Mädel (BDM) war der „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach (ab 1940 Arthur Axmann). Das unheilvolle Wirken der beiden zweifellos wichtigsten, heute trotz mancher Veröffentlichungen allerdings wenig bekannten „Führerinnen“ soll hier beleuchtet werden:

 

1. Gertrud Scholtz-Klink

 

Vor bald 65 Jahren unterzog sich in der Französischen Besatzungszone ein bieder erscheinendes und zurückgezogen lebendes Ehepaar einem Entnazifizierungsverfahren, aus dem dieses als „unbelastet“ beruhigt nach Hause gehen konnte. Ja, welches Urteil blieb der Spruchkammer auch übrig, schließlich fanden sich in keiner NS-Kartei die Namen Heinrich und Maria Stuckebrock1). Erst viel später kam die französische Besatzungsmacht dahinter, wer dieses so unauffällige Paar wirklich war: Es handelte sich um die einstige „Reichsfrauenführerin“ Gertrud Scholtz-Klink und ihren dritten Ehemann, SS-Obergruppenführer August Heißmeyer. Die Frau als Heimchen am Herd, Hüterin der Familie, Gebärmaschine und den „Führer“ heiß verehrendes, seiner Politik bedingungslos folgendes Wesen – so lässt sich das umreißen, was sie, immer züchtig und hochgeschlossen gekleidet, am Rednerpult verkündete, mit gläubigem Augenaufschlag, als ließe sie sich stets von einer Art göttlichen Eingebung des „rastlos wirkenden Übermenschen“ Adolf Hitler inspirieren. Wie nun kam diese Frau nach ihrer Ausbildung als Lehrerin und Journalistin in diese Position, wie gelang es ihr, die frauenfeindliche Nazi-Politik nicht nur eifervoll zu propagieren, sondern als Mutter von elf Kindern auch selbst vorzuleben? Als Gertrud Treusch vor 110 Jahren, am 9. Februar 1902, im badischen Adelsheim geboren, wurde der Tochter eines Vermessungsbeamten in dieser katholisch geprägten Gegend natürlich von klein auf ein Familienbild beigebracht, das die Frau nicht viel anders sah, als bereits geschildert. Hinzu kamen das restriktive Familienrecht in der Kaiserzeit, nach dem der Ehemann bekanntlich sogar den Aufenthaltsort der Frau bestimmen konnte, und eine gerade im Bürgertum und in Beamtenkreisen typische Erziehung im Geiste von Obrigkeitshörigkeit, Nationalismus und Antisemitismus. Die der Frau, freilich viel weniger der aus gutbürgerlichen und Adelskreisen stammenden, zugewiesene Aufgabe, möglichst vielen und natürlich gesunden Kindern das Leben zu schenken, entsprang nicht humanistischen Grundsätzen, sondern diente vor allem der Untermauerung der bereits unter Wilhelm II. verbreiteten These vom „Volk ohne Raum“ und der damit gerechtfertigten Aggressionspolitik sowie natürlich der Schaffung von genügend Kanonenfutter für die unersättliche, alles verschlingende Kriegsmaschinerie.

Mit 18 heiratete sie den Lehrer Friedrich Klink2), mit dem sie nicht nur dieses Familienbild lebte, sondern der sie auch in ihrer politischen Haltung entscheidend beeinflusste: Ihr erster Ehemann war nur wenige Jahre später als Offenburger Bezirksleiter der NSDAP ein „Alter Kämpfer“. Im Jahre 1929 trat auch sie der NSDAP bei und wurde alsbald zur eifervollen Propagandistin nazistischer Ideologie. Mehr noch, sie fühlte sich sowohl von der Person Hitlers als auch von dessen Politik so angezogen, dass sie mit der organisatorischen Zusammenfassung von Nazi-Anhängerinnen in Offenburg begann und eine intensive Sozialarbeit leistete – dies vorrangig mit dem Ziel, der Nazi-Partei ein größeres Wählerpotential zu erschließen. Ihre Aktivitäten erregten die Aufmerksamkeit des badischen Gauleiters Robert Wagner, der ihr in den folgenden Jahren den steilen Weg auf der Karriereleiter in der NSDAP ebnen sollte.

Im März 1930 starb ihr Ehemann während einer Wahlkundgebung an einer Herzattacke. Mit 28 Jahren Witwe und schon mehrfache Mutter – das war für sie kein Grund, sich nun zuallererst der Familie zu widmen. Sie intensivierte im Gegenteil ihre von Eifer und Fanatismus geprägte Tätigkeit im Dienste der Nazi-Partei. Der Karrieresprung sollte bald darauf folgen: Sie wurde zur Gauleiterin des 1928 als Gliederung der NSDAP geschaffenen Deutschen Frauenordens (DFO) ernannt. Nach Zusammenfassung des DFO und weiterer völkisch-nationalistischer Frauengruppen durch den damaligen Organisationsleiter der NSDAP, Gregor Strasser, zur NS-Frauenschaft im Oktober 1931 wurde sie nicht nur deren Gauleiterin in Baden, sondern zugleich mit dem Aufbau der NSF in Hessen beauftragt. Ab 1932 mit dem Landarzt Günther Scholtz verheiratet, begann nach dem 30. Januar 1933 auch ihr Aufstieg auf staatlicher Ebene: Ihr nun zum Reichsstatthalter beförderter Gönner Robert Wagner ernannte sie zur Referentin für Frauenfragen im badischen Innenministerium. Ab 24. Februar 1934 nahm sie mit der Beförderung zur ersten Reichsführerin der NS-Frauenschaft und Leiterin des „Deutschen Frauenwerkes“ (DFW) die Spitzenposition in der Frauenorganisation der NSDAP ein. Freilich lagen die eigentlichen Kompetenzen beim „Reichswalter“ der NSV, dem schon genannten Erich Hilgenfeldt, dem sinnigerweise in der Reichsleitung der Partei auch das Amt für Frauenfragen unterstand. Gertrud Scholtz-Klink fungierte als seine Stellvertreterin. Dennoch war sie kein bloßes Aushängeschild, das etwa lediglich den Namen herzugeben hatte. In ihre Verantwortung fiel die systematische Erziehung der Mitglieder der NSF zu Nationalismus, Antisemitismus, Antikommunismus und Antibolschewismus. So traten in den „Pflichtabenden“ geschulte Kreis- und Gauredner sowie eigene Referentinnen auf, die, natürlich rhetorisch gekonnt und somit propagandistisch wirksam, Schauergeschichten über „die Gefahren des Bolschewismus und das mit diesem im Bunde stehende Judentum“ (u.a. „Schleizer Zeitung“ vom 8. Februar 1936) erzählten. Ebenso wurden die NSF-Mitglieder intensiv darauf eingestimmt, was es hieß, „Dienst an Volk und Führer zu üben“. Von ihnen wurde verlangt, „nicht Rechte, sondern Pflichtenauf sich zu nehmen. Das sei kein Hindernis, sondern Ansporn, „denn ein Reich ohne starke, pflichtbewußte Frauen muß untergehen“ (13. Februar 1936). Ebenso dienten die unter der Verantwortung von Gertrud Scholtz-Klink eingerichteten Mütterschulungen nicht nur der Aufklärung in Sachen Kinderpflege, -gesundheit und -erziehung, sondern ebenso der „Schulung der Frauen in der NS-Weltanschauung“ zur Erziehung der Kinder „im Geiste des Führers“ und der Vorbereitung „auf ihren schweren und verantwortungsvollen Beruf als Mutter“. Mitverantwortlich war die „Reichsfrauenführerin“ auch für die ab 1933 eingeleitete und mit dem verlogenen Schlagwort „Doppelverdiener“ verbrämte Hinausdrängung von Frauen aus dem Berufsleben, sofern es sich nicht gerade um sogenannte frauentypische Berufe handelte, um arbeitslosen Männern Platz zu machen. Diese Maßnahme wurde auch noch als Beitrag zur Minderung der Arbeitslosigkeit gepriesen. Die fortschreitende Benachteiligung der Frau im Bildungswesen wurde von Gertrud Scholtz-Klink nie in Frage gestellt. Dass ab 1933 nur noch 10 % der Studierenden Frauen sein durften, 1938 gar die Mädchengymnasien abgeschafft und schließlich nur noch eine hauswirtschaftliche und eine sprachliche Oberstufe als Formen der höheren Bildung für Mädchen und Frauen blieben, wurde gar damit gerechtfertigt, dass das Intellektuelle für die Frau „ungesund“ sei. Dagegen wurden Mädchen und junge Frauen ab 1938 durch die Verordnung eines „Pflichtjahres“ unter anderem in Haushalten und in der Landwirtschaft als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Ebenso organisierte die „Reichsfrauenführerin“ in der NS-Frauenschaft die Vorbereitung und Einstimmung der Mitglieder auf den geplanten Krieg, freilich ohne dieses Ziel offen zu nennen. Die Propagierung des strikten Sammelns von Küchenabfällen unter der Losung „Kampf dem Verderb“, spezielle Kochkurse unter Verwendung von „Ersatzstoffen“ für künftig fehlende hochwertige Lebensmittel, die Propaganda, auf Fleisch möglichst zu verzichten und stattdessen Fisch zu verwenden, Kurse zu Obst- und Gemüseanbau sollten auf die im Kriege unvermeidlichen Not- und Mangelzeiten vorbereiten. Hinzu kamen gemeinsam mit dem Reichsluftschutzbund durchgeführte Schulungen und Übungen beispielsweise zur Brandbekämpfung nach Luftangriffen sowie im Zusammenwirken mit dem Roten Kreuz Kurse im Sanitätsdienst. Um in etlichen Gliederungen der NSDAP zum Kriegsdienst eingezogene Männer mit Leitungsfunktionen auf der unteren Ebene rechtzeitig ersetzen zu können, wurden unter anderem gemeinsam mit der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) ausgesuchte Mitglieder von NSF und DAF in speziellen Lagern zu sogenannten Obfrauen ausgebildet. Dazu wirkte Gertrud Scholtz-Klink auch noch als Leiterin des Reichsfrauenbundes des Deutschen Roten Kreuzes und des Frauenamtes der DAF. Das grausame und menschenverachtende KZ-System wurde von ihr selbstverständlich nie in Frage gestellt: Am 23. August 1940 besichtigte sie gemeinsam mit SS-Obergruppenführer August Heißmeyer das Frauen-KZ Ravensbrück, ohne dass im Anschluss daran etwas über eine bessere Behandlung der dort geschundenen und gequälten Frauen bekannt geworden wäre.

Eine erste „Krönung“ ihres von Fanatismus und Führergläubigkeit geprägten Wirkens erfuhr sie im November 1934 mit der auf Fürsprache ihres Förderers Robert Wagner durch Hitler persönlich vorgenommenen offiziellen Ernennung zur „Reichsfrauenführerin“, womit ihr nicht nur die NSF, sondern alle im „Dritten Reich“ bestehenden Frauenorganisationen unterstanden. Nominell war sie damit die einflussreichste Frau in der Nazi-Hierarchie. Im November 1936 folgte das „Goldene Parteiabzeichen“ der NSDAP. Nicht weniger eifrig diente sie der Auslandspropaganda, die sie auf Reisen in mehrere europäische Länder schickte und dort als herausragende Persönlichkeit der NS-Führungsriege präsentierte, obwohl sie bekanntlich dem männlichen Führungsanspruch untergeordnet war. Nach der 19383) erfolgten Scheidung von Günther Scholtz heiratete sie zwei Jahre später den SS-Obergruppenführer August Heißmeyer, was ihr auch einen engen persönlichen Kontakt zur SS-Führung ermöglichte. Hatte sie ab 1933 die Hinausdrängung von Frauen aus dem Berufsleben mitgetragen, sah sie im Zweiten Weltkrieg keinen Widerspruch darin, das bislang propagierte Bild vom „Heimchen am Herd“ stillschweigend in der Versenkung verschwinden zu lassen und stattdessen alle arbeitsfähigen Frauen zum „totalen Kriegseinsatz“ zu veranlassen – in der Rüstungsindustrie, in Verkehrswesen und Landwirtschaft, im Luftschutz, in der Kinderbetreuung wie auch im militärischen Versorgungs-, Sanitäts- und Nachrichtendienst. Unverändert blieb die von ihr betriebene Herabwürdigung der Frau zur Gebärmaschine, die mit ihrem Aufruf vom 21. Mai 1944 zu „Geburtshöchstleistungen“ einen neuen Gipfelpunkt erreichte. Sie selbst sah sich hier als Trägerin des „Goldenen Mutterkreuzes“ in einer Vorbildrolle, obwohl immer wieder Kritiken laut wurden, sie vernachlässige auf Grund ihrer Ämterhäufung die eigene Familie.

Bei Kriegsende geriet sie in sowjetische Gefangenschaft, aus der sie jedoch fliehen konnte, und tauchte, ausgestattet mit falschen Papieren, mit ihrem Mann unter. Beide fanden in der aus dem einstigen Württemberger Königshaus stammenden Fürstin zu Wied eine Helferin, die ihnen ermöglichte, in Bebenhausen bei Tübingen, getarnt als Landarbeiter-Ehepaar, ein unauffälliges Leben zu führen. Sinnigerweise hatte im Schloss des gleichen Ortes von 1947 bis 1952 der Landtag des bis zur Gründung Baden-Württembergs bestehenden Landes Württemberg-Hohenzollern seinen Sitz. Erst 1948 wurden beide enttarnt und am 28. Februar von der französischen Besatzungsmacht verhaftet. Gertrud Scholtz-Klink wurde jedoch in Reutlingen nur wegen „Urkundenfälschung“ angeklagt und zu 18 Monaten Haft verurteilt. Ihre Tätigkeit als „Reichsfrauenführerin“ spielte dabei keine Rolle. Erst ein Jahr später erhielt sie deswegen als Hauptbelastete von der Tübinger Spruchkammer 18 Monate Gefängnis. Die freilich brauchte sie dank milder Richter nicht abzusitzen, da das ohnehin niedrige Strafmaß mit dem wegen Urkundenfälschung ergangenen „verrechnet“ wurde und somit als verbüßt galt. Erst nach zahlreichen Protesten wurde das Urteil aufgehoben. Im Revisionsverfahren wurde sie am 5. Mai 1950 zu 30 Monaten Arbeitslager verurteilt. Dieses ebenfalls milde Strafmaß wurde mit einem lebenslänglichen Verbot jeglicher politischer Betätigung, einem zehnjährigen Verbot für eine Berufsausübung als Lehrerin oder Journalistin sowie der Aberkennung des Wahlrechts und der Beitrittsfähigkeit zu Parteien und Gewerkschaften verbunden. Ebenso wurde ihr eine Geldstrafe auferlegt. Doch auch die 30 Monate Arbeitslager wurden ihr auf dem Gnadenwege erlassen – ein in westlichen Besatzungszonen offenbar häufiges Verfahren, denn außer Gertrud Scholtz-Klink wurden noch weitere schwer belastete NS-Funktionäre begnadigt. So wurden im benachbarten Württemberg-Baden am 19. Juni 1951 alle Sühnemaßnahmen gegen den thüringischen Gauobmann und Betriebszellenobmann der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF), Staatsrat Friedrich Triebel, durch Gnadenerlass des Ministerpräsidenten aufgehoben.

