Dem Vergessen entreißen: Vor 60 Jahren - Schüsse vor der Gruga-Halle  

„Gruga“ - das heißt „Große Ruhrländische Gartenbau-Ausstellung“, ein Name, bei dem man an friedvolle Beschaulichkeit in grüner Idylle, an sanftes Blätterrauschen, fantastische Blütenpracht und melodisches Vogelgezwitscher denkt. Doch an jenem 11. Mai 1952 war es damit vorbei, denn an diesem verhängnisvollen Tag wurde der Frieden des Geländes jäh durch ein äußerst unfriedliches Aufgebot nordrhein-westfälischer Polizei gebrochen, das auf Befehl des Kommissars Knobloch rücksichtslos in die für Frieden und gegen Wiederaufrüstung, Remilitarisierung und NATO-Beitritt friedlich demonstrierende Menge schoss. Ein Toter und zwei Schwerverletzte blieben auf dem Pflaster: Der Münchner Lokomotivschlosser Philipp Müller, Mitglied von KPD und FDJ, wenige Wochen zuvor 21 Jahre alt geworden, war das erste Todesopfer in der Bundesrepublik Deutschland, das ein polizeilicher Schießbefehl gegen eine Demonstration gefordert hatte. Von zwei Schüssen, darunter einem direkt ins Herz, getroffen, brach er zusammen, doch als ihn die Polizei schließlich abtransportierte, lebte er noch. Erst auf dem Weg ins Krankenhaus starb Philipp Müller – durch Polizeikugeln war sein junges, doch kaum begonnenes und so hoffnungsvoll gewesenes Leben ausgelöscht worden. Das erste Ehejahr war kaum verstrichen, da war seine Frau Ortrud bereits zur Witwe geworden, sein gerade 6 Monate alter Sohn Joachim sollte seinen Vater nie kennenlernen. Weitere Opfer der im Namen der „Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung“ brutal und rücksichtslos in die Menge feuernden Polizisten wurden der Kasseler Sozialdemokrat Bernhard Schwarz und der Gewerkschafter Albert Bretthauer aus Münster.

