Vor 40 Jahren: Studentensommer in Neunhofen

Studentensommer – diese Übergangszeit zwischen Studienjahresende und Ferienbeginn gibt es schon seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr, wiewohl heutzutage so manche und mancher Studierende froh ist, auf einem der Ferienjobs genannten raren Saisonarbeitsplätze noch etwas Geld hinzuverdienen zu können. Vor 40 Jahren war das gewohnte Normalität.

Studentensommer – diese Übergangszeit zwischen Studienjahresende und Ferienbeginn gibt es schon seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr, wiewohl heutzutage so manche und mancher Studierende froh ist, auf einem der Ferienjobs genannten raren Saisonarbeitsplätze noch etwas Geld hinzuverdienen zu können. Vor 40 Jahren war das gewohnte Normalität und so wurde damals im Gebäude der Oberschule Neunhofen ein Studentenlager eingerichtet, um Teilnehmer von der Ingenieurschule Hermsdorf und deren Partnerschule im tschechoslowakischen Karlovy Vary sowie aus der Sowjetunion unterbringen zu können. Arbeitsplatz für drei Wochen wurde die im Wald zwischen Quaschwitz und Knau befindliche Baustelle der Schweinemastanlage S 110, von der damals freilich nicht mehr als die bereits ausgehobenen Baugruben und die Baustelleneinrichtung vorhanden waren. An die Probleme, die jene Anlage nach ihrer Fertigstellung bereiten sollte und mit denen die ab 1990 betriebene Schließung begründet wurde, dachte zu jener Zeit freilich noch niemand, am allerwenigsten die Teilnehmer des Studentensommers. Da kaum jemand von ihnen aus der Landwirtschaft kam, gab es ohnehin keinerlei Vorstellung über den Betrieb einer solchen Einrichtung. Doch abgesehen davon sollte auch der Beginn des Studentenlagers nicht reibungslos vonstatten gehen, woran die Organisatoren nun freilich schuldlos waren: Die Studentengruppe aus Karlovy Vary wurde vereinbarungsgemäß in Hermsdorf erwartet, um die erste Nacht in der Partnerschule zu verbringen. Abendessen und Übernachtung waren vorbereitet, alle sahen der Ankunft erwartungsvoll entgegen – doch niemand kam. Erst spät in der Nacht zeigte sich des Rätsels Lösung in Gestalt eines Anrufs der Plauener Transportpolizei: Der Leiter der Gruppe, Prof. Plechaty, hatte nicht beachtet, dass der „Karlex“ auf dem oberen Bahnhof ankam, die Züge nach Gera jedoch auf dem von dort per Straßenbahn zu erreichenden unteren Bahnhof abfuhren. Als es ihm einfiel, war der letzte Zug längst weg. So sorgte die Transportpolizei für eine Übernachtungsmöglichkeit, weshalb Ankunft und Begrüßung am nächsten Morgen in Gera erfolgten, von wo es dann per Bus und Kleintransporter für das Gepäck nach Neunhofen ging. Eine der Studentinnen blieb besonders in Erinnerung – Waldtraud (Der Vorname wurde wirklich so geschrieben.) Ritter, in deren Ausweis freilich amtlich tschechisch „Ritterova“ und außerdem „Nationalität: deutsch“, „Staatsbürgerschaft: Tschechoslowakei“ stand. Obwohl viele recht gut Deutsch sprachen, war sie doch als Dolmetscherin wie auch als Vermittlerin bei der schnellen Klärung auftretender Fragen und Probleme unentbehrlich. Die drei sowjetischen Brigaden hatten mit dem strohblonden Karl Sabelfeldt gleichfalls einen solchen Vermittler in ihren Reihen und der meisterte nicht nur mit seinem von einem leicht russischen Akzent geprägten Deutsch Probleme in nahezu allen Lebenslagen: Mehr noch als beim täglichen Zusammensein während der Arbeit und in der Freizeit brachte der morgendliche Appell, der vor allem zur Information über Organisatorisches diente, gelegentliche Einblicke in unterschiedliche Ansichten und Verhaltensweisen in den Herkunftsländern. Als beispielsweise der Lagerleiter die Frauen bat, zur Entsorgung gebrauchter Hygieneartikel die bereitstehenden Abfallbehälter zu nutzen anstatt damit die Abflussrohre zu verstopfen, rief das bei den Brigaden aus DDR und ČSSR nur ein Lächeln hervor. Die sowjetische Dolmetscherin dagegen bekam einen roten Kopf und war vor Scham nicht in der Lage, die Bitte zu übersetzen. Also sprang Karl ein, dem das offenbar nichts ausmachte, und nun wären am liebsten an die zwei Dutzend Studentinnen vor Scham im Erdboden versunken – ein Beispiel für die noch weit verbreitete Prüderie im Lande.

Zur Baustelle ging es morgens per Bus und nach Feierabend auch wieder nach Neunhofen zurück. Einer der Fahrer erzählte von seiner einstigen bessarabischen Heimat, damals teils zur Moldauischen, teils zur Ukrainischen SSR gehörig. Die Unterhaltung in der von ihm noch gut beherrschten ukrainischen Sprache klappte allerdings nicht wie gedacht, da er nur teilweise verstanden wurde. Offenbar waren manche Unterschiede zur russischen Sprache doch recht groß. Bei der Arbeit, die vor allem im Ausschachten von Fundamentgräben in den Baugruben bestand, waren freilich kaum Unterschiede festzustellen. Alle gaben sich große Mühe, mancher sogar soviel, dass das Werkzeug zu Schaden kam. So schlug ein als etwas ungeschickt geltender tschechischer Student dermaßen mit der Spitzhacke zu, dass er innerhalb kurzer Zeit drei Stiele abbrach und seinen Spitznamen „Hackentod“ weg hatte. Bei der abendlichen Disko sorgte das dann für manche Witzelei und manchen Lacher. Der Diskjockey, ein Mitarbeiter der FDJ-Bezirksleitung Gera, war allgemein beliebt, pflegte allerdings eine recht seltsame Art der Vorbereitung auf seine erst gegen Mitternacht endende Tätigkeit: Spätestens ab 16.00 Uhr begann er mit der Begründung „Ich muss fit sein!“ Unmengen von Kaffee zu trinken und die nächste Zigarette an der gerade zu Ende gerauchten anzuzünden. Übrigens hatte sich das internationale Völkchen nach wenigen Tagen noch um einen polnischen Jugendlichen vergrößert, der hier eigentlich Urlaub machte. Als Cesar hörte, dass beim Studentensommer auch Geld zu verdienen war, fragte er, ob er nicht mitarbeiten könne, erhielt seinen Vertrag und war so bis zum Schluss dabei. Für eine mehr als Disko umfassende interessante und erlebnisreiche Freizeitgestaltung sorgte das für die Arbeiten verantwortliche Landbaukombinat Saalfeld – einmal wurde zu Abendessen und Tanz in das Kreiskulturhaus Pößneck, ein andermal nach Oppurg und dann zum Grillabend im neueröffneten Ritterstall von Burg Ranis eingeladen. Ein Wochenende galt dem Besuch der Ingenieurschule für Forstwirtschaft in Schwarzburg, wo sich jeder beim Tontaubenschießen ausprobieren konnte, bei dem die Studentinnen aus Karlovy Vary erstaunlicherweise die meisten Treffer erzielten. Dabei war diese Disziplin für sie ebenso neu und ungewohnt wie für alle anderen. Nach zwei Wochen fuhr die Gruppe aus dem Bäderdreieck nach Hermsdorf weiter, wo ein umfangreiches Ferienprogramm auf sie wartete. Einzig Prof. Plechaty machte sich wenig aus den Sehenswürdigkeiten von Weimar, Erfurt und Gera – so oft man ihn im Wohnheim der Ingenieurschule besuchte, war er mit dem Putzen und Trocknen der in den Arbeitspausen gesammelten Pilze beschäftigt, mit denen er seinen Bauhelm Tag für Tag und natürlich gleich bergeweise gefüllt hatte. Welch wichtigen Erkenntnisgewinn diese Wochen der Gemeinsamkeit brachten, lässt sich an den schlimmen Auseinandersetzungen in der heutigen Zeit ermessen: Unterschiede und auch Gegensätze zwischen Nationalitäten werden bei regelmäßigen, wenigstens aber häufigen Begegnungen im täglichen Leben, so wie hier bei Arbeit und Freizeit, zweitrangig, geraten zugunsten gegenseitigen Verstehens in den Hintergrund oder werden gar bedeutungslos. Freundschaft statt Feindschaft – nur so ist ein friedliches und gedeihliches Neben- und Miteinander möglich.

 

H.-J. Weise