Gertrud Scholtz-Klink lebte danach zurückgezogen in Tübingen-Bebenhausen. Unfähig und unwillig zu Kritik und Selbstkritik sowie Einsicht und Reue, blieb sie eine glühende Anhängerin des Faschismus. Ungebrochen war ihre geradezu schwärmerische Verehrung und Begeisterung für Adolf Hitler. Ein Jahr vor dem Tode ihres Mannes am 16. Januar 1979 erschien ihre Autobiografie „Die Frau im Dritten Reich“, in der sie das faschistische System im allgemeinen und dessen durch sie mit durchgesetzte frauenfeindliche Politik nach wie vor zu rechtfertigen suchte. Die einstige „Reichsfrauenführerin“ und unverbesserliche Nazi-Anhängerin starb im hohen Alter von 97 Jahren am 24. März 1999 in Tübingen-Bebenhausen.

 


 

2. Dr. Jutta Rüdiger

 

Auf Fotos wirkt sie nett und adrett, manchmal auch brav und bieder, ja sogar etwas schüchtern. Man sieht es ihr nicht an, dass sie, erfüllt von Pflichteifer und Fanatismus, Millionen von Mädchen und jungen Frauen im Sinne eines verbrecherischen Systems erzog und das vorbereitete, was dereinst die NS-Frauenschaft vollenden sollte. Acht Jahre jünger als Gertrud Scholz-Klink, erlebte Dr. Jutta Rüdiger einen noch rasanteren Aufstieg als die „Reichsfrauenführerin“. Geboren am 14. Oktober 1910 in Berlin, nahm sie nach Schule und Abitur in Würzburg ein Studium der Psychologie auf, das sie mit der Promotion erfolgreich beendete. Mit dieser Qualifikation war sie von 1933 bis 1935 als Fachpsychologin am Institut für Arbeits- und Berufsforschung der preußischen Rheinprovinz in Düsseldorf tätig. Durch ihre Mitgliedschaft im NS-Studentenbund erfüllt von Fanatismus und überschäumender Begeisterung für Adolf Hitler wurde sie zur glühenden Anhängerin des Faschismus. Als junge Frau wandte sie sich deshalb, nicht zuletzt unter dem Einfluss ihres Bruders, eines strammen SA-Mannes, dem „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) zu, dessen Abkürzung wegen Aufgaben und Zielsetzung dieser Organisation in der Bevölkerung oft spöttisch als „Bubi-Drück'-Mich-Verein“, „Bund Deutscher Matratzen“ oder „Bald Deutsche Mutter“ gedeutet wurde. Der BDM umfasste die 10 bis 13jährigen Mädchen im „Jungmädelbund“ und den zunächst für die 14 bis 18jährigen Mädchen geschaffenen eigentlichen BDM. Ab 1938 gab es unter dem Einfluss Jutta Rüdigers zudem das von Clementine Gräfin zu Castell-Rüdenhausen (30.01.1912 – 12.10.2008) geleitete BDM-Werk „Glaube und Schönheit“ für die 17 bis 21jährigen Mädchen und jungen Frauen, was ein erhebliches Konkurrenzgerangel mit der ebenfalls auf diese Altersgruppe Anspruch erhebenden „Reichsfrauenführerin“ nach sich zog.

Bereits 1933 erfolgte die Ernennung Jutta Rüdigers zur BDM-Scharführerin, wenige Monate später zur BDM-Ringführerin. Schon 1934 gelang ihr dank ihres eifervollen und von psychologischem Geschick geprägten Wirkens der Sprung zur nächsthöheren Ebene: Sie wurde zur Leiterin der Abteilung für „Weltanschauliche Schulung und Kultur“ in der BDM-Gauleitung Düsseldorf ernannt. Diese Tätigkeit war freilich nur von kurzer Dauer, denn sie wurde alsbald in der BDM-Obergauleitung Ruhr-Niederrhein für die gleiche Funktion benötigt. Von nun an war der bislang ohnehin rasant gewesene Aufstieg von Dr. Jutta Rüdiger nicht mehr aufzuhalten: Ab Juni 1935 war sie Stabsleiterin in der Obergauleitung, ab Oktober 1935 schon selbst Obergauführerin. Im Oktober 1936 erfolgte mit der Beförderung zur Inspektionsbeauftragten in der Reichsjugendführung der Sprung nach ganz oben. 1937 zunächst Sonderbeauftragte der Reichsreferentin, sah „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach in ihr die Frau mit den noch größeren Fähigkeiten und Erfolgsaussichten bei der Erziehung der Mädchen im Sinne der nazistischen Jugend- und Frauenpolitik. So wurde sie im gleichen Jahr als Nachfolgerin der infolge ihrer Heirat ausgeschiedenen Trude Mohr zur „Reichsreferentin des BDM“ ernannt. Damit wurde sie vor 75 Jahren neben der „Reichfrauenführerin“ zur Spitzenfunktionärin in der NS-Hierarchie und blieb es bis 1945.

