Die Mühen der Ebene – Eindrücke vom Alltag sozialer Bewegungen in Bolivien

Zurzeit gibt es Süd- und Lateinamerika gleich eine ganze Reihe linker Regierungen. Haben sich durch sie die Lebensumstände für die Menschen – wie versprochen – verbessert?

Seit mehr als fünf Jahren regieren Evo Morales und die Bewegung zum Sozialismus (MAS) Bolivien. Sie führen die erste indigene Regierung Boliviens seit der Staatsgründung. Auf sie richten sich sowohl die Hoffnungen der sozialen und indigenen Bewegungen im Land als auch die Blicke der europäischen Linken. Zu Recht?

Beatriz Bautista kämpft seit über 20 Jahren in sozialen, politischen und kulturellen Organisationen für einen grundlegenden Wandel der bolivianischen Gesellschaft. Am 12. Mai weilte sie in der Offenen Arbeit Erfurt und berichtete über die Situation im Land. Ihr Fazit fällt ernüchternd aus: Die Menschen an der Basis der Bewegungen sind enttäuscht und frustriert. Zwar wurden wichtige Schritte in Richtung eines Wandels unternommen, doch blieb bisher die Transformation Boliviens in eine gerechte Gesellschaft aus. 

Die Referentin führte zahlreiche Beispiele für die aktuelle Entwicklung an: Zwar wurden nach Neuverhandlungen mit den Konzernen die Staatseinnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen erhöht, doch werden diese Einnahmen vor allem für den Konsum ausgegeben. Von einer nachhaltigen Neugestaltung der Wirtschaft Boliviens kann keine Rede sein. Zwar wird mehr Gas gefördert und exportiert, doch gleichzeitig gibt es zu wenig Gas im Land selbst zu kaufen und es wird immer teurer (Gas ist für die Mehrzahl der bolivianischen Haushalte die Grundenergieversorgung zum Kochen etc).

Zwar wird ein Teil der Einnahmen für die Sozialprogramme der Regierung ausgegeben, doch gleichzeitig profitieren von Lohnerhöhungen vor allem die Mittelschichten: Lehrer, Ärzte und das Militär. Von zehn Erwachsenen haben in Bolivien nur drei eine bezahlte Arbeit. Eine Arbeitslosenversicherung ist unbekannt und eine Krankenversicherung für Arbeitslose existiert auch nicht.

Evo Morales trete auf internationalen Konferenzen als Bewahrer der Pacha Mama (Mutter Erde) auf, fordere einen rigorosen Wandel bei der Energiegewinnung und propagiere das Prinzip des Buen Vivir (Gutes Leben), welches sich grundlegend vom westlichen Entwicklungsmodell unterscheidet – doch in Bolivien selbst sei von dieser Radikalität nicht viel zu spüren. Bohrungen nach Öl und Gas werden sowohl in Naturschutzgebieten als auch auf den Territorien der Indígenas durchgeführt – ohne deren Zustimmung, obwohl dies in der Verfassung verbindlich vorgesehen ist. Es erfolgt zunehmend eine Ausweitung riesiger agrarindustrieller Flächen für Rohstoffe zur Gewinnung von „Bioenergie“ auf Kosten des Regenwaldes.

Verschärfend kommt die Konfrontation zweier verschiedener Modelle sozialer Bewegungen hinzu: Auf der einen Seite die klassische, traditionelle Linke aus Parteien und Gewerkschaften, die zwar heftig für Lohnerhöhungen  und soziale Veränderungen kämpft, diese jedoch ebenfalls auf der Basis der kapitalistischen Produktionsweise erreichen will. Demgegenüber fordern die indigenen Bewegungen eine Abkehr vom zerstörerischen Modell der Ausbeutung der Natur und eine Hinwendung zu einer ökologischen Gesellschaft.

Auf die Frage, ob es denn gar nichts Positives zu berichten gäbe, räumte Beatriz Bautista ein, dass die 2008 per Volksentscheid beschlossene neue Verfassung Bolivien als plurinationalen Staat festlege, ein großer Fortschritt für die Rechte der Indígenas. Nehme man dadurch doch endgültig Abstand von den alten Strukturen des Kolonialismus. Hinzu komme, dass Bolivien als erster Staat der Welt die UNO-Deklaration für die Rechte indigener Völker unterzeichnet habe und das Sprache, Religion und Justiz der indigenen Völker in Bolivien nun wenigstens auf dem Papier anerkannt seien. Auch die fast völlige Beseitigung des Analphabetismus (mit kubanischer Hilfe) zähle für sie zu den Erfolgen.

Aber Bolivien als Vorbild für die Welt? Nein, das wäre eine trügerische Hoffnung.

Ihr eigener Alltag bestehe aus unbezahlter politischer Arbeit und der Beendigung ihres Studiums. Das Geld für alles müsse jeden Tag aufs Neue organisiert werden.

Auf die Frage, ob man nicht etwas mehr Geduld mit der Regierung haben müsse, schließlich könne diese ja nicht in fünf Jahren alles verändern erwiderte sie: „Wir sollen Geduld haben, während um uns herum die Welt zerstört wird? Nein, wir haben viel Kraft in den Wahlsieg von Evo Morales gesteckt, wir haben nicht allzu viel erwartet, aber selbst diese Erwartungen sind enttäuscht worden. Wir müssen weiter Druck machen.“ Und sie betont, wie wichtig der Kampf für eine andere Gesellschaft hier in Deutschland sei, weil den Bewegungen in Bolivien damit faktisch geholfen werde.

Es entsteht der Eindruck, dass die linken Regierungen in Südamerika auf dem harten Boden der Realität angekommen sind und sich dabei zunehmend Konflikte mit ihrer Basis entwickeln. Die Menschen wollen endlich erleben, wie sich ihr Alltag verbessert. Das gilt auch für Venezuela und Ecuador.                                  

Bernd Löffler