Vor 70 Jahren – Absprung in den Tod

Im Mai 1941 landeten deutsche Fallschirmjäger auf Kreta. Die erste Luftlandeoperation der Kriegsgeschichte zerstörte die Idylle der Mittelmeerinsel. Fortan regierten auch hier die faschistische SS und Wehrmacht.

Mercurius, eingedeutscht Merkur, war in der griechisch-römischen Mythologie der einen geflügelten Helm tragende Götterbote, zudem in einer Art Personalunion der Gott der Händler und der Diebe. Das mag widersprüchlich erscheinen, ist es aber bei genauerem Hinsehen nicht unbedingt, denn es gibt zumindest eine Art von Händlern, die sowohl Lieferanten als auch Kunden übers Ohr hauen, folglich wenigstens einen Anteil Geldes für nicht erbrachte Leistung kassieren, was einem Diebstahl durchaus gleichkommt. Umgekehrt gibt es Diebe, die nicht nur für den persönlichen Gebrauch fremdes Eigentum stehlen, sondern, um beim Verkauf des zum Nulltarif „Erworbenen“ das große Geschäft zu machen.


Als in dieser Tradition stehend kann man durchaus auch die „Götterboten“, vor allem aber deren Auftraggeber, ansehen, die an jenem unheilvollen 20. Mai 1941 über der griechischen Mittelmeerinsel Kreta vom azurblauen Himmel fielen, unter anderem, um ihnen nicht gehörendes Land zu stehlen und dessen Schätze zugunsten deutscher Großkonzerne zu verhökern: Insgesamt 22.000 Mann wurden unter dem Befehl von Generaloberst Alexander Löhr1 aufgeboten, um das 260 km lange und durchschnittlich 25 bis 30 km breite Eiland zu erobern, nachdem das Festland bereits ab 26. April endgültig unter dem Joch deutsch-italienischer Besatzung stönte. Zum Einsatz kamen das VIII. und das XI. Fliegerkorps mit 280 Bombern, 150 Sturzkampfbombern, 180 Jagd- und 40 Aufklärungsflugzeugen sowie die 7. Fallschirm- und die 5. Gebirgsdivision mit Gesamtstärken von 15.000 bzw. 14.000 Mann. Für den Transport wurden 10 Fliegerstaffeln mit 493 Maschinen vom Typ Ju 52, 2 Dampferstaffeln mit 7 Frachtern und 2 Motorseglerstaffeln mit 63 Fahrzeugen benötigt. Dazu kam Unterstützung durch auf den Dodekanes-Inseln stationierte 16 Kampf- und 46 Jagdflugzeuge der italienischen Luftstreitkräfte sowie 2 Zerstörer und 12 Torpedoboote, zudem U-Boote, Schnellboote und Minensucher der italienischen Marine zur Sicherung der Seetransporte. Weshalb dieser Aufwand für jenes „Unternehmen Merkur“, zu dessen Vorbereitung Hitler am 21. April das Oberkommando der Luftwaffe (OKL) beauftragt hatte? Er galt in erster Linie den drei britischen Luftstützpunkten, durch die sich die Nazi-Führung in ihren Aufmarschplanungen gegen die UdSSR gestört sah: Die plötzliche Besetzung der Insel sollte der Vorherrschaft Albions im östlichen Mittelmeerraum einen empfindlichen Schlag versetzen, denn von Kreta waren Angriffe gegen das kriegswichtige rumänische Ölgebiet um Ploieşti sowie gegen die wichtigsten Zentren und Verkehrslinien im südosteuropäischen Raum möglich. Die Insel war Sprungbrett für Eroberungsfeldzüge in den Nahen Osten und Afrika, ihre Häfen bedeutende Marinestützpunkte.


Die Rechnung war freilich ohne den Wirt gemacht worden: Zunächst mussten die vorgesehenen drei Angriffswellen auf zwei eingeschränkt werden, weil die dafür benötigten Transportflugzeuge nicht ausreichten. Die General Bernard Freyberg2 unterstehenden 32.000 britischen und 10.000 griechischen Soldaten waren zwar schlecht bewaffnet, da sie kaum über Flak und Artillerie, die griechischen Truppen zudem nur über veraltete und deshalb für britische Munition ungeeignete Waffen verfügten. Ebenso konnten sie mit den wenigen leichten Panzern nicht allzu viel ausrichten. Luftunterstützung war nach dem Abzug der Maschinen der Königlich-Britischen Luftstreitkräfte (Royal Air Force) am 17. Mai allenfalls noch von Ägypten aus möglich. Doch General Freyberg hatte die wichtigsten Stellungen ausbauen und gut tarnen lassen, was von Görings Luftaufklärung nur zum Teil erkannt werden konnte. Zudem besaß der britische Nachrichtendienst Kenntnis von den Luftlandeplänen und die erste Welle von Hitlers unter dem Befehl von General der Flieger Kurt Student3 stehenden „Götterboten“ sprang zudem am frühen Morgen dieses 20. Mai ausgerechnet über den nicht erkannten Verteidigungsstellungen – dem Flugplatz Malemes, Chania und der Suda-Bucht – ab, wo ihnen mörderisches Abwehrfeuer entgegenschlug. So gingen viele dieser „Götterboten“ nur noch als Leichen oder bestenfalls mit erheblichen Verwundungen am Fallschirm nieder.