Natürlich ging es im BDM, in dem die Mitgliedschaft mit dem „Gesetz über die Hitlerjugend“ ab 1. Dezember 1936 zur Pflicht gemacht wurde, nicht ausschließlich um die Vorbereitung auf eine künftige Rolle als Hausfrau und Mutter. Die Tätigkeit der Organisation umfasste mehr als die nur verbale Erziehung im Sinne der nazistischen Ideologie sowie die Aneignung hauswirtschaftlicher Fähigkeiten und von Kenntnissen über Kindererziehung. Das allein hätte keine große Attraktivität des BDM gegenüber der ohnehin mit diesen Aufgaben befassten, bei der weiblichen Jugend jedoch als „altbacken“ geltenden NS-Frauenschaft bewirkt: Eine wichtige Rolle spielte der Sport mit Leichathletik, Sportspielen und Gymnastik. Hinzu kam eine „kulturelle Erziehung“ mit Volkstänzen und Liedern. Anfänglich waren auch Marschieren und Geländespiele wichtiger Bestandteil. So wurde im Sommer 1936 für HJ und BDM eine von Saalfeld ausgehende mehrtägige „Großfahrt“ veranstaltet, die unter anderem für Thüringer BDM-Gruppen über Fichtelgebirge und Bayerischen Wald bis nach Passau an der österreichischen Grenze führte und mit Ausnahme der Rückfahrt zum größten Teil zu Fuß zu bewältigen war. Daneben trug diese „Großfahrt“ hinsichtlich des Besuches an der Grenze zu Österreich den Charakter einer politisch-ideologisch motivierten „Grenzlandfahrt“. Derartige, gerade auf Mädchen aus den unteren sozialen Schichten attraktiv wirkende Aktivitäten wurden aber allmählich aufgegeben, da sie in der Reichsleitung der NSDAP als „vermännlichend wirkend“ und somit als dem nazistischen Frauenbild zuwiderlaufend angesehen wurden.

Mädchen, vor allem aus bürgerlichem Hause, sahen im BDM auch eine Möglichkeit, den starren Konventionen des Elternhauses wenigstens zeitweilig zu entfliehen. Ebenso wurde gerade von älteren Mitgliedern das Sporttreiben als eine Art Emanzipation empfunden, schließlich waren Mädchen in den Schulen von sportlicher Betätigung im Freien bislang weitgehend ausgeschlossen. Doch alle Aktivitäten des BDM waren letztlich darauf gerichtet, die weibliche Jugend von klein auf zu Trägerinnen faschistischer Ideologie zu erziehen und sie ebenso auf die Ableistung von in einem künftigen Krieg erforderlichen Hilfsdiensten vorzubereiten. Kulturelle, sportliche und andere Angebote dienten sowohl der dafür wichtigen Körperertüchtigung und Gesunderhaltung wie auch der Gewährleistung einer hohen Attraktivität des BDM. Zur Vorbereitung des Einsatzes von BDM-Mitgliedern auf Hilfsdienste im Krieg gehörte die 1938 erfolgte Einführung des „Pflichtjahres“ für ledige Frauen bis zum 25. Lebensjahr, das in Haushalten, in der Landwirtschaft („Landdienst“), im Luftschutz oder im militärischen Bereich (Nachrichtenwesen, Soldatenbetreuung) abzuleisten war. Im Krieg traten alle sportlichen, kulturellen und anderen äußerlich zivil ausgerichteten Aktivitäten immer mehr in den Hintergrund. Nun hatten Einsätze im Sanitätswesen, in der Soldaten- und Kinderbetreuung, in Landwirtschaft und Rüstungsindustrie absoluten Vorrang. All das fiel in die Verantwortung der „Reichsreferentin“, die geschickt auch ihre Kenntnisse als Psychologin nutzte, um die weibliche Jugend auf all das einzustimmen.

