Ein wichtiger Zeitzeuge ist gegangen
Kurz nach seinem 94. Geburtstag verstarb Hans-Otto Böhme. Die die Verbrechen des Hitler-Faschismus hatten auch ihm die Augen geöffnet. Sein ganzes Leben widmete er anschließend der Landwirtschaft, zu allererst um den vom Krieg hinterlassenen Hunger zu beseitigen.
Von Hans-Joachim Weise
Das heutzutage so oft strapazierte Wort „Zeitzeuge“ hat letztlich einen schalen Beigeschmack, sind doch damit Personen gemeint, die einst mit Wort und Tat unterstützt hatten, was seit Egon Bahr gerichtsnotorisch ist: „Die Politik der Bundesrepublik Deutschland war darauf gerichtet, die DDR zum Verschwinden zu bringen.“ Ihre Aufgabe ist es, Kindern und Jugendlichen ein völlig verzerrtes Bild vom Leben im sozialistischen deutschen Staat zu vermitteln. Es geht ihnen darum, sie derart zu indoktrinieren, dass sie den diesem Zerrbild entgegenstehenden Berichten ihrer Eltern und Großeltern keinen Glauben schenken. Die Forderung, Tatsachen und Hintergründe zu ignorieren und stattdessen die vom Antikommunismus bestimmte Sicht der BRD als unumstößliche Wahrheit zu nehmen, hatte ja schon der nach kurzer Amtszeit als Bundespräsident gescheiterte Horst Köhler erhoben gehabt. Der Mann aber, um den es hier gehen soll, wurde niemals eingeladen, vor Schulklassen als Zeitzeuge aufzutreten. Dabei konnte er aus eigenem Erleben und Wirken wie kaum ein anderer in seinem Fachgebiet Auskunftgeben - nämlich über die tatsächliche Entwicklung von Landwirtschaft und Landtechnik in der DDR, ganz besonders aber im Kreis Pößneck. Da das freilich im völligen Gegensatz zum Zerrbild von „Zwangskollektivierung“, „Misswirtschaft“ und „Mangelwirtschaft“ gestanden hätte, war er niemals als Zeitzeuge gefragt gewesen: Genosse Hans-Otto Böhme, am 12. April 1923 in Weimar geboren, hatte zu jener Generation gehört, die in der Hitlerjugend im Sinne des Faschismus verhetzt und mit dem „Glauben an den Führer“ zu Durchhaltefanatikern gedrillt worden war. Die Katastrophe, in der das „Dritte Reich“ sein ruhmloses Ende gefunden hatte, und die faschistischen Verbrechen, namentlich die im KZ Buchenwald begangenen, hatten auch ihm die Augen geöffnet und zum Nachdenken gezwungen. So wurde er einer der Aktivisten der ersten Stunde, die mithalfen, durch Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion den vom Krieg hinterlassenen Hunger zu beseitigen: Er war beim Aufbau der Maschinenhöfe der VdgB ebenso dabei wie bei deren Entwicklung zu gut arbeitenden Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS). Er gehörte 1949 zu den Mitbegründern der MAS in Krölpa bei Pößneck. Mit noch nicht 30 Jahren wurde er 1952 infolge der Berufung von Bruno Lietz in das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft dessen Nachfolger als Direktor. Unter seiner Leitung begann die Erneuerung des Maschinen- und Traktorenbestandes, kamen die ersten Mähdrescher zum Einsatz, wurden die Arbeits- und Lebensbedingungen der Betriebsangehörigen durch Einrichtung von Betriebsküche und Schwesternstation entscheidend verbessert. Er holte junge, fähige und vorwärtsdrängende Kader, die sich auf bislang unerschlossenes Neuland vorwagten: So wurde nach vorheriger gründlicher Überlegung und Berechnung in einem aufsehenerregenden Versuch die Eignung des Mähdreschers S 4 auch für Schläge von unter einem Hektar Größe nachgewiesen. Ein Kollektiv um den Technischen Leiter Karl Rebischke entwickelte und baute 1956/57 das Versuchsmuster eines für die Ernte von Silo- und Futtermais geeigneten Feldhäckslers. Mit ihm ging übrigens aus der nunmehrigen MTS Krölpa ein Kader hervor, der als einer der ersten Bürger der DDR nach dem Sieg der kubanischen Revolution auf der Karibikinsel solidarische Hilfe bei der Entwicklung der Landwirtschaft leistete. Die Agronomin Gerda Rudolf, mit der Hans-Otto Böhme später in zweiter Ehe 40 Jahre verheiratet war, folgte dem damaligen Ruf „Frauen auf die Traktoren!“ Unvergessen bleibt, wie sie nach bestandener Prüfungsfahrt von ihren Kollegen vom „Aktivist“ geholt und gefeiert wurde. Sie ging anschließend den für viele junge Leute damals typisch gewesenen Weg: Abitur, Studium, Promotion und schließlich Dozentin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Andere Kollegen wurden zum Meisterstudium an die Fachschule für Landtechnik in Nordhausen delegiert und qualifizierten sich somit für die Tätigkeit als Lehrmeister bzw. Abteilungsleiter Berufsausbildung.
Im Zuge der Weiterentwicklung der MTS zum Kreisbetrieb für Landtechnik (KfL) erfolgte seine Berufung in den Kreislandwirtschaftsrat. Dieser anspruchsvollen Aufgabe widmete er sich ebenso mit vollem Einsatz wie seiner darauffolgenden Tätigkeit in Triptis, das in seinen Mauern die Spezialschule für Landtechnik und das Landtechnische Instandsetzungswerk beherbergte. Auch nach 1990 war er, nun schon Rentner, aktiv dabei, als es galt, das Erbe des hier geborenen Nationalpreisträgers Egon Scheuch (1908 – 1972) zu bewahren und das Stadtmuseum vor allem hinsichtlich des Wirkens dieses Pioniers der Landtechnik zu profilieren. Als „Vater“ der Geräteträger „Maulwurf“, RS 08/15 und RS 09 bzw. GT 122/GT 124 hatte er Bahnbrechendes für die Rationalisierung der Arbeit im Feld- und Gartenbau sowie in der Stallwirtschaft geleistet. Mit über 90 Jahren war Hans-Otto Böhme in seinem letzten Wohnort Neustadt an der Orla noch täglich auf den Beinen, erledigte Einkäufe, unternahm gemeinsam mit seiner Frau Spaziergänge, fuhr Auto – unfallfrei, versteht sich – und beantwortete geduldig von Interessierten sachlich und sachkundig gestellte Fragen zur Entwicklung von Landwirtschaft und Landtechnik insbesondere im Raum Pößneck. Als Zeitzeuge vor Schulklassen zu sprechen, blieb ihm wie schon erwähnt versagt, soll doch die heutzutage zur Wahrheit erhobene Entstellung der Wirklichkeit nicht beschädigt werden können. Der Tod seiner Frau im Februar traf ihn hart, die Kraft, diesen Schicksalsschlag zu überstehen, konnte er nicht mehr aufbringen. Wenige Wochen nach seinem 94. Geburtstag musste er ihr am 2. Juni nachfolgen. Sein Tod hat eine schmerzliche Lücke gerissen, ist doch zur tatsächlichen Entwicklung von Landwirtschaft und Landtechnik noch so vieles ungesagt und ungeschrieben.