Auch mit dem Absprung der zweiten Welle über den Flugplätzen von Retimo und Heraklion am Nachmittag entspannte sich die Lage nicht. Von den 493 eingesetzten Ju 52 gingen 271 durch Abschuss, Absturz oder schwere Beschädigung verloren. Als britische Seestreitkräfte überdies den mit Waffen und Soldaten beladenen Motorkuttern der Kriegsmarine schwere Verluste zufügten, wurde „Merkur“ flügellahm – das Unternehmen geriet in eine ernste Krise. Bis zum 27. Mai war die Kriegsmarine nicht in der Lage, über See Verstärkung heranzubringen. Zudem waren Kampfkraft und Kampfeswillen der Verteidiger völlig unter- sowie die Haltung der einheimischen Bevölkerung gänzlich falsch eingeschätzt worden: Vorhandene Gegensätze zwischen Inselbewohnern und der Regierung in Athen hatten zu der Annahme geführt, die Invasoren würden freundlich begrüßt oder ihr Vordringen mindestens widerstandslos geduldet werden. Nun schlug ihnen unerwartete Gegenwehr durch von vielen Zivilisten unterstützte Miliz, Bürgerwehren und Gendarmerie entgegen.


Die Nazi-Führung konnte am Ende nur durch Inkaufnahme beträchtlicher Verluste das Blatt mit Mühe und Not wenden, zumal die am 28. Mai eilends herbeigeführte Landung italienischer Truppen im Osten der Insel den Ausgang der Kämpfe kaum noch entscheidend beeinflusste. Nunmehr in eine aussichtslose Lage geraten, begann am gleichen Tage die Evakuierung der britischen Truppen, wodurch 17.000 Mann dem Zugriff der Angreifer entzogen wurden, während 15.000 in Gefangenschaft gerieten sowie 3.500 Gefallene zu beklagen waren. Führung und Militärs des „Dritten Reiches“ hatten mit 1.915 Gefallenen, 1.759 Vermissten und 2.004 Verwundeten ein Drittel ihrer unheilbringenden „Götterboten“ verloren, „Unternehmen Merkur“ endete mit einem Pyrrhussieg. Dieser nicht mehr auszugleichende Aderlass an ausgebildeten Luftwaffensoldaten zwang das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) im weiteren Kriegsverlauf, auf großangelegte Luftlandeunternehmen zu verzichten. Die Goebbels-Propaganda freilich hinderte das alles nicht daran, die Besetzung der Insel als „großen Sieg“ zu feiern. Auch Göring lobte seine Luftwaffe in den höchsten Tönen und ließ umfangreiche Pressebeiträge mit schwülstigen Lobreden veröffentlichen, in denen er die so Verheizten mit der väterlich-wohlwollenden Phrase „Ihr, meine Fallschirmjäger“ ansprach.


Militärisch brachte die Besetzung Kretas keine Vorteile, weil vorhandene Kräfte und Technik zur Gewährleistung einer Vorherrschaft im östlichen Mittelmeerraum gar nicht in der Lage waren: Weder konnten die Luftstreitkräfte Bombenangriffe großen Ausmaßes auf Fernziele ausführen, noch besaß die Kriegsmarine geeignete größere Schiffe und die italienische Flotte war ohnehin bereits arg in Mitleidenschaft gezogen worden. So musste auch das geplante „Unternehmen Herkules“, mit dem Großbritannien die strategisch noch bedeutsamere Insel Malta entrissen werden sollte, ein Schubladenentwurf bleiben. Der Besitz Kretas stärkte zwar das kriegswirtschaftliche Potential des faschistischen Blocks und verbesserte die strategische Lage für den wegen der Überfälle auf Jugoslawien und Griechenland um vier Wochen verschobenen Angriff auf die UdSSR, doch Balkan- und östlicher Mittelmeerraum wurden dadurch keineswegs zu einem „sicheren Hinterland“ für die Aggressoren: Der Widerstandskampf der Bevölkerung band bis zu 50.000 Mann Besatzungstruppen, die auf Befehl von General Student mit beispielloser Grausamkeit dagegen vorgingen, einer Grausamkeit, die bislang nur in Polen und Jugoslawien an der Tagesordnung gewesen war. Dazu zählten wahllose Geiselnahmen und -erschießungen, das Niederbrennen ganzer Ortschaften, Kontributionen großen Umfangs sowie die Ausrottung der männlichen Bevölkerung in Ortschaften, die der Zusammenarbeit mit Partisanen verdächtigt wurden. Zum Teil geschahen diese Kriegsverbrechen bereits während der Kampfhandlungen, nachdem befohlen worden war, für jeden gefallenen deutschen Soldaten 10 Einwohner zu erschießen und Dörfer, in denen bewaffneter Widerstand geleistet wurde, sofort einzuäschern. Am 2. Juni wurde auf Befehl von Oberleutnant Horst Trebes4 in Kondomari eine unbekannte Anzahl willkürlich festgenommener männlicher Einwohner (Die Gedenktafel verzeichnet lediglich 23 Namen.) erschossen, das Verbrechen wurde vom Fotografen Peter Weixler, Angehöriger einer Propagandakompanie, dokumentiert.


Die Ortschaft Kandanos wurde völlig zerstört. Zur gnadenlosen Bekämpfung des Widerstandes hatte General Student nicht nur die sogenannte „Kollektivhaftung“ eingeführt, seine Besatzungsverwaltung arbeitete dabei auch eng mit dem Reichssicherheits-Hauptamt (RSHA) zusammen, das für Fahndungslisten und Standgerichtsurteile zuständig war. Beim von Major Friedmann von der 5. Gebirgsdivision befehligten „Sonderunternehmen Völkerbund“ wurden in der Zeit vom 1. bis zum 9. September nach Listen des RSHA 110 Männer verhaftet und erschossen, weitere 39 bei bewaffnetem Widerstand oder auf der Flucht getötet. Generalmajor Julius Ringel5 rechtfertigte solche Verbrechen in einem Bericht über eine am 5. Juni durchgeführte „Vergeltungsaktion“ wie folgt: „Ein zäher und verbissener Kampf, an dem sich sogar Kinder und Frauen beteiligen. Es wird schärfstens durchgegriffen. Nachdem die Gräueltaten der griechischen Bevölkerung und wahrscheinlich auch durch griech. Soldaten bekannt geworden waren, befahl die Div. für jeden deutschen Verwundeten oder Gefallenen 10 Kreter zu erschießen, Gehöfte und Dörfer, in denen deutsche Truppen beschossen werden, niederzubrennen, in allen Orten Geiseln sicherzustellen.“ Bereits in den ersten Monaten der bis zum 8. Mai 1945 andauern sollenden Besatzungsherrschaft fielen diesem Terror rund 2.000 Inselbewohner zum Opfer. Die BRD als selbsternannte Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches und NATO-Partnerin weigert sich bekanntermaßen bis heute, Urteile griechischer Gerichte anzuerkennen und wenigstens Entschädigungszahlungen zu leisten. Dass ein für die von ihm befohlenen Kriegsverbrechen billig davongekommener General wie Kurt Student ungehindert „Traditionsverbände“ der Nazi-Wehrmacht aufbauen konnte und auch in der Traditionspflege der Bundeswehr einen herausragenden Platz erhielt, jedenfalls so lange, bis es nicht mehr zu rechtfertigen war, ist nicht weniger beschämend.


1  1885 – 1947, u.a. Urheber der Planungen zur und Befehlshaber bei der Bombardierung der offenen Stadt Belgrad am 6. April 1941 (17.000 Tote), deshalb in Jugoslawien als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet

2  1889 – 1963, bis 1937 Brigadegenaral der britischen Streitkräfte, 1939 reaktiviert, seit Ende April 1941 alliierter Befehlshaber der Verteidigung von Kreta, von 1946 bis 1952 Generalgouverneur von Neuseeland

3  1890 – 1978, im Mai 1946 von einem britischen Militärgericht als Kriegsverbrecher zu fünf Jahren Haft verurteilt, doch 1947 entgegen dem Antrag Griechenlands nicht ausgeliefert, in der BRD einer der führenden Köpfe beim Aufbau von Traditionsverbänden der Nazi-Wehrmacht und bis 1998 von der Bundeswehr als „traditionswürdig“ eingestuft

4  1916 – 1944, Befehlshaber des III. Bataillons des Fallschirmjäger-Regiments 6, gefallen bei der alliierten Landung in der Normandie

5  1889 – 1967, Befehlshaber der 5. Gebirgsdivision, fanatischer Hitler-Anhänger österreichischer Herkunft, Träger des „Goldenen Parteiabzeichens“

Hans-Joachim Weise