Kein Kind darf zurückgelassen werden

10 Jahre ist das unfassbare Blutbad am Erfurt Gutenberg-Gymnasium her. Dich aus den "Schrei nach Veränderung", der einst durch den Amoklauf ausgelöst wurde, ist längst ein leises säuseln geworden.

Die Landeshauptstadt, ja ganz Thüringen befand sich in einer Schockstarre, als am 26. April 2002  Robert Steinhäuser 16 Menschen und sich selbst am Erfurter Gutenberg-Gymnasium erschoss. Viele, die das grausige Blutbad miterleben mussten werden diesen Tag niemals vergessen. 

„Noch heute gehört unser Mitgefühl allen Angehörigen der Opfer, ihren Familien und Freunden“, sagt Bodo Ramelow, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag. Die entsetzliche Bluttat habe deutlich gemacht, dass es in vielen Bereichen ein „Weiterso“ nicht geben dürfe.  „DIE LINKE hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Initiativen in Reaktion auf dieses schreckliche Ereignis in das Parlament eingebracht. Wir werden auch künftig Antworten auf jene Fragen verlangen, die man nicht oder nur unzureichend beantwortet hat. Allen voran gestellt ist die Forderung, sozialer Ungleichheit, Ungleichbehandlung und Selektion vor allem von Kindern und Jugendlichen den Nährboden zu entziehen“, so der LINKE-Abgeordnete. „Kein Kind darf zurückgelassen werden und kein Talent eines Kindes darf ungeachtet bleiben, denn wir brauchen für die Zukunft das Wissen, die Fähigkeiten aller Kinder. Unser Zusammenleben soll durch Hoffnung geprägt sein und nicht durch Angst “, formuliert Bodo Ramelow mit Blick auf den zehnten Jahrestag der bestürzenden Geschehnisse am Gutenberg-Gymnasium.

Doch was hat sich seit diesem 26. April 2002 getan in den Thüringer Schulen? Aus Sicht von Michaele Sojka, bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Thüringer Landtag, trotz großspuriger Ankündigungen viel zu wenig. „Vor zehn Jahren gab es viele Diskussionen und Ideen, wie eine Schule eigentlich sein sollte. Kernforderungen waren: die Einführungen einer Klassenleiterstunde, mehr Schulsozialarbeit, generell mehr Zeit für die Schüler und weniger Leistungsdruck. Heute muss man sagen, dass keine dieser Kernforderungen umgesetzt wurde. Entsprechend groß ist die Enttäuschung und mittlerweile macht sich auch Resignation breit“, resümierte die Bildungsexpertin.  Lediglich die besondere Leistungsfeststellung – eine Art Abschlussprüfung nach der 10. Klasse – wurde in unmittelbarer Folge eingeführt, da als wichtiges Motiv bis heute vermutet wird, dass Attentäter Steinhäuser auch wegen des fehlenden Schulabschlusses und der dadurch mangelhaften Arbeitsmarktperspektive zur Waffe griff. Sojka schätzt ein, dass sich deswegen auch das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern grundsätzlich verändern muss, wenn es eine effektive Prävention solcher Amokläufe geben soll. „Wir sollten nicht versuchen, nur mit Strafen und Leistungsdruck das Maximum an Leistung bei den Schülern herauszuholen. Es gibt zum Glück schon viele Schulen in Thüringen, die mit einem reform-pädagogischen Anspruch in diese Richtung gehen. Aber zu viele glauben noch immer, sie hätten es nicht nötig, sich in die Schüler hineinzuversetzen. Vermutlich war das damals auch im Gutenberg-Gymnasium der Fall. Man ist  zu schnell dabei, Schüler, die nicht ins Raster passen einfach abzuschieben, anstatt drauf zu schauen, wo sich die Schule verändern sollte, so dass sich jeder Schüler aufgenommen fühlt und an seine Leistungsgrenze gebracht werden kann“, sagt Michaele  Sojka.

Dabei gibt es gar kein Erkenntnis-problem, denn in der Zeit nach der Tat lagen diese Fakten schon auf dem Tisch. Die Schüler hatten sich selbst in der Organisation „Schrei nach Veränderung“ für Reformen stark gemacht. Anfangs wurden Demos mit über 4.000 Teilnehmern organisiert. Davon ist heute nichts geblieben. „Die Hoffnungen, die aufkeimten, als die SPD 2009 das Kultusministerium übernahm, das endlich alle Forderungen in die Tat umgesetzt werden, haben sich als riesengroße Enttäuschung entpuppt“, konstatiert Sojka zusammenfassend.

Doch nicht nur in der Bildungspolitik mahnt „Erfurt“ zu Reformen.  Gerade was das Thema Waffenbesitz und staatliche Kontrolle angeht, gab es 2002 zahlreiche Reformvorschläge. Nach Auffassung der LINKEN Innenexpertin Martina Renner hat sich da einiges getan. „Wir haben ein zentrales Waffenregister auf Bundesebene im Aufbau, in Thüringen haben wir eine stärkere Kooperation der Meldebehörden, mit denen, die für den Vollzug des Waffenrechts verantwortlich sind. Außerdem gibt es eine stärkere Kontrolltätigkeit und mehr Ahndungen bei Verstößen gegen das Waffengesetz, die bis hin zum Entzug der Waffe führen können“, sagt die Landtagsabgeordnete. Auf der administrativen Ebene fällt die Bilanz somit positiv aus. „Die Frage, wie man mit Waffenfetischismus und der generell immer noch zunehmenden Verbreitung von Waffen in der Gesellschaft umgehen soll, stellt sich aber nach wie vor. Auch in Thüringen nimmt die Anzahl von legalen Waffen weiter zu – trotz sinkender Bevölkerung“, konstatiert Renner und bekräftigt die Vorstellung der LINKEN von einer waffenlosen Gesellschaft. Das, so die innenpolitische Sprecherin würde aber bedeuten, den legalen Waffenbesitz auf das Allernotwendigste, wie z. B. für Sportschützen oder Jäger zu begrenzen. Konservative Politiker jedoch wollen nicht mit bestimmten Lobbygruppen auf Konfrontation gehen. 

So bleibt zehn Jahre nach „Erfurt“ die Erkenntnis, dass im Bereich der Waffenkontrolle vieles angestoßen wurde, die Verbreitung von Waffen aber dennoch zunimmt. In der Bildungspolitik dagegen hat sich viel zu wenig getan. Der Schrei nach Veränderung, der eigentlich nach der Bluttat hätte von Erfurt ausgehen sollen, ist nach zehn Jahren höchstens noch ein leises Säuseln.

        

Diana Glöckner

Thomas Holzmann