Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System

Der Außerordentliche Parteitag der SED/PDS im Dezember 1989 war in der Geschichte der SED ein einmaliges Ereignis. Erstmals hatte die Parteibasis gegen den Willen der Parteiführung einen Sonderparteitag erzwungen.

Von Mario Hesselbath

 

 

Ohne radikalen Bruch hatte die PDS keine Existenzgrundlage mehr

 

Der Außerordentliche Parteitag der SED/PDS im Dezember 1989 war in der Geschichte der SED ein einmaliges Ereignis. Erstmals hatte die Parteibasis gegen den Willen der Parteiführung einen Sonderparteitag erzwungen. Er war notwendig geworden, weil angesichts der existentiellen Krise, in der sich die DDR infolge der Politik der SED befand, ein demokratisch gewählter Parteitag zunächst über den weiteren Fortbestand der Partei selbst entscheiden musste. Das Hauptanliegen der Delegierten war dabei der Erhalt der DDR als Grundlage für einen erneuerten demokratischen Sozialismus. Hierfür wurde eine einflussreiche sozialistische Partei als eine entscheidende Voraussetzung angesehen. Vor allem deshalb erfolgte der Beschluss, die Partei nicht aufzulösen, sondern grundlegend zu erneuern. Den Beteiligten war dabei aber klar, dass es ohne einen radikalen Bruch mit der eigenen Vergangenheit keine Existenzgrundlage für eine erneuerte Partei geben würde. Deshalb markierte der Außerordentliche Parteitag auch den Beginn der Entstehungsgeschichte der PDS.

 

Schlüsselrolle Schumann-Referat 

 

Das von Michael Schumann gehaltene Referat „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als Sys-tem“ nahm in diesem Prozess eine Schlüsselstellung ein. Es sollte und musste den Delegierten des Außerordentlichen Parteitages eine akzeptable Erklärung der Ursachen der Krise sowie den zu ziehenden Konsequenzen geben. Der Referatstext war in einer Arbeitsgruppe erarbeitet worden. Sie musste eine große Zahl von verschiedenen Zuarbeiten zusammenfassen, die zum Teil weit auseinandergingen, weil sie aus unterschiedlichen Perspektiven die Ursachen der Krise analysierten. Günter Benser, selbst Mitglied dieser Arbeitsgruppe, hat kürzlich in der Historischen Kommission beim Parteivorstand der Partei DIE LINKE dargestellt, wie der Text in die Öffentlichkeit gelangte. Nachdem ein akzeptabler Entwurf vorlag, stellte sich die Frage, wer ihn den Delegierten vorträgt. Mehrere vorgeschlagene Mitglieder der Arbeitsgruppe lehnten aus einsehbaren Gründen ab. Dann kam der Name Michael Schumann ins Gespräch, der nun einbezogen wurde und der zum vorliegenden Text weitere eigene Akzente einbrachte. Schumann trug also den kollektiv erarbeiteten Text auf dem Parteitag vor. Er tat dies so eindringlich und überzeugend, dass er persönlich mit ihm identifiziert wurde. Denn er übernahm damit zugleich die Hauptlast bei der Erläuterung, Verteidigung und Anwendung der kritischen Analysen und Standpunkte des Referats, hierin liegt sein großer historischer Verdienst.

Das „Schumannreferat“ ist nur aus der konkreten Situation, in der es vor 25 Jahren entstand, wirklich zu verstehen. Hieraus resultieren seine Stärken und Schwächen, die zugleich auf eine Reihe von Problemen verweisen, die linke Geschichtsdebatten auch heute kennzeichnen.

 

Schonungslose innere Ursachen aufgezeigt

 

An keiner Stelle führte das „Schumannreferat“ die Krise der DDR auf das Wirken des „Klassengegners“ zurück, vielmehr benannte es schonungslos deren innere Ursachen. Hier wurde die Konsequenz dessen sichtbar, was „Bruch mit dem Stalinismus als System“ praktisch meint. Mit der in der Geschichte des Realsozialismus immer wieder zu beobachtenden Praxis, innere Probleme und Konflikte auf das Wirken von äußeren Feinden zurückzuführen und damit verbunden, nach dessen Agenten in den eigenen Reihen zu suchen, wurde hier konsequent gebrochen. Angesichts der Verweigerung von Glasnost und Peres-troika charakterisierte Schumann die Zeit nach 1985 als „Stalinismus in den Farben der DDR“ und verstand den Herbst 1989 als eine Bewegung zur Erneuerung des Sozialismus, die ihrem Wesen nach eine revolutionäre Bewegung war. „Die Politbürokraten verunglimpften den Aufbruch des Volkes als Konterrevolution und wollten ihn mit Gewalt unterdrücken. In Wirklichkeit waren sie in dieser Situation die Konterrevolutionäre (Beifall).“