Nein, offiziell hat es diese tödlichen Schüssen von Essen nie gegeben – der 11. Mai 1952 ist kein Tag, der einer Aufnahme in die Annalen bundesdeutscher Geschichtsschreibung für würdig befunden wurde. Wäre es ein Ereignis in der DDR gewesen, ähnlich dem 17. Juni 1953 etwa, wo Arbeiter in blinder Wut und mit kräftiger Nachhilfe vor allem aus Berlin (West) drauf und dran waren, den Staat gewaltsam abzuschaffen, der der ihre werden sollte, dann freilich wäre er mit goldenen Lettern in der Ruhmeshalle des deutschen Staates verewigt worden, der bemerkenswerterweise außer sozialer Unsicherheit, Billiglöhnen, „Ein-Euro-Jobs“ und Rente mit 67 für die arbeitenden Menschen nichts übrig hat. Doch von Essen zieht sich heute unauslöschlich eine nahezu gerade Linie nach Afghanistan, wo die Bundeswehr das praktiziert, wogegen damals so machtvoll demonstriert worden war – Wiederaufrüstung und Remilitarisierung für einen künftigen Krieg. Es gehört nicht nur zu den Schatten-, sondern zu den verhängnisvollen schwarzen Seiten in der Geschichte dieser Bundesrepublik, dass sie, kaum gegründet, der wenige Jahre zuvor gerade noch entronnenen Katastrophe zum Trotz nach von den alten Generalen aufgebautem, geprägtem und kommandiertem Militär strebte, ja wenige Jahre später auch die Verfügungsgewalt über Kernwaffen verlangte. Mit den am 8. Mai 1945 noch Gegner gewesenen und nun zwecks Erreichung des mit jener berüchtigten Fulton-Rede Winston Churchills angestrebten „roll back“ dessen, was in Washington unter Kommunismus verstanden wurde, zu Verbündeten gewordenen westlichen Siegermächten gab sich die Regierung Adenauer der trügerischen Hoffnung hin, durch NATO-Mitgliedschaft und neue Streitkräfte die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges gewaltsam rückgängig machen zu können, wodurch sie den ohnehin mehr als brüchigen Frieden auf der Erde erneut in größte Gefahr brachte. Auf der koreanischen Halbinsel tobte zu dieser Zeit bereits ein furchtbarer Krieg, den die USA unter Missbrauch der UNO-Flagge mit Bombenteppichen und Napalm führten, ein Krieg, dessen Grausamkeit sich unauslöschlich in das Gedächtnis der Bevölkerung vor allem in der Koreanischen Demokratischen Volksrepublik eingeprägt hat. Doch der Rosenzüchter aus Rhöndorf musste erst einmal die Rechnung ohne den Wirt machen, zu frisch noch war die vergangene Katastrophe im Gedächtnis großer Teile der Bevölkerung, brandgeschwärzt noch viele davon kündende Ruinen. Noch war die Zahl derer, die als Landser erst die Hölle des Krieges erleben und dann in Gefangenenlagern darben und den Dreck wegräumen mussten, und damit die Zahl derer, die sich ein „nie wieder“ geschworen hatten, groß. Doch die Zahl der anderen, die als einstige Befehlshaber die schweren Nachkriegsjahre in idyllischen Landhäusern überdauert oder sich mit ihren „Erfahrungen bei der Bekämpfung des Kommunismus“ inzwischen bei den Regierenden in Washington angedient hatten und nun schon wieder bereitstanden, um es „beim nächsten Mal besser zu machen“, wuchs dank wohlwollender Förderung der Regierung Adenauer zwar unmerklich, doch für alle, die mit wachen Augen durchs Leben gingen, auch unübersehbar. Es galt eine machtvolle Bewegung gegen die neue Gefahr zu organisieren, über Partei- und Weltanschauungsgrenzen hinweg, es galt, statt des Trennenden das Einende, den Kampf für Frieden und Abrüstung, voranzustellen. Dass dabei Mitglieder von KPD, FDJ und VVN in der BRD zu den aktivsten gehörten, verstand sich von selbst, doch kamen dazu ebenso Pazifisten, verantwortungsbewusste Sozialdemokraten und Gewerkschafter sowie prominente kirchliche Würdenträger wie der antifaschistische Pastor Martin Niemöller (1892 – 1984), Kirchenpräsident der evangelischen Kirche von Hessen-Nassau, und Pfarrer Herbert Mochalski (1910 – 1993). Erschreckt von dieser immer machtvoller werdenden Friedensbewegung ließ die Regierung Adenauer alle Register ziehen, um sie mundtot zu machen: Der Bogen spannte sich von der Verharmlosung der Remilitarisierungspolitik als „Wiederbewaffnung“ über die Diffamierung der Friedensbewegung als „von Moskau gesteuert“ und „SED-gelenkt“, Berufsverbot für Mitglieder von KPD, FDJ und VVN im öffentlichen Dienst bis zum Verbot der Volksbefragung gegen Remilitarisierung und dem Einsatz brutalster Polizeigewalt. Dass UdSSR und DDR schon angesichts der leidvollen Erfahrungen mit dem deutschen Faschismus und der von ihm entfesselten Katastrophe auf Seiten der bundesdeutschen Friedensbewegung standen, lag nicht nur in der Natur der Sache, es machte auch den großen Unterschied zur offiziellen BRD deutlich, die sich vorbehaltlos auf die Seite der USA gestellt hatte und deren grausamen Krieg im „Land der Morgenfrische“, in dem es diesem poesievollen Namen zum Hohn nur noch nach verschmorten Leichen und verbrannten Ruinen stank, politisch unterstützte.

Als Teil dieser Friedensbewegung hatte eine am 2. März 1952 in Darmstadt stattgefundene Konferenz von Vertretern verschiedener Jugendorganisationen unter Leitung von Pfarrer Mochalski zu einer „Jugendkarawane gegen Wiederaufrüstung und Generalvertrag“ aufgerufen und dieser Aufruf fand einen von den Regierenden so nicht erwarteten breiten Widerhall. Diese machtvolle Protestveranstaltung musste folglich unter allen Umständen verhindert werden und dies hatte so nachhaltig zu geschehen, dass es niemand wieder wagen sollte, sich der Wiederaufrüstungs- und Remilitarisierungspolitik in den Weg zu stellen. Dazu war jedes Mittel recht, vom hinterhältigen Verbot über die Kriminalisierung bis zur brutalsten Polizeigewalt unter Einsatz von Gummiknüppeln, Hunden, Wasserwerfern und auch rücksichtslosem Schusswaffengebrauch. Als sich die Teilnehmer der Jugendkarawane am 11. Mai in Essen, als Standort der Krupp-Werke ein Zentrum der Rüstungsindiustrie, versammelten, waren sie 30.000 – eine beachtliche Zahl, die noch viel größer gewesen wäre, doch die Staatsmacht hatte alle Register gezogen, um viele Jugendliche von der Ruhrmetropole fernzuhalten: Wer in der Nacht zuvor oder am Morgen dieses Tages anreisen wollte, kam gar nicht erst ans Ziel. Züge und Busse wurden von Polizei durchkämmt und jeder zur Protestveranstaltung Anreisende gewaltsam an der Weiterfahrt gehindert. Bundesinnenminister Robert Lehr (CDU) und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident und zugleich Innenminister Karl Arnold (CDU) hatten die Jugendkarawane kurzerhand verboten, und zwar am Abend des 10. Mai, also so kurzfristig und damit hinterhältig, dass die meisten Teilnehmer gar nichts davon wussten. Das waren natürlich zuallererst die, die Essen schon erreicht hatten. Gerade die Organisierung der Jugendkarawane hatte die Regierenden in größte Unruhe und allerhöchste Alarmbereitschaft versetzt, sollte sie doch ein Höhepunkt bisheriger Friedensaktionen werden: Bereits am 25. September 1950 hatten 25.000 junge Bergarbeiter auf ihrem 1. Jugendtag Bundespräsident Theodor Heuß mit dem Sprechchor „Wir wollen keine Soldaten sein - Theodor, geh Du allein!“ empfangen. Da war die BRD gerade etwas mehr als ein Jahr alt geworden und doch sollte es schon „wieder losgehen“! Starke Resonanz hatte deshalb ein Brief Martin Niemöllers gefunden, in dem er Bundeskanzler Konrad Adenauer zu einer Volksbefragung über die Wiederaufrüstung aufgefordert hatte. Wie weit verbreitet und wie stark die antimilitaristische Stimmung in der Bevölkerung war, musste auch der US-amerikanische Hohe Kommissar John McCloy zur Kenntnis nehmen. So vermerkte er in seinem letzten Vierteljahresbericht für 1950 nach Washington, „die aufrichtige und ziemlich verbreitete Überzeugung, im Lichte der jüngsten Erfahrungen könne die Wiederaufrüstung für Deutschland nicht als ein Weg zu Frieden und Sicherheit gewertet werden“; darum stoße die Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Militärbündnis auf „eine ausgedehnte und nachdrückliche Opposition der Deutschen.“ Der Korrespondent der „New York Times“, Drew Middleton, schrieb zu Beginn des Jahres 1951 so sachlich und nüchtern wie klar und eindeutig „Der Enthusiasmus, den die westlichen Generale und Politiker über die deutsche Wiederbewaffnung bekunden, findet in diesem Lande keinen Widerhall. Insbesondere trifft das auf jene Erwachsenenkontingente zu, aus denen die Truppen rekrutiert werden müssen.“ und gab den Politikern seines Landes den wohlmeinenden Rat „Zwingen Sie jetzt nicht den Deutschen die Wiederbewaffnung auf; sie wollen es nicht.“ Angesichts dieser Stimmung war es nicht verwunderlich, dass Martin Niemöllers Forderung nach einer Volksbefragung auf großen Widerhall stieß. Das Bundeskanzleramt hüllte sich zunächst in Schweigen, „der alte Fuchs“ zog es vor, abzuwarten und die Stimmung nicht noch weiter anzuheizen. Doch als ein von den Initiatoren ins Leben gerufener Ausschuss nun selbst das Heft in die Hand nahm und mit den Vorbereitungsarbeiten für die Befragung begann, wurde in Bonn zugeschlagen: Am 24. April 1951 wurde sie durch die Bundesregierung mit der verlogenen Begründung, sie stelle einen „Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung des Bundes dar“, verboten. Damit konnte freilich nicht verhindert werden, dass sich bis zum 16. März 1952 rund 9 Millionen Bürgerinnen und Bürger der BRD gegen die Remilitarisierung aussprachen. Bei deren Verfechtern herrschte somit höchste Alarmstufe – nicht nur wegen dieser großen Zahl, sondern auch, weil die DDR mit gutem Beispiel voranging: Dort hatte nämlich bereits am 3. Juni 1951 eine Volksbefragung gegen die Remilitarisierung stattgefunden, und zwar ganz offiziell und mit Beteiligung der höchsten Repräsentanten des Staates. Die in Bonn herrschende große Besorgnis war angesichts der Ausstrahlungskraft dieser Befragung und ihres überwältigenden Ergebnisses längst der Furcht vor dem Willen der eigenen Bevölkerung gewichen und so wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um eine solche Volksbefragung in der BRD auf Biegen und Brechen zu verhindern. Dort, wo man immer so tat und auch heute weiterhin so tut, als habe man die Demokratie gepachtet, war Volkes Meinung nicht gefragt, sie sollte im Gegenteil mundtot gemacht werden, wenn sie den Interessen der Herrschenden gar zu gefährlich wurde.

So wurde also die Jugendkarawane gewissermaßen über Nacht verboten, so dass die bereits angereisten Teilnehmer in dem guten Glauben auf die Straße gingen, dass die angemeldete Kundgebung wie geplant stattfinden würde. Hier kam die ganze Hinterhältigkeit regierungsamtlichen Handelns zum Ausdruck, konnte doch so diese Aktion und damit letztlich die gesamte Friedensbewegung illegalisiert und kriminalisiert werden. Bundesinnenminister Lehr hatte auch bewusst keinen triftigen Grund für das Verbot genannt, die nachgereichte Behauptung, es seien wegen weiterer Veranstaltungen nicht genügend Polizisten zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit vorhanden, war so vorgeschoben wie verlogen. Am 11. Mai sahen sich nämlich die Teilnehmer der Jugendkarawane, die mehrere kleinere Kundgebungen im Stadtgebiet organisierten, massiven Polizeiaufgeboten gegenüber, die mit großer Brutalität vorgingen, um die Versammelten zu vertreiben. Vor der Gruga-Halle geriet die Lage schließlich außer Kontrolle, was ganz offensichtlich auch so gewollt war, um staatlicherseits ein nachhaltiges Exempel statuieren und die Friedensbewegung durch inszenierte Zwischenfälle und Krawalle kriminalisieren zu können. Unmittelbar nach der über Polizeilautsprecher ergangenen Verbotsverkündung und der Aufforderung, die Friedenskundgebung abzubrechen, trat die durch ihre maßlose Brutalität berüchtigt werden sollende Einsatzgruppe Wolter in Aktion. Mit Polizeihunden wurde eine regelrechte Hetzjagd auf die Demonstranten veranstaltet. Sodann befahl Kommissar Knobloch, rücksichtslos in die Menge zu schießen, wobei Philipp Müller in den Rücken getroffen, also von hinten erschossen wurde. Er hatte dem polizeilichen Todesschützen folglich nicht einmal Auge in Auge gegenübergestanden! Der Polizeiterror traf zudem nicht nur die Demonstranten, sondern ebenso unbeteiligte Augenzeugen, die gegen das brutale Vorgehen der Uniformierten protestierten. Auch von ihnen wurden viele zusammengeschlagen oder gar verhaftet. Dem Aufruhr, den die polizeilichen Todesschüsse hervorriefen, versuchten Politiker und Polizeiführung mit der Behauptung zu begegnen, aus den Reihen der Demonstranten sei geschossen und Steine geworfen worden. Beweise dafür blieben sie selbstredend schuldig, mehr noch, die in Szene gesetzte Propaganda-Offensive scheiterte angesichts der Berichte zahlreicher Augenzeugen und des Bekanntwerdens der Tatsache, dass der Schießbefehl von Bundesinnenminister Lehr ausgegangen war, kläglich. Dennoch blieben von den zahlreichen Festgenommenen insgesamt 11 in Haft, die am 20. Oktober 1952 von der Ersten Großen Strafkammer des Düsseldorfer Landgerichts wegen angeblichen „Landfriedensbruchs“, „Aufruhrs“ sowie weiterer in „verfassungsverräterischer Absicht“ begangener „Straftaten“ zu insgesamt sechs Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt wurden, wobei das Gericht Einzelstrafen von bis zu zwei Jahren verhängte. Fast überflüssig ist da der Hinweis darauf, dass weder dem polizeilichen Todesschützen noch den für den Schießbefehl Verantwortlichen auch nur irgendein Haar gekrümmt wurde. Das Dortmunder Landgericht erteilte ihrem Vorgehen am gleichen Tage mit der Behauptung, es habe sich seitens der Polizei um „Notwehr“ gehandelt, den juristischen Persilschein, die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wurde rundweg abgelehnt. Ministerpräsident Arnold deckte die Täter mit der Behauptung „Da der Widerstand durch den Gebrauch des Polizeischlagstocks nicht gebrochen werden konnte […] musste von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden. Vor dem Schusswaffengebrauch wurde die Menge dreimal aufgefordert, das Werfen einzustellen.“ Sodann wurde alles getan, um die Aufklärung der Vorgänge samt Ermittlung und Verurteilung der Täter zu verhindern: Die Forderung der KPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag nach Einsetzung eines Untersuchungsausschusses wurde einen Tag nach dem Polizeiterror ebenso abgeblockt wie die des KPD-Abgeordneten im Bundestag, Heinz Renner, am 14. Mai 1952, der daraufhin kurzerhand für 20 Tage von den Sitzungen ausgeschlossen wurde. Die Wahrheit durfte die Öffentlichkeit nicht erfahren.

Es mag Zufall sein, dass dem Persilschein für den polizeilichen Todesschützen von Essen und die Verantwortlichen für den Schießbefehl 24 Jahre später am gleichen Ort ein Vorgang ähnlicher Art folgen sollte: Am 3. Dezember 1976 erteilte das Essener Landgericht dem Mörder der DDR-Grenzsoldaten Klaus-Peter Seidel und Jürgen Lange, dem mehrfach vorbestraften Kriminellen und Fahnenflüchtigen Werner Weinhold, unter dem frenetischen Beifall der ihm Blumensträuße überreichenden und ihm die Hände schüttelnden antikommunistisch verhetzten Zuhörer nicht nur juristische Absolution, sondern billigte ihm auch 15.000 D-Mark Haftentschädigung zu. Wie im Falle Philipp Müller und der beiden schwerverletzten Demonstranten Bernhard Schwarz und Albert Bretthauer wurde auch hier versucht, die Opfer zu Tätern zu machen. Kein Zufall ist dabei allerdings die Tatsache, dass in beiden Fällen in einer von militantem und hysterischem Antikommunismus vergifteten Atmosphäre „Recht“ gesprochen wurde und solange diese „Grundtorheit unserer Epoche“ (Thomas Mann) Staatsdoktrin ist, kann auch nichts anderes erwartet werden, vor allem keine Gerechtigkeit.

Bezeichnend für die Eiseskälte der Behörden war die Tatsache, dass die Angehörigen gar nicht offiziell über den durch Polizeikugeln verursachten Tod Philipp Müllers unterrichtet wurden. Die Strafanzeige der Mutter wurde mit der Behauptung, die Polizei habe „in Notwehr“ gehandelt, brüsk zurückgewiesen. Dennoch konnte nicht verhindert werden, dass sich die Nachricht über die Ereignisse dieses Essener Blutsonntags wie ein Lauffeuer in der ganzen BRD verbreitete und sich die Beisetzung Philipp Müllers zu einem machtvollen Protest der 3.000 Teilnehmer nicht nur gegen den Polizeiterror, sondern auch gegen Wiederaufrüstung und Remilitarisierung gestaltete. Zudem wurde über zahlreiche Proteststreiks von Betriebsbelegschaften berichtet. Während in der BRD staatlicherseits alles unternommen wurde, um den Essener Blutsonntag dem Vergessen preiszugeben, wurde Philipp Müller in der DDR als Opfer jener auf Remilitarisierung und Wiederaufrüstung gerichteten Politik mit der Benennung von Straßen, Plätzen und öffentlichen Einrichtungen geehrt. In der damaligen, vom Kalten Krieg und auf beiden Seiten auch sehr gefühlsmäßigen sowie von rüden politischen Auseinandersetzungen geprägten Atmosphäre war manches Gedenken freilich nicht frei von Übertreibungen sowie politisch falschen Einschätzungen und Zielstellungen, die dann von der bundesdeutschen Propaganda weidlich ausgeschlachtet wurden. So wurde Philipp Müller nicht nur zum Nationalhelden erklärt, die FDJ stiftete auch eine Philipp-Müller-Medaille, die einmalig für besondere Leistungen bei der Vorbereitung und Durchführung der Volkswahlen vom 17. Oktober 1954 verliehen wurde. Erich Honecker bekundete als Vorsitzender der FDJ am 16. Mai 1952: „Aus den Mauern unserer Hauptstadt erheben wir in dieser Stunde mit loderndem Hass und unsagbarer Empörung im Herzen flammenden Protest gegen den Blut-Terror der Lehr-Soldateska in Essen. Im Namen von Millionen jungen Deutschen, geloben wir auf diesem Platz, dass die deutsche Jugend nicht eher rasten und ruhen wird, bis der Mord an Philipp Müller durch den Sturz der verräterischen Adenauer-Clique gesühnt ist.“ Dennoch bleiben die Ereignisse von Essen wie auch die gesamte auf Remilitarisierung und Wiederaufrüstung gerichtete Politik der Regierung Adenauer eine so schwarze Seite in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass bis heute über die wahren Vorgänge geschwiegen, Westintegration, Schaffung der Bundeswehr und NATO-Beitritt dagegen mit allen und zum Teil völlig abwegigen Argumenten gerechtfertigt sowie die Ehrungen für Philipp Müller mit zahlreichen Diffamierungen bedacht werden. So behauptete noch 50 Jahre nach der Bluttat eine Sendung von „DeutschlandRadio Berlin“: „Der Tod Philipp Müllers - er wird nie restlos aufgeklärt. Die Staatsanwaltschaft in Essen lehnt es ab, ein Verfahren einzuleiten. Doch ob Mord oder Notwehr - die SED-Führung hat das nie wirklich interessiert. Philipp Müller war zu wertvoll, um ihn nicht als Propaganda-Waffe zu benutzen gegen den Westen und für die Zwecke der SED.“ Statt kritischer Auseinandersetzung mit den schwarzen Seiten der eigenen Geschichte wird es sich einfach gemacht und nicht nur alles als eine Art billiger „SED-Propaganda“ hingestellt, sondern der UdSSR und ihren Verbündeten mit der Behauptung von einer „kommunistischen Bedrohung“ die Schuld für die Remilitarisierungspolitik in die Schuhe zu schieben versucht. Angesichts des auch in der DDR im Herbst des Jahres 1989 wieder fröhlich Urständ gefeiert habenden Antikommunismus ist es kein Wunder, dass hier ab 1990 mit besonderem Eifer vorgegangen wurde, um die Erinnerung auszulöschen. In einer Reihe von Orten wurde der Name des von der Polizei Getöteten getilgt, wobei die Stadt Halle den traurigen Ruhm für sich beanspruchen kann, dies wenige Wochen vor dem 60. Jahrestag des Essener Blutsonntags getan zu haben: Auf Antrag ausgerechnet der SPD beschloss der Stadtrat mit den Stimmen der CDU und gegen den Willen von DIE LINKE, MitBürger und FDP die Abschaffung der Philipp-Müller-Straße und die Benennung in „Willy-Brandt-Straße“. Dabei betrafen die Gegenstimmen aus der FDP lediglich den von der SPD gewollten Namen, denn wie sie zu Philipp Müller als Opfer der Adenauerschen Wiederaufrüstungspolitik steht, machte ihr Abgeordneter Gerry Kley mit der so verlogenen wie pietätlosen Behauptung deutlich, „Müller sei ein Mann gewesen, der die Versammlung zum Angriff auf Polizisten genutzt habe. Der Stadt stehe es gut, diesen Namen aus dem Adressverzeichnis zu nehmen.

Dennoch gelingt es nicht, diese Zeit zu verdrängen: Am 11. Mai 2002 fand aus Anlass des 50. Jahrestages der Todesschüsse von Essen ein von der Initiative zur Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges organisiertes Philipp-Müller-Friedenstreffen statt. In Dresden trägt ein kleineres Stadion seinen Namen und am Gebäude des ehemaligen Jugendklubhauses in Brandenburg an der Havel konnte sein Name bislang nicht ausgelöscht werden. Aus seiner Heimatstadt München sind Bestrebungen bekannt, eine Straße nach Philipp Müller zu benennen. Am 11. Mai 2012 werden an der Rüttenscheider Brücke in Essen, dem Ort des damaligen Geschehens, ab 17.30 Uhr eine Kranzniederlegung und am Abend ein von einem breiten Jugendbündnis organisiertes Gedenkkonzert stattfinden. Für den folgenden Tag ist die Brücke ab 11.00 Uhr Treffpunkt zur Demonstration in die Innenstadt, die mit einer Kundgebung auf dem Burgplatz ihren Abschluss finden wird. Philipp Müllers Tod wie die brutale Unterdrückung der damaligen Bewegung gegen Wiederaufrüstung und Remilitarisierung sind angesichts der ungeachtet der Katastrophen von 1918 und 1945 durchgesetzten neuerlichen Kriegsbeteiligung eines deutschen Staates Mahnung und Verpflichtung, mit Nachdruck für die Beendigung dieser Kriegseinsätze, für eine Entmilitarisierung der Gesellschaft und die friedliche Lösung von Streitfragen sowie für die längst überfällige Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges einzutreten.


Hans-Joachim Weise

 

Quellen:


anjé, Hans: „Es geschah in Essen“, in: „Neues Deutschland“ vom 11./12.05.2002

„Halle bekommt eine Willy-Brandt-Straße“, in: „halleforum“ vom 24. April 2012

Heckmann, Dirk-Oliver: „Vor 50 Jahren (1952): In Essen wird der Demonstrant Philipp Müller von der Polizei erschossen“, in: „DeutschlandRadio Berlin“, 11. Mai 2002

Kraushaar, Wolfgang: „50 Jahre: Bundeswehr statt Frieden – Protest gegen die Wiederbewaffnung“, in: „Friedensforum“ 6/2005

Schröder, Jürgen: „Die Erschießung von Philipp Müller am 11. Mai 1952“, in: „Materialien zur Analyse von Opposition“, Berlin, Mai 2009

Reichel, Hubert: „Ein Schießbefehl aus Bonn“, in: „Ossietzky“, Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft, Ausgabe 8/2002

Scholz, Luise: Leserbrief zur Philipp-Müller-Ehrung 2012, in: „Neues Deutschland“, 3. Mai 2012

Wego, Maria: „11. Mai 1952 - Der Tod des Demonstranten Philipp Müller bei der Bundesjugendkarawane in Essen“, in: „NRW 2000 – Das Land Nordrhein-Westfalen 1945 - 2000“