Eines freilich betrübte Dr. Jutta Rüdiger eine Zeitlang: Frauen waren in der männerdominierten NSDAP auf Grund des rückständigen Frauenbildes des Faschismus nicht so gern gesehen. Zudem galt bis zum 1. Mai 1937 eine Aufnahmesperre. So mussten ihre bisherigen Versuche bis dahin zwangsläufig scheitern und es gelang ihr erst nach der Aufhebung, auch Mitglied der NSDAP zu werden. Ihre nunmehrige Aufnahme dürfte allerdings ebenso funktionsbedingt gewesen sein, denn als „Reichsreferentin des BDM“ nicht in der Nazi-Partei zu sein, wäre undenkbar gewesen.

Wie Gertrud Scholtz-Klink kam auch Dr. Jutta Rüdiger nach Kriegsende billig davon: Nachdem ihr Versteck beim nahe Salzburg gelegenen Zell am See aufgespürt worden war, erhielt sie als Sühnemaßnahme 2 Jahre und 6 Monate US-amerikanische und britische Internierung. Bereits ab 1948 leitete sie eine psychologische Praxis in Düsseldorf und war bis zu deren krankheitsbedingter Aufgabe als Kinder- und Jugendpsychologin tätig. Auch sie erwies sich mit ihrer danach aufgenommenen publizistischen Tätigkeit als unbelehrbare Anhängerin des Faschismus: Mit Büchern und Videokassetten wie „Die Hitler-Jugend und ihr Selbstverständnis im Spiegel ihrer Aufgabengebiete“, „Der Bund Deutscher Mädel, eine Richtigstellung“, „Ich diente der Jugend“ und „Ein Leben für die Jugend“ unternahm sie unablässig Versuche zur Verharmlosung und politischen Rehabilitierung des BDM wie auch zur Verharmlosung der eigenen Rolle im nazistischen System. Ähnlich wie der einstige Gauleiter von Magdeburg-Anhalt und Oberpräsident der Provinz Magdeburg, Rudolf Jordan, gab sie sich gern als „mutige, überzeugte und unschuldige Idealistin“. In verschiedenen Interviews, die sie in ihren letzten Lebensjahren gab, wurde versucht, den einstigen Auseinandersetzungen mit der „Reichsfrauenführerin“ Gertrud Scholtz-Klink ein besonderes Gewicht zu geben und die „Reichsreferentin“ so mit der Aura einer Art unterschwelligen Widerstandes gegen das System zu umgeben. Dabei handelte es sich jedoch um Meinungsverschiedenheiten in taktischen Fragen sowie um ein in der Nazi-Hierarchie übliches Kompetenzgerangel, bei dem es ausschließlich um Einfluss und Macht ging. Bekannt sind solche Rivalitäten ebenso zwischen Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels und dem sich als „Chefideologen“ verstehenden Reichsleiter Alfred Rosenberg, zwischen Martin Bormann und Hermann Göring, Robert Ley und Martin Mutschmann, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie hatten nichts mit Kritik am oder gar Widerstand gegen das nazistische System zu tun. Die einstige „Reichsreferentin des BDM“ und als solche Verführerin von Millionen Mädchen und junger Frauen verstarb im hohen Alter von 91 Jahren am 13. März 2001 in Bad Reichenhall.


Hans-Joachim Weise