Das „Schumannreferat“ beschränkte sich in seiner Ursachenanalyse jedoch nicht nur auf die jüngere Vergangenheit und die offenbar gewordenen Symptome des Machtmissbrauchs durch die SED-Führung unter Erich Honecker. Es versuchte zugleich, die strukturellen Vorbedingungen und historischen Ursachen herauszuarbeiten, die den Stalinismus als System ermöglicht hatten. Die dabei vorgenommene Gegenüberstellung bzw. Unterscheidung zwischen Lenin und Stalin ging jedoch an einem entscheidenden Punkt am Problem vorbei. Ohne das zentralistische Parteikonzept Lenins, in dem die innerparteiliche Demokratie zwar noch nicht vollständig beseitigt aber massiv eingeschränkt war, hätte Stalin seine unumschränkte Herrschaft über die bolschewistische Partei und den sowjetischen Staat niemals errichten können.

Die Kernaussage des Referats „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System“ bezog sich jedoch nicht nur auf die Rolle Stalins und seine persönlichen Verantwortung für die Massenrepressalien und den Terror in den 30er und 40er Jahren. Sie bezog sich vor allem auf die Herausbildung eines diktatorischen Systems, das von vielen Kommunisten nicht nur akzeptiert, sondern aktiv getragen worden war. In der Abkehr hiervon löste sich das Referat grundsätzlich von der stalinistischen Interpretation der Machtfrage und benannte die hieraus resultierenden Konsequenzen für die kritische und selbstkritische Bewertung der Geschichte von KPD und SED. Bolschewisierung und Stalinisierung, die Negierung der Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie, die Sozialfaschismusthese und vieles mehr. Hierzu gehörte auch die Benennung der Repressalien, die es in der DDR gegeben hatte. Allerdings standen dabei zunächst weitgehend die „eigenen Opfer“ im Blickfeld, alle weiteren Opfer von DDR-Unrecht blieben im „Schumannreferat“ weitgehend außen vor.

 

Schumann-Analyse nicht nur auf die DDR beziehen

 

Dennoch: Die Radikalität, mit der das „Schumannreferat“ den „Stalinismus als System“ analysierte und kritisierte, wurde von den nachfolgenden Debatten innerhalb der PDS und DIE LINKE kaum noch erreicht. In deren Mittelpunkt standen und stehen vielmehr die Verteidigung des „antistalinistischen Gründungskonsenses der PDS“ gegen jene Abwehrhaltungen, die den Stalinismusbegriff entweder als nicht definiert kritisieren oder als Kampfbegriff gegen DIE LINKE insbesondere im Westen ablehnen. Zwar hatte sich Schumanns kritische Analyse hauptsächlich auf die DDR und die SED bezogen. Die aufgeworfenen Fragen zu Grundproblemen linker und sozialistischer Politik lassen sich jedoch nicht auf die DDR-Geschichte und/oder die ehemalige PDS reduzieren. Sie bleiben und sind für linke Politik insgesamt aktuell.

Wenn im Rahmen der diesbezüglichen Diskussion mit dem „Schumannreferat“ auch darauf verwiesen wurde und wird, dass sich die Geschichte des Sozialismus/Kommunismus nicht auf den Stalinismus reduzieren lässt, so ist sein Inhalt der beste Beleg dafür, dass es ohne eine konsequente Kritik und Abkehr vom Stalinismus keine sozialistische Perspektive gibt. Insofern müssen in der linken Vergangenheitsdiskussion auch jene grundsätzlichen Aspekte wieder stärker zum Tragen kommen, die der Thüringer PDS Landesvorstand bereits 1993 formuliert hatte. In seinen Thesen zur damaligen Stalinismusdebatte in der PDS hielt er es für unumgänglich, jene Praktiken und Handlungen zu benennen, zu kritisieren und sich ein für alle mal von ihnen zu verabschieden, die den Stalinismus wesentlich gekennzeichnet hatten: Die Unterordnung und Unterwerfung von Menschen und Bewegungen unter „die Sache“, der Anspruch der Partei und ihrer Führung, das Monopol der ewigen Wahrheit zu besitzen und deshalb für die Klasse oder gar das ganze Volk allein sprechen zu dürfen, das Ersetzen politischer Debatte und Entscheidung durch Diktat und Kommando, die moralische, politische oder gar physische Vernichtung Andersdenkender sowie das Außerkraftsetzen der allgemein anerkannten Regeln menschlichen Zusammenlebens und demokratischer Kultur. Der Marx`sche kategorische Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, muss uneingeschränkt und in erster Linie unten denen gelten, die sich diesem Ziel verpflichtet fühlen.