„Die Dummheit der Menschen“ – 25 Jahre nach dem Super-GAU von Tschernobyl

Ein Vierteljahrhundert nach dem Atomaren Katastrophe hat sich die Menschheit noch immer nicht von der Atomkraft gelöst, zu viele sind nach wie vor dafür, trotz des Elends, das sie mit sich bringen kann

Der Mensch hatte schon immer den Drang, zu forschen, zu entdecken und die Grenzen des Machbaren auszuloten. Gefahren blendete er dabei in unerschütterlicher Technikgläubigkeit gerne aus. Als 1938 Otto Hahn in Berlin die Kernspaltung entdeckte, ahnte noch niemand, welche Schrecken die Atomtechnologie – militärisch wie zivil – über die Menschheit bringen würde. Keine sieben Jahre nach Hahns Entdeckung explodierten amerikanische Atombomben über Hiroshima und Nagasaki und töteten mehr als 200.000 Menschen sofort, unzählige noch in den Jahren danach. Seit dem Kalten Krieg besitzen die Atommächte genügend Kernwaffen, um die Erde mehrfach in die Luft zu sprengen. Glücklicherweise siegte zumindest hier die Vernunft in Ost und West. Mehr noch, mit dem Atomwaffensperrvertrag wollte man verhindern, dass noch mehr Länder in den Besitz der „Bombe“ kommen. Gleichzeitig förderte die internationale Atomenergiebehörde den Bau von Atomkraftwerken überall in der Welt. Größere Zwischenfälle wie z. B. die Kernschmelzen in Lucens (Schweiz 1969), Saint Laurent (Frankreich 1969) oder Harribsurg (USA 1979) führten nicht zu einer Abkehr von der Atomkraft. Und wer weiß, was an schweren Störfällen noch alles verheimlicht wurde und wird? Auch die bisher größte Katastrophe, der Super-GAU von Tschernobyl am 26. April 1986, führte zu keinem Umdenken. 


Anlässlich des 25. Jahrestages der Reaktorkatastrophe traf die UNZ einen Zeitzeugen, der heute in Thüringen lebt und Mitglied der deutsch-russischen Freundschaftsgesellschaft ist. Er möchte lieber unerkannt bleiben, nicht weil er vor etwas Angst hat, sondern aus Gründen der Objektivität. Dieser Zeitzeuge ist nicht nur Ingenieur für Mechanik, sondern auch noch studierter Physiker. In den achtziger Jahren bekleidete er eine leitende Funktion in einer Produktionsvereinigung mit angeschlossenem Forschungsinstitut, welche dem Ministerium für Chemie und Ölförderung direkt unterstellt war. Bis zur Restrukturierung der sowjetischen Atomindustrie nach Tschernobyl war sein Kombinat auch zuständig für Atomanlagen. Er selbst hat mehrere sowjetische AKWs besucht und war sozusagen ein wichtiger Mann in der sowjetischen Atomindustrie. Welche Sicht hat er auf das Thema Atomkraft, 25 Jahre nach Tschernobyl? 


Im Westen galt bis zur Katastrophe von Fukushima der Grundsatz, dass die westlichen Industriestaaten die Technik im Griff haben und bestenfalls in unterentwickelten Ländern, zu denen die arroganten Kalten Krieger den ukrainischen Teil der damaligen UdSSR hinzu zählten, als unsicher. Unser Zeitzeuge weiß zu berichten, dass die Sicherheitsaspekte beim Bau sowjetischer Reaktoren durchaus eine wichtige Rolle spielten. Der Strahlenschutz der Mitarbeiter, die zu den besten Fachkräften des Landes gehörten, stand denen in westlichen Ländern in nichts nach. Jeder, der damals ein Kraftwerk betrat, bekam ein Messgerät und wenn ein bestimmter Wert an Strahlung überschritten wurde, durfte man nicht mehr ins Kraftwerk zurück. Und natürlich versuchte man auch in der Sowjetunion die AKWs so sicher wie möglich zu machen. Dass ein Restrisiko bleibt, weiß auch unser Zeitzeuge, der trotz der Katastrophe von Tschernobyl auch heute noch ein Befürworter der Kerntechnik ist. Damals sei es in erster Linie menschliches Versagen gewesen, dass zur Katastrophe führte. Später wird er noch deutlicher und benennt die „die Dummheit der Menschen“ als die Ursache für den Super-GAU. Atomkraft bleibe so lange gefährlich, wie es dumme Menschen gibt. Der Dolmetscher wirft schon vor dem Redakteur ein, dass die Existenz dieser Dummheit doch ein starkes Argument gegen die Nutzung der Kernenergie sein müsse – gerade wegen Tschernobyl oder seit neuestem wegen Fukushima. Doch das will unser Zeitzeuge nicht gelten lassen und plädiert für mehr Augenmaß und weniger Hysterie. Sein Argumente sind außerhalb Deutschlands in vielen Ländern verbreitet. Unser Zeitzeuge sagt, je größer das Wissen über Atomkraft ist, desto mehr erkennt man die Sinnhaftigkeit. 


In Deutschland freilich führt dieses Mehr an Wissen eher zum Gegenteil. Für unseren Zeitzeugen ist die Haltung in Deutschland aber nur durch negative Kampagnen in den Medien entstanden. Er erklärt mit seinem technischen Sachverstand, dass man aus den Fehlern von Tschernobyl gelernt habe. Ein Beispiel: In Odessa, einer Metropole am Schwarzem Meer, war vor Tschernobyl der Bau eines AKWs geplant. Nach dem Super-GAU gab es offene Proteste. Daraufhin wurde eine Kommission eingesetzt, bei der auch unsere Zeitzeuge am Tisch saß, um alles erneut zu überprüfen. Es wurde festgestellt, dass sich unter dem geplanten Reaktor ein riesiges Wasservorkommen befand. Das Ergebnis erinnert an die Sicherheitsüberprüfung deutscher AKWs nach Fukushima, denn die Kommission lehnte letztlich den Bau des Kernkraftwerkes bei Odessa ab. Allerdings gibt unser Zeitzeuge auch hier zu bedenken, dass es bis heute in Odessa an Energie mangelt und die dortige Industrie deswegen nicht das leistet, was sie eigentlich könnte. Doch kann diese Argumention angesichts von so vielen Menschen, die unter der atomaren Verseuchung leiden müssen, wirklich gelten lassen?  


Allein in der Ukraine sind heute zwei Millionen Menschen als Opfer der Katastrophe von Tschernobyl anerkannt. Geld bekommen sie deswegen aber keines, erklärt unser Zeitzeuge. Selbst erfolgreiche Klagen vor Gerichten seien nutzlos. Die Menschen werden mit den Folgen der Katastrophe  allein gelassen. Wie kann man angesichts der unvorstellbaren Leiden so vieler Menschen und des Raubbaus an der Natur immer noch für die Atomkraft sein? Unser Zeitzeuge erklärt, dass auch andere Energien, seien es die Kohle oder Wind- und Sonnenenergie, viele Gefahren bergen, von denen wir heute noch nichts wissen. Den massiven Ausbau erneuerbarer Energien, gar eine 100-Prozent-Quote, hält er für nicht machbar. Statt dessen glaubt er sogar, dass man in 100 Jahren eine Lösung für den Atommüll finden könne.

 

Welche Lektion soll man 25 Jahre nach Tschernobyl und unter dem Eindruck von Fukushima ziehen? Die einen – in Deutschland und vermutlich auch bei den UNZ-Lesern eine Mehrheit – sagen: raus aus der Atomkraft, so schnell wie möglich. Die anderen sagen: Atomkraftwerke noch sicherer machen und weiter auf sie als „Brückentechnologie“ setzen, dazu gehört auch unser Zeitzeuge. In Deutschland ist die Gesellschaft und die Politik (jedenfalls LINKE, Grüne und SPD) seit langem gegen die Kernenergie. Nicht nur unser Zeitzeuge, auch Frankreich, China, die USA, selbst Japan sehen das anders. Statt Umdenken ist gar von einer Renaissance der Atomkraft die Rede.


„Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“, sagt unser Zeitzeuge zum Abschluss. Recht hat er. Aber bei der Schlussfolgerung, welche Notwendigkeiten sich in Sachen Atomkraft materialisieren, kann es nur eine Antwort geben. Sicher sollte man auch die Bedenken und die fachliche Expertise von Menschen, die, wie unser Zeitzeuge, für Atomkraft sind, ernst nehmen. Aber in einem Wettbewerb um die besten Lösungsansätze wird sich die Energiewende als gangbarste Variante herauskristallisieren. Über das Wie wird sicherlich weiter gestritten, aber die Grundrichtung kann nur Eine sein. 


Wenn Deutschland 25 Jahre nach Tschernobyl und unter dem Eindruck von Fukushima nun den Ausstieg aus der Atomkraft forciert, wird man solche Debatten auch mit anderen Ländern führen müssen. Deswegen tut jeder Befürworter des Ausstieges gut daran, sich mit den Argumenten der Ausstiegsgegner zu beschäftigen. Letztlich sind es nicht  nur umweltpolitische Aspekte, die für den Ausstieg und für erneuerbare Energien sprechen, sondern auch ökonomische. Mit großen Investitionsprogrammen könnte die regionale Wirtschaft profitieren, mit dem Ausbau dezentraler Strukturen ein Gegengewicht zu den Energieriesen geschaffen werden. Dazu kommt die Außenwirkung. Wenn ein Industrieland den Weg erneuerbarer Energien erfolgreich zu Ende geht, werden es andere Länder gleichtun. Dazu müssen auch in Thüringen die Hausaufgaben erledigt werden. Es bleibt zu hoffen, dass der von Ministerpräsidentin Lieberknecht angekündigte schnellere Umstieg auf erneuerbare Energien in die Tat umgesetzt wird und man nicht erst wartet, bis es auch in Deutschland zu einem Super-GAU gekommen ist.                                    

Thomas Holzmann