Affentanz mit der Verwaltung

Zur Sache

80 Prozent aller Gehörlosen können nicht richtig lesen und schreiben. Der Grund: Inklusion in der Schule steht oft nur auf dem Papier. UNZ erfuhr in der Gemeinschaftsschule am Roten Berg in Erfurt, wie die Verwaltungen das tolle Engagement von Pädagog*innen behindern – zu Lasten von allen Kindern.

Wer regelmäßig UNZ liest, hört sicher nicht zum ersten Mal den Namen Falko Stolp, Schulleiter der Gemeinschaftsschule am Roten Berg in Erfurt. Der Stadtteil im Norden der Landeshauptstadt hat nicht  den allerbesten Ruf. Aber das, was hier in den letzten fünf Jahren entstanden ist, gibt es so sonst nirgends! 

 

Vom alten Pennäler-Reim : „Wenn  alles schläft und einer spricht, so nennt man dieses Unterricht“, kann hier keine Rede sein. Vor dem Pressegespräch über Inklusion lassen Schüler*innen Ballons mit Friedenssymbolen und Postkarten in den Himmel steigen. Der Schulhof ist bunt geschmückt und mit Friedensbotschaften aus Kreide verziert. John Lennons „give peace a chance“ erklingt. Dazwischen springt auch noch der quirlige Rüdiger Bender  herum, der einen Workshop über Frieden abhält. Vielfalt, Frieden, Inklusion ist auch Falko Stolps Leitfaden. Das setzt er um, selbst, wenn nicht alle Lehrer*innen und die Verwaltung sofort laut Hurra rufen. 

In seinem Büro teilt Falko Stolp bunte Arbeitshefte aus und fordert, die Augen zu schließen. „Aufgabe: Was hat Kapitän Blaubär in dem Heft richtig oder falsch gemacht, ihr habt drei Minuten Zeit.“ Ein sehr anschaulicher Einstieg in das Mega-Thema Inklusion, denn viele sind sich der Probleme nicht bewusst. 

Geht es nach der UN-Behindertenrechtskonvention, die auch Thüringen umsetzen will und muss, sollten eigentlich viel mehr Kinder, am besten alle, in eine Gemeinschaftsschule, statt in ein Förderzentrum gehen. 

Aber trotz eines rot-rot-grünen Maßnahmenplans zur Umsetzung der UN-Konvention, scheint es nur dann ernsthaft voran zu gehen, wenn sich die Lehrkräfte persönlich dafür einsetzen.

Diese Kinder passten weder in das System Förderzentrum, noch in das System Schule“,

„Vor vier Jahren wurden erstmals Kinder mit einer Hörschädigung bei uns aufgenommen. Losgetreten wurde das von einer Elterninitiative“, berichtet Cornelia Förster. Weil es am Roten Berg eine Frühförderstelle für hörgeschädigte Kinder gibt, wurde schon vor der Einschulung erkannt, wie unterschiedlich diese Kinder sind. Manche hören gar nichts, andere ein bisschen, bei den nächsten sind Eltern gehörlos, aber nicht die Kinder und vice versa. Das Problem: „Diese Kinder passten weder in das System Förderzentrum, noch in das System Schule“, sagt Cornelia Förster.

 So entstand die Idee des bilingualen Unterrichts. Das heißt: es gibt den Unterricht auf Deutsch und in Gebärdensprache. In Hamburg und Dresden bestehen zwar ähnliche Projekte, aber nur in Erfurt wird das von zwei Personen gemacht. Cornelia Förster ist ausgebildete Grundschullehrerin und hat das deutschlandweit einzigartige Konzept mit zwei Kolleginnen zusammen entwickelt. Weiteres fortschrittliches Element: jahrgangsübergreifender Unterricht.

Kein reines dolmetschen, wie bei der Tagesschau

Die Anforderungen an die Lehrer*innen sind allerdings hoch: Kein reines dolmetschen, wie bei der Tagesschau auf Phoenix – es muss dem Unterrichtsinhalt angepasst werden. Aber Förster und Stolp sind sich einig: „Diese Kinder haben genauso ein Recht auf Bildung wie alle anderen!  Die DGS, die Deutsche Gebärdensprache hat außerdem weitere Vorteile: Es gibt keine Artikel, keine Fälle. So können sogar Kinder, die nicht gut Deutsch können, sich mit anderen über die Gebärdensprache verständigen. Für Stolp nur eines von vielen Beispielen, dass Inklusion immer für alle gut ist. 

Abschirmung in Förderzentren

Warum kopieren dann nicht massenhaft Schulen das Modell vom Roten Berg? Zumal Stolp weiß, dass Kinder in den Förderzentren „auf das Leben vorbereitet werden“, aber sonst nicht viel lernen. Besonders schlimm: 80 Prozent der Gehörlosen bleiben durch die Abschirmung in Förderzentren Analphabeten. 

Das Haus das Verrückte macht

Schulträger, Schulamt, Ministerium und Förderzentren.  Wenn Falko Stolp sich über die Bürokratie echauffiert, fühlt man sich an „Asterix erobert Rom“ erinnert, als der Gallier im „Haus das Verrückte macht“ den Passierschein A 38 beantragen sollte. 

"Die legen uns Steine in den Weg"

„In den Institutionen gibt es Leute, die finden unser Projekt toll, aber auch welche, die sehen das ganz anders und die legen uns Steine in den Weg“, kritisiert Stolp. Selbst bei einfachsten Sachen hakt es. Beispiel: Schallschutzdecken. Für Kinder mit Resthörfähigkeit wichtig, die sonst von vielen Nebengeräuschen gestört würden. Aber auch Schallschutz ist  generell und für alle gut. Doch die für Schulbau zuständige Stadt Erfurt will das Geld lieber sparen.

Es wird verhindert, das gehörlose Schulanfänger kommen dürfen.

Stundenlang könnten Förster und Stolp Absurditäten aus der Verwaltung aufzählen. Da werden Sonderpädagogen ohne Rücksprache in Förderzentren eingesetzt. Es wird verhindert, das gehörlose Schulanfänger kommen dürfen. Und das obwohl Förster alle genau unter die Lupe nimmt, um zu entscheidenden. „Bis jetzt haben alle Kinder den Bildungslehrgang sehr gut geschafft“, so ihre Erfolgsbilanz. 

Jedes Jahr gibt es Hickhack, ob Schüler aufgenommen werden

Zur „Belohnung“ dieser Erfolge werden Förster und Stolp neuerdings nicht mehr in ein Beratungsgremium von Schulamt, Schulträger und Förderzentrum eingeladen, wo über die Zukunft der Kinder mit hohem Förderungsbedarf entschieden wird. „Jedes Jahr gibt es Hickhack, ob Schüler aufgenommen werden. Dann beschwert sich der Schulträger. Ich muss dort antanzen und kriege auch noch Lügen vorgelegt. Das Ministerium hat dann aber der Stadt einen Brief mit dem Artikel aus der Schulordnung geschickt, um zu belegen, dass ich das Recht habe, die Schüler aufzunehmen. So ein unerträglicher Affentanz“, schimpft Falko Stolp. 

Ministerium will, Verwaltung bremst

Immerhin: Von der Spitze des Ministeriums und auch von der rot-rot-grünen Landesregierung ist die Inklusion sehr wohl gewollt. Aber auf der Arbeitsebene, ob Ministerium oder Schulamt, überall scheinen Leute zu sitzen, die offenbar die Inklusion eher sabotieren. Ohne engagierte Leute, die sich von der Tyrannei der Verwaltung nicht kleinkriegen lassen, geht es nur schleppend voran mit der Inklusion. Verdammt schade, dass Falko Stolp im August schon in Rente geht. Aber mit der jungen Cornelia Förster wachsen zum Glück wieder gute Leute nach.   

 

Thomas Holzmann