Hier sind die Anständigen

Trotz großen Vorsprungs konnte der AfD-Kandidat nicht das Rathaus in Nordhausen erobern. Dass in der Stadt, in der sich das KZ Mittelbau-Dora befindet, kein Geschichtsrevisionist zum Oberbürgermeister gewählt wurde, ist vor allem der Verdienst des Bürgerbündnisses „Nordhausen zusammen“.

Wer in Nordhausen vom Bahnhof in die Altstadt schlendert, der kommt vorbei an einladenden Geschäften, belebten Cafés, Restaurants und sogar „cornernden“ Punkern wie auf dem Erfurter Anger. Von Tristesse oder Niedergang ist in der 40.000-Einwohner-Stadt am Rande des Südharzes, nichts zu spüren. Trotzdem wäre hier um ein Haar der erste AfD-Oberbürgermeister Deutschlands gewählt worