„Freies Geleit“ für „Verbrecher“ und andere Absurditäten

Die Zeit von 1949 bis 1989 ist voll mit Widersprüchen, Absurditäten und völkerrechtswidrigen Konstrukten, deren Hauptziel es war, die DDR schneller zum verschwinden zu bringen. Die Restauration des Kapitalismus und die Rückkehr zum Krieg als Mittel der Politik waren das traurige Ergebnis.

Bis 1990 wurden Politiker in Bonn und Berlin (West) nicht müde, mit volltönenden Reden in Richtung DDR eine „Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit“ als ihr angeblich größtes und hehrstes Ziel anzupreisen. Wer angesichts glitzernder Schaufenster, chromblitzender Autos und alltäglicher D-Mark-Euphorie das Denken dennoch nicht abgeschaltet hatte, musste wissen, dass es sich um einen zur Täuschung der Menschen in beiden deutschen Staaten benutzten Propagandabegriff zwecks Umschreibung der wahren Ziele – Beseitigung der DDR und Rückkehr zur menschenverachtenden kapitalistischen Gesellschaft - handelte. Anstatt die DDR und ihre Gesellschaftsordnung endlich als dauerhafte und von der BRD unabhängige Realität zur Kenntnis zu nehmen und zu ihr normale Beziehungen auf der Grundlage des Völkerrechts aufzunehmen, wurde das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten, und damit auch der Reiseverkehr, durch ein „innerdeutsche Beziehungen“ genanntes künstliches Konstrukt belastet. Gerade jene bewusst dem Völkerrecht widersprechende These von den „innerdeutschen Beziehungen“, zu der sich nach dem Scheitern der Alleinvertretungsanmaßung die Sprachregelung von den „zwei Staaten in Deutschland“ gesellt hatte, war für die BRD der Vorwand zum Versuch der Bevormundung der DDR und der Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Sie sollte die Hintertür sein, durch die Bonn eines Tages doch noch seine Vorstellungen von einer „Wiedervereinigung“ zu verwirklichen gedachte.

Wie diese Vorstellungen aussahen, hatte einer der bekanntesten Publizisten, Hans Magnus Enzensberger, in seinem „Kursbuch 4/66. Katechismus zur deutschen Frage.“ mit nicht zu überbietender Deutlichkeit und Eindeutigkeit charakterisiert: „Auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik hat sich, ihr zufolge, mit Unterstützung einer fremden Macht eine Regierung von Aufständischen etabliert, mit der sich die Bundesrepublik im 'Kalten Bürgerkrieg' befindet. Die Wiedervereinigung, d.h. die Inbesitznahme der von den Aufständischen widerrechtlich beherrschten Gebiete, setzt folglich eine Kapitulation des Gegners voraus. Wiedervereinigung im Sinne der Bundesregierung heißt Sieg im Kalten Krieg; ihr Korrelat ist notwendig die Politik der Stärke.“ Mit einer der Geschichte wie auch dem Völkerrecht hohnsprechenden Frechheit und Unverfrorenheit betrachtete die BRD die DDR als einen ihr angeblich widerrechtlich entzogenen Teil ihres Hoheitsgebietes! Die sich daraus zwangsläufig ergebende Schlussfolgerung konnte dann also nur lauten, dass die Herrschenden in Bonn geradezu die Pflicht hatten, alles zu tun, um die Verfügungsgewalt über diesen ihnen angeblich entzogenen Teil wieder zu erlangen, womit denn auch jedes Verbrechen gegen die DDR und die friedensgefährdende wie völkerrechtswidrige Bonner Politik gerechtfertigt wurde. Die Geschichte der BRD ist somit durch das Paradoxon geprägt, dass sich die westlichen Besatzungszonen über die Zwischenstufen Bizone (Zusammenschluss der US-amerikanischen und der britischen) und Trizone (Anschluss der französischen an die Bizone) als Separatstaat konstituiert und so von der östlichen Besatzungszone getrennt hatten, jedoch die damit von den Gründern selbst gewählten Grenzen, jedenfalls im Osten, nicht anerkannten und das Territorium der außen vor gelassenen Zone für sich beanspruchten. Für den Zeitraum, in dem ihnen die Herrschaft darüber verwehrt war, maßten sie sich kurzerhand an, diese ohne deren Zustimmung nach außen hin zu vertreten und in ihrem Namen zu sprechen und tätig zu werden sowie hoheitliches Handeln ihrer Staatsorgane als illegitim und illegal hinzustellen, womit sie überdies rechts- und völkerrechtswidrig für sich ein Recht auf Strafverfolgung sowohl nach dem „Tag X“ als auch beim Betreten ihres Hoheitsgebietes durch Politiker der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR in Anspruch nahmen (und ab 1990 auch Praxis werden ließen). Erinnert sei nur an das „Gesetz zur befristeten Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit“ vom 29. Juni 1966, als Gespräche mit der DDR nicht mehr einfach zu umgehen waren und diese die BRD durch einen vorgeschlagenen Redner- und Zeitungsaustausch zwischen beiden deutschen Staaten in Zugzwang gebracht hatte. Dieses Gesetz bedeutete nicht mehr und nicht weniger als die rechts- und völkerrechtswidrige Beanspruchung einer Zuständigkeit der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit für das und auf dem Gebiet eines fremden Völkerrechtssubjekts. Es hieß im Klartext, die DDR ist etwas Illegales, uns rechtswidrig Entzogenes bzw. Vorenthaltenes. Ihre Politiker sind deshalb Verbrecher und sobald sie das von uns beanspruchte Territorium verlassen und das von uns real beherrschte betreten, werden sie als solche hinter Schloss und Riegel gebracht. Um aber überhaupt Gespräche – zu unseren Bedingungen natürlich – zu ermöglichen, sind wir so großzügig und versprechen ihnen mit diesem Gesetz für die Dauer der Verhandlungen freies Geleit.

Diese völkerrechtswidrige Ausdehnung innerstaatlichen Rechts der BRD auf die DDR gipfelte in solchen Absurditäten wie Polizeieinsätzen bei internationalen Sportwettkämpfen, um den Sportlern der DDR das Tragen ihres Staatswappens zu verbieten, und in den Versuchen, für die Olympischen Spiele in München 1972 das Zeremoniell abzuschaffen, um das Hissen der Staatsflagge und das Abspielen der Nationalhymne der DDR zu umgehen. Dabei wäre die Teilnahme der DDR-Mannschaft beinahe an einer weiteren Absurdität gescheitert: Was viele nicht wissen, ist die Tatsache, dass auf der Grundlage des KPD-Verbots vom 17. August 1956 sämtliche Massenorganisationen der DDR, und zwar von FDJ und FDGB bis zu Konsumgenossenschaften und VKSK (!), kurzerhand zu „Ersatzorganisationen“ der KPD erklärt und damit diesem Verbotsurteil unterworfen wurden, der DTSB konkret am 14. März 1961. Diese völkerrechtswidrige Politik der Illegalisierung der DDR brachte im Zusammenhang mit der Nichtrespektierung ihrer Staatsbürgerschaft ein weiteres Paradoxon hervor: Da bis 1961 in den Stadtbezirken von Berlin – Hauptstadt der DDR noch der SPD von Berlin (West) unterstehende Kreisverbände aus Mitgliedern, die als Antikommunisten 1946 an der Vereinigung mit der KPD zur SED nicht teilgenommen hatten, bestanden, wurden kurzerhand aus deren Reihen sowohl Vertreter für das Abgeordnetenhaus von Berlin (West) als auch für den Bundestag der BRD rekrutiert. Bei der 1945 durch die alliierten Siegermächte erfolgten Aufteilung Berlins in vier Besatzungssektoren hatten die britische und die sowjetische Besatzungsmacht zwecks Nutzung des Flugplatzes Gatow durch britisches Militär am 31. August einen Gebietsaustausch vereinbart, wodurch der westliche Bereich des zum britischen Stadtbezirk Spandau gehörenden Ortes Staaken Teil der sowjetischen Besatzungszone und deshalb mit dem 7. Oktober 1949 der DDR geworden war. Da jedoch von beiden Besatzungsmächten offenbar aus Unkenntnis der genauen Lage eine gleichzeitige ausdrückliche Vereinbarung über die dadurch, eigentlich selbstverständlich gewesene, da zwangsläufig bedingte Herauslösung (West-) Staakens aus dem damaligen Groß-Berlin unterlassen worden war, maßten sich die Verantwortlichen des nunmehrigen Stadtbezirks von Berlin (West) unter Anwendung juristischer Spitzfindigkeiten Hoheitsfunktionen für den zur DDR gehörenden Ort an: Mit der dubiosen Begründung, (West-) Staaken gehöre ungeachtet dessen weiter zu Spandau, wurde allen Ernstes die Teilnahme von Bürgerinnen und Bürgern der DDR an den für den 3. Dezember 1950 angesetzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin (West) organisiert. Politisch sowie völker- und staatsrechtlich klare Verhältnisse wurden erst ab 1. Februar 1951 geschaffen, als die Deutsche Volkspolizei mit der Ausübung ihrer Funktionen begann. Im übrigen sollte der Status von Berlin (West) bis zuletzt völlig unklar bleiben: Selbst im „Vierseitigen Abkommen über die Westsektoren von Berlin“ vom 3. September 1971 sagten die vier alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mit keinem Wort, was die besondere politische Einheit tatsächlich, sondern lediglich, was sie nicht war. Das war zwar nicht gering zu schätzen, vor allem, weil es bekräftigte, dass Berlin (West) „so, wie bisher“ kein „Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland“ war und auch nicht „von ihr regiert werden“ durfte. Damit war klar und eindeutig gesagt, dass die BRD keinerlei Recht zum Erheben von Ansprüchen hatte und Berlin (West) auch nicht, wie in Bonn so gern behauptet, eines ihrer Bundesländer, nicht einmal eines „mit lediglich gemindertem Status“ war. Doch was war es dann, zumal weder das damalige Groß-Berlin als Ganzes noch die westlichen Besatzungssektoren, weder jeweils einzeln noch als Ganzes, per vertraglicher Vereinbarung der alliierten Siegermächte aus der Sowjetischen Besatzungszone herausgelöst worden waren? Eine fünfte Besatzungszone „Berlin“ hatte es nie gegeben und zudem hatten im sowjetischen Sektor von Anfang an alle zentralen Verwaltungen der Sowjetischen Besatzungszone ihren Sitz, wogegen die westlichen Besatzungszonen eben nicht von den jeweiligen Besatzungssektoren in Berlin aus verwaltet wurden (Amerikanische Besatzungszone: Frankfurt am Main, Britische Besatzungszone: Bad Oeynhausen, Französische Besatzungszone: Baden-Baden). Dem war seitens der westlichen Alliierten auch nie widersprochen worden. Es wurde jedoch alles getan, um diesen Unruhe- und Gefahrenherd ständig weiter auszubauen, wozu Senat von Berlin (West) und Bundesregierung der BRD mit Duldung der westlichen Besatzungsmächte auch das Vierseitige Abkommen gröblichst missachteten: Obwohl beispielsweise die Versorgung der besonderen politischen Einheit mit Trink- und Brauchwasser sowie Elektroenergie und Brennstoffen ebenso wenig wie die Entsorgung und Behandlung von Abwasser und Müll ohne die DDR als deren natürlichem Umland völlig unmöglich war, wurde alles unternommen, um bestehende wirtschaftliche und auch politische Verbindungen zwischen der BRD und Berlin (West) vertragswidrig in staats- und völkerrechtlichen Charakter tragende feste Bindungen umzufälschen. So wurden ganz bewusst und mit voller Absicht staatliche Einrichtungen der BRD in der nicht zu ihr gehörenden Stadt angesiedelt – vom „Amtssitz“ des Bundespräsidenten bis zu Bundesdruckerei und Bundesumweltamt. Zur Verschärfung der Lage durch gewollte Provokation der DDR wurden „Sitzungen“ von Bundestag und Bundesrat sowie Bundesversammlungen zur Wahl des Staatsoberhauptes der BRD in Berlin (West) abgehalten. Die dem Senat unterstehende Polizei maßte sich rechtswidrig Befugnisse und die Durchführung von Amtshandlungen auf dem Gelände der dem Ministerium für Verkehrswesen der DDR unterstehenden Deutschen Reichsbahn an, wogegen durch antikommunistisch verhetzte Einwohner von Berlin (West) verübte gefährliche Anschläge auf Züge und Bahnanlagen nicht unterbunden und bestraft, sondern wohlwollend geduldet wurden.

Das alles ist lediglich ein kleiner Ausschnitt aus dem breiten Spektrum politischer Widersprüche, Absurditäten und so falscher wie völkerrechtswidriger Konstrukte und Sprachregelungen, um die Fiktion der angeblichen Weiterexistenz eines politisch-geografischen Gebildes namens „Deutschland“ als einer Art Überstaat um DDR und BRD sowie einer politisch-urbanen Einheit namens „Berlin“ vorzugaukeln, um so alle rechts- und völkerrechtswidrigen Maßnahmen wie auch jedes Verbrechen zu rechtfertigen. Dahinter steckte das Bestreben, die DDR so leichter „zum Verschwinden“ zu bringen (Egon Bahr), um erstens auf ihrem Staatsgebiet den Kapitalismus wieder restaurieren, zweitens alle durch deren Existenz erzwungenen und „soziale Marktwirtschaft“ genannten Zugeständnisse im Interesse eines endlich unbeschränkten Gewinnstrebens der Eigner großer Industrie-, Finanz- und Agrarkapitalien beseitigen und drittens in diesem Sinne in der Welt wieder eine Großmachtrolle spielen zu können, wobei letzteres seinen schlimmsten Ausdruck in der 1999 begonnenen Beteiligung der BRD an Kriegen in aller Welt findet.

 

Hans-Joachim Weise