Hass brachte Menschen dazu, Mitbürger mit Macheten abzuschlachten

Eine Millionen Menschen wurden 1995 beim Völkermord der Hutu und den Tutsi ermordet. Über den schweren Umgang mit dem Völkermord wurde am 30. Juni an dem Ort diskutiert, an dem einst auch die Öfen für Auschwitz gebaut wurden.

Das Haus in Nähe des Erfurter Bahnhofs mit dem weit sichtbaren Schriftzug „Stets zu ihren Diensten“ entwickelt sich zu einem gewichtigen Gesprächszentrum, vor allem für komplizierte Themen. Die Rede ist vom ehemaligen Verwaltungsgebäude und der heutigen Stätte zum Nachdenken „Topf und Söhne“.

Christine Nkulikiyinka, Rabbiner Prof. Walter Homolka vom Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam und Prof. Volkhard Knigge, Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, trafen sich am 30. Juni zum öffentlichen Gedankenaustausch über das Thema „Umgang mit dem Völkermord“.

Zu Beginn des Gesprächs stand das Zitat: „Wenn man die Menschlichkeit verliert, dauert es sehr lange bis man sie wiedergefunden hat“.

Diese Erfahrung musste auch das deutsche Volk in einem langen Erkenntnisprozess machen. An einem Ort, wo noch vor zwei Generationen für das faschistische Mordsystem gedacht, konstruiert und produziert wurde, informierte die Botschafterin Ruandas über den grauenhaften Genozid vor 17 Jahren an ihren Landsleuten. Im kleinen Ruanda (etwa die Größe der Schweiz) wurden in nur 100 Tagen 1.074.017 Menschen vor den Augen der Weltöffentlichkeit bestialisch abgeschlachtet. Davon wurden 951.018 Leichen namentlich identifiziert.

Alle derartigen Entwicklungen haben eine Vorgeschichte. Das kleine Ruanda war auch einmal Teil des Deutschen Kolonialreiches und gehörte zu „Deutsch-Ostafrika“. 1911 kam es zu einem Volksaufstand gegen das deutsche Kolonialregime. Die so genannte „Deutsche Schutztruppe“ schlug diesen Aufstand mit Hilfe der Tutsi-Stammesfürsten brutal nieder. Im ersten Weltkrieg verjagten belgische Truppen die deutschen Eroberer und setzten die Ausbeutungspraktiken fort. Wer sich mit Geschichte beschäftigt, der kennt die Brutalität belgischer Kolonialherren. Auf Geheiß des belgischen Königs Leopold, der die Kolonien als seinen Privatbesitz betrachtete, wurden die Grundlagen der späteren Geschehnisse weiter entwickelt. In Ruanda gab es schon in der vorkolonialen Zeit drei Bevölkerungsgruppen. Man hatte eine gemeinsame Sprache und keine ethnischen Unterschiede. Die Tutsi lebten von der Viehzucht, die Hutu waren Ackerbauern und die Twa waren Jäger, Sammler und Töpfer. Die europäischen Kolonialherren gingen nach der Devise „Herrschen und Missgunst stiften“ vor.

In diesem Fall war es die belgische Kolonialverwaltung, welche die Bevölkerung nach rassistischen Merkmalen einteilte und dabei eine besonders begünstigte. 1933 erfolgte die rassistische Klassifizierung in den Ausweisen. Die Hutus wurden ab 1959  begünstigt. Die Tutsi wurden an äußeren Körpermerkmalen, welche es gar nicht gibt, stigmatisiert. Es kam immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen. Viele flohen in Nachbarländer. Aber auch dort fanden sie keine Akzeptanz. Diese Entwicklung setzte sich auch nach der Kolonialzeit fort. Die damalige Regierung vertrat eine Rassenlehre. Dazu kamen noch enorme ökonomische Probleme. Die Auflagen des internationalen Währungsfonds führte zum Verlust vieler Arbeitsplätze und zu Armut. Das verordnete Anpassungsprogramm ließ die Spannungen wachsen. Im November 1993 standen Wahlen an. Die Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen sollte verhindert werden. Die Regierung entwickelte eine Kampagne unter dem Motto: „Die Tutsi sind schuld an unserem Elend“. Ausgrenzung, Trennung und Stigmatisierung sind Methoden, welche eine Gesellschaft zerstören. An dieser Stelle gibt es durchaus Parallelen zur eigenen Geschichte und auch zur Gegenwart. 

Am 6. April 1995 wurde das Flugzeug des damaligen Präsidenten abgeschossen. Dieser offensichtlich inszenierte Anschlag wurde zum Anlass genommen, den lange vorbereiteten Plan zum Völkermord an den Tutsi zu realisieren. Über den Rundfunk wurde aufgerufen, alle Tutsi zu liquidieren. Zuerst wurden Mordlisten mit den Namen der geistigen Elite „abgearbeitet“. Es wurde gefoltert und gequält. Ein unvorstellbarer Hass brachte Menschen dazu, Mitbürger und Nachbarn mit Macheten abzuschlachten. Viele Menschen wurden lebendig begraben. Selbst Geistliche stachelten Gemeindemitglieder zu den Exzessen an. In Ruanda sind 93 Prozent der Bevölkerung Christen und nur 4,6 Prozent Muslime. Aus rassistischen Gründen haben Christen, christliche Mitbürger ermordet. Diese Wunden können in Generationen nicht heilen.

Inzwischen ist Ruanda wieder ein stabiles Land. Die jetzige Regierung ist bemüht, den verfluchten Rassismus auszumerzen.

Prof. Homolka verwies auf die Beliebigkeit der Ausgrenzungen mit der grauenvollen Einsicht, dass Wiederholungen möglich sind. Die Botschafterin Christine Nkulikiyinka erinnerte an ein persönliches Erlebnis, welches sie zutiefst erschütterte. Sie lebte als 16-jährige junge Frau in Deutschland und besuchte mit ihrer damaligen Klasse ein ehemaliges Konzentrationslager. Das Verhalten ihrer Klassenkameraden an einem solch sensiblen Ort empfand sie als entsetzlich. Es war nicht gelungen, die Mitschüler entsprechend zu sensibilisieren. Sie fragt sich oft nach dem Warum.

Ähnlich wie einst in Deutschland haben sich viele Mörder ins Ausland abgesetzt. Sie leben dort zum Teil unbehelligt. Damit eine neue Gesellschaft zusammenwachsen kann, ist eine Gerichtsbarkeit notwendig. Mord und Schuld sind konkret. Die Gerichte müssten 100 Jahre ununterbrochen tätig sein, um alle Verbrechen zu verhandeln. In Ruanda geht man mit Hilfe von Laienrichtern andere Wege. Diese Lösung nennt man „Befriedung auf den Hügeln“. An den Tatorten kommt es zu schwierigen Aussprachen zwischen Tätern und Überlebenden.

Verdrängung gehört sich nicht. Die Erfahrung wie Menschen zu Opfern gemacht werden, ist wichtiger Bestandteil einer humanistischen Haltung. Prof. Knigges Hinweis, sich nicht   demagogischer Ideologien anzuverpflichten, kann man sich vorbehaltlos zu eigen machen. Es waren schwierige und zugleich zwei spannende Stunden. Die Besucher verließen den Gedenkort sehr nachdenklich. So sollte es an solchen Orten auch sein.                

Uwe Pohlitz