Pößneck vor 90 Jahren: Kampf um den Acht-Stunden-Tag

Der Acht-Stunden-Tag – war er denn nicht längst Wirklichkeit geworden, durch die Novemberrevolution von 1918 endlich erkämpft, nachdem zuvor Arbeitstage von zwölf, vierzehn oder gar sechzehn Stunden üblich gewesen waren? In Thüringen galt das zur Weimarer Zeit nur bedingt.

Der Acht-Stunden-Tag – war er denn nicht längst Wirklichkeit geworden, durch die Novemberrevolution von 1918 endlich erkämpft, nachdem zuvor Arbeitstage von zwölf, vierzehn oder gar sechzehn Stunden üblich gewesen waren? War nicht schon das fünfte Jahr in Folge Schluss mit den trotz langer Arbeitszeit vergleichsweise niedrigen Verdiensten, der durch langandauernde schwere und schwerste körperliche Arbeit bedingten raschen Zerrüttung der Gesundheit, gab es nicht endlich auch mehr Zeit für Familie und Erholung? Im Prinzip ja, lässt sich auf solche Frage antworten, war doch gemäß Übereinkunft zwischen Rat der Volksbeauftragten, SPD, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden vom 15. November 1918 der Acht-Stunden-Tag zunächst für alle Unternehmen der Schwer- und Rüstungsindustrie eingeführt worden. Am 23. November hatte das „Reichsamt für die wirtschaftliche Demobilmachung“ die den Acht-Stunden-Tag einführende „Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter“ erlassen. So weit, so gut, doch war der Acht-Stunden-Tag seitens der Unternehmerverbände keineswegs als dauerhafter Zustand gedacht gewesen. Bei passender Gelegenheit suchten sie dieses durch die Revolution erzwungene Zugeständnis wieder rückgängig zu machen und gut fünf Jahre nach jenem 9. November sahen sie ihre Stunde gekommen: Bereits die Reichstagswahl vom 6. Juni 1920 hatte einige günstige Voraussetzungen zur Wiederherstellung alter, menschenunwürdiger und unsozialer Zustände geschaffen. Die Koalition aus SPD, DDP und Zentrum war auf Grund des mit einem Verlust von 16,2 % (61 Reichstagssitze) verheerenden Einbruchs der Sozialdemokratie gescheitert und hatte einer Regierung aus großbürgerlicher Deutscher Volkspartei (DVP), liberaler Deutscher Demokratischer Partei (DDP) und katholischer Zentrumspartei Platz machen müssen. Die Inflation hatte 1923 die arbeitenden Menschen in Armut, Not und Verzweiflung getrieben, was die Hoffnung auf den weitgehenden Verlust ihres Widerstandswillens und ihrer Widerstandskraft nährte. Neue Ansätze zu mit Parolen wie „Die Sozialisierung marschiert!“ längst versprochenen, jedoch immer noch ausstehenden gesellschaftlichen Veränderungen waren im Auftrage des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert mit dem Reichsexekution genannten Sturz der als Arbeiterregierungen bezeichneten Koalitionen aus SPD und KPD in Sachsen (Ministerpräsident Erich Zeigner) und Thüringen (Ministerpräsident August Frölich) mittels militärischer Gewalt niedergeschlagen worden. Die Führung der SPD betrieb ungeachtet des Absturzes von 1920 auch weiterhin eine auf die Verständigung mit den Eignern der großen Industrie-, Finanz- und Agrarkapitalien zielende Politik der Anpassung und des Zurückweichens, wodurch sie wiederum ihre Stellung und ihren Einfluss schwächte. Unter diesen Umständen gelang den Unternehmerverbänden mit der am 21. Dezember 1923 erlassenen Arbeitszeitverordnung ein wichtiger Teilerfolg, da diese neben dem Acht- auch einen Zehn-Stunden-Tag gestattete. So konnte der Versuch gewagt werden, weshalb nun die Textilunternehmer in Pößneck und darüber hinaus die Unternehmer in weiteren Branchen der Ostthüringer Industrie gleichfalls mit aller Entschlossenheit an die Beseitigung des Acht-Stunden-Tags gingen: Für den 7. April 1924 verfügten sie die Verlängerung der Arbeitswoche auf 53 Stunden und setzten den Arbeitsbeginn auf 7.00 Uhr fest. Damit sollte bei gleichem Lohn an fünf Tagen in der Woche jeweils eine Stunde mehr gearbeitet werden. Die völlig überraschten Belegschaften standen vor der Aufgabe, schnell darüber entscheiden zu müssen, ob sie sich dieser Unternehmerwillkür beugen oder mit Kampfmaßnahmen dagegen zur Wehr setzen sollten. Wenn auch eine allgemeine Einigung zunächst nicht erzielt werden konnte, so mussten die Unternehmensleitungen dennoch sehen, dass sie auf erheblichen Widerstand stießen. Zwar wurde in einigen Betrieben die Arbeit um 7.00 Uhr aufgenommen, in der Mehrzahl der Unternehmen jedoch drehte sich um diese Zeit noch lange kein Rad. Hier musste wie schon beim Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 1920 die Kraft der alten Weisheit „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will!“ erfahren werden. Die Belegschaften waren wohl zum festgesetzten Zeitpunkt erschienen, blieben aber vor den Werktoren, wo sie ihrer Empörung Luft machten und heftig diskutierten. Der Staat, also die Weimarer Republik, stand wie so oft auf Seiten der Unternehmer und versuchte deren Anordnungen mit Gewalt durchzusetzen: Umgehend wurden zwei mit Polizisten besetzte Lastkraftwagen nach Pößneck beordert, um in der Textilindustrie „wieder Ruhe und Ordnung herzustellen“ wie es im Amtsdeutsch hieß. Insgesamt vierzig Angehörige der Thüringer Landespolizeigruppe Gera wurden aufgeboten, um die Ängste und Befürchtungen der Unternehmer notfalls auch mit Gewalt zu zerstreuen. Die Zugänge zu den Fabriken und ebenso die zu diesen führenden Straßen wurden abgesperrt, um Kampfmaßnahmen der Textilarbeiter zu verhindern. Eine nicht genannte Anzahl von ihnen war bereits verhaftet worden, der Gemeindevorsteher erließ zudem eine Bekanntmachung, mit der jeglicher Widerstand als „Nötigung“ und „Landfriedensbruch“ hingestellt sowie deren strafrechtliche Verfolgung angedroht wurde.

Am 8. April tagte der Unternehmerverband in Greiz, um die entstandene Lage zu beraten und Maßnahmen zur Niederschlagung des Widerstandes zu beschließen, nachdem der Acht-Stunden-Tag in der gesamten Ostthüringer Textilindustrie für aufgehoben erklärt worden war. In Pößneck gab es zunächst nur ein Unternehmen, in dem die Anordnung über die 53-Stunden-Woche von der Belegschaft befolgt und von morgens 7.00 Uhr bis abends 18.00 Uhr gearbeitet wurde. In allen anderen Betrieben blieben nur Teile der Beschäftigten länger, die Mehrzahl verließ weiterhin nach achtstündiger Arbeitszeit die Betriebe. Eine allgemeine Textilarbeiter-Versammlung sprach sich für das Festhalten am Acht-Stunden-Tag aus. Durch die Anwesenheit der Polizei ermuntert griffen die Textilunternehmer am Donnerstag, dem 10. April, zu schärferen Maßnahmen – wer sich weigerte, die angeordneten zusätzlichen Stunden zu leisten, wurde sofort entlassen. Zusätzlich drohte der Verband Sächsisch-Thüringischer Webereien für den darauffolgenden Sonnabend die Aussperrung aller im Bereich seiner Pößnecker Ortsgruppe entlassenen Arbeiter an, die sich nicht bis morgens 7.00 Uhr in einer zur Fortführung der Produktion erforderlichen Anzahl zur Wiederaufnahme der Arbeit einfinden sollten. So versammelten sich zwischen 17.00 und 19.00 Uhr des gleichen Tages viele Beschäftigte in großer Erregung vor Fabriken in der Saalfelder Straße sowie in weiteren Straßen. Umgehend rückte Polizei an und nahm „zahlreiche Sistierungen“ vor, eine je nach Zeitdauer freiheitseinschränkende oder freiheitsentziehende Maßnahme, die in einer Zuführung zur Wache zwecks Feststellung der Personalien besteht. Dessen ungeachtet fand vor dem Rathaus eine erneute Kundgebung statt, auf der die „Internationale“ gesungen wurde. Für 18.00 Uhr beriefen Textilarbeiterverband, Gewerkschaftskartell und Zentralrat der Betriebsräte eine erneute Versammlung der Textilarbeiter ein. Zudem griffen die Arbeitskämpfe auf andere Landesteile über, beispielsweise traten die Beschäftigten der Kammgarnspinnerei im südthüringischen Wernshausen gegen Entlassungen in den Ausstand und kündigten die Beendigung dieses Solidaritätsstreiks für den Fall ihrer Rücknahme an.

In der Zwischenzeit nahmen die Auseinandersetzungen um den Acht-Stunden-Tag schärfere Formen an und mündeten schließlich in den Streik. Umgehend wurde die anwesende Polizei durch weitere Gruppen verstärkt, um Streikbrechern den Weg zu den Betriebstoren mit Gewalt freizumachen. Als es am 24. April beim offiziellen Arbeitsschluss um 18.00 Uhr zu heftigen und teils recht handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und die Betriebe verlassen wollenden Streikbrechern kam, wurde brutal mit Gummiknüppeln zugeschlagen. In der dadurch wachsenden Erregung der Menge wurde dem die Prügelorgie befohlen haben Polizei-Major ein rohes Ei an die Uniform geworfen. Der als Täter umgehend festgenommene Schäfer P. Schmidt wurde am 21. Mai vom Pößnecker Amtsgericht zu einer Strafe von sechs Wochen Gefängnis verurteilt – für ein einziges Ei, wodurch „der Major beschmutzt“ worden war! Außer ihm führte die Polizei 12 weitere streikende Textilarbeiter einer „erkennungsdienstlichen Behandlung“ zu. Dem folgte eine Protestversammlung auf dem Markt, bei der ebenso wie Tage zuvor die „Internationale“ angestimmt wurde. Dieses Mal steigerte sich die Erregung über die Willkür der Textilunternehmer und das brutale Vorgehen der Polizei soweit, dass schließlich Alfred Bochert als Landtagsabgeordneter der KPD eingriff und die Menge zur Besonnenheit aufrief, worauf der Platz verlassen wurde. Übrigens hatte der Streik am gleichen Tage auch die nicht dem Verband Sächsisch-Thüringischer Webereien angehörende Thalmannsche Fabrik erfasst. Hier war zwar der Acht-Stunden-Tag noch nicht ausgehebelt worden, doch mussten die Beschäftigten wie in den anderen Unternehmen auch um eine angemessene Entlohnung kämpfen. Mittels Drohungen und Versprechungen, brutalen Polizei-Einsätzen sowie dem Nachgeben auf „Ausgleich“ bedachter Gewerkschaften gelang es schließlich, die Streikfront aufzuweichen. Zufrieden ob dieser Entwicklung konnte der Verband Sächsisch-Thüringischer Webereien schon am 25. April in Greiz von der angedrohten Aussperrung Abstand nehmen, da die streikenden Arbeiter in ihrer Mehrzahl die Arbeit wieder aufnahmen. Doch vielen sollte solches Zurückweichen nichts nützen, waren doch 30 % der Pößnecker Textilarbeiter von den Unternehmern wegen ihres Kampfes für den gesetzlich verbrieften Acht-Stunden-Tag gemaßregelt und somit entlassen worden. Selbst am ebenfalls mit der Novemberrevolution als Feiertag erkämpften 1. Mai wurde in allen Betrieben der Stadt gearbeitet, während die Beschäftigten in den Nachbarstädten für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen auf die Straßen gingen. Dennoch strahlte der Streik der Textilarbeiter auf die Umgebung aus, weshalb die Unternehmer auch nach dem Abwürgen der Arbeitskämpfe keineswegs ruhig schlafen konnten: Am 6. Mai 1924 traten die Arbeiter der beiden Gipswerke und des Tonwerkes in Krölpa in den Ausstand, um ihre Forderungen nach höheren Löhnen durchzusetzen. Zwar zeigten sich die Eigentümer geneigt, diese zu erfüllen, aber nur dann, wenn wie schon in der Pößnecker Textilindustrie an fünf Tagen in der Woche eine Stunde länger gearbeitet würde. Ebenso wenig Ruhe fand der mit allen Mitteln gegen die Textilarbeiter vorgehende Verband Sächsisch-Thüringischer Webereien, streikten doch nun die Beschäftigten der Geraer Weberei Greve & Schneider gegen die willkürliche Auslegung des am 8. März durch den Schlichter gefällten Schiedsspruches. Nun sollten die Beschäftigten in der Ostthüringer Textilindustrie mittels Generalaussperrung gezwungen werden, sich dem Unternehmerwillen zu beugen. Dass sich die Indexziffer für Lebenshaltungskosten (Ernährung, Wohnung, Heizung, Bekleidung, Beleuchtung) laut Feststellung des Statistischen Reichsamtes vom 3. März auf das 1,06 Billionenfache der Vorkriegszeit erhöht hatte, interessierte die Kapitaleigner nicht. Es wurden im Gegenteil auch weiterhin alle Mittel eingesetzt, um Proteste gegen menschenunwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen in Keime zu ersticken: Am 4. Juni verbot das Thüringische Innenministerium die Zeitungen der Arbeiterbewegung „Neue Zeitung“ (Jena), „Rotes Echo“ und „Ostthüringer Arbeiterzeitung“ wegen „Aufreizung zum Klassenkampf und Machtkampf“ für die Dauer von drei Wochen. Dabei spielte es keine Rolle, dass „Rotes Echo“ im damals preußischen Erfurt und damit außerhalb jeder Thüringer Zuständigkeit erschien. Dennoch ging der Kampf gegen die Aufweichung der Regelungen zum Acht-Stunden-Tag weiter und erfasste nun auch andere Industriezweige: Bereits am 21. Mai 1924 hatten sich die Betriebsräte des Bornaer und Meuselwitzer Reviers mit den für dessen Beibehaltung streikenden Bergleuten in Sachsen und Schlesien sowie an der Ruhr solidarisch erklärt und die mitteldeutschen Kumpel aufgefordert, die Betriebe auch weiterhin nach acht Stunden Arbeitszeit zu verlassen.

Bleibt noch hinzuzufügen, dass der vom Alliierten Kontrollrat am 26. Januar 1946 erneut eingeführte Acht-Stunden-Tag auch in der Bundesrepublik Deutschland längst wieder aufgeweicht wurde. Das „Arbeitszeitgesetz“ vom 6. Juni 1994 fällt mit seinen Regelungen zur „Flexibilisierung der Arbeitszeit“ noch weit hinter die 1918 getroffenen Vereinbarungen zurück. In Frankreich dagegen wurde seit der gesetzlichen Einführung am 23. April 1919 nicht mehr am Acht-Stunden-Tag gerüttelt. Dass angesichts rasant gestiegener Arbeitsproduktivität weitere Verkürzungen der Arbeitszeit möglich und sinnvoll sind, wurde in Österreich schon mit der zwischen 1969 und 1975 erfolgten schrittweisen Verwirklichung der 40-Stunden-Woche nachgewiesen. Mehr noch – während in einzelnen Bereichen der bundesrepublikanischen Industrie sowie der Banken und Behörden die wöchentliche Arbeitszeit seit dem Jahre 2000 sogar bis auf 42 Stunden angehoben wurde, gab es in einzelnen Bereichen der österreichischen Industrie schon 1985 Regelungen für eine 38-Stunden-Woche.


H.-J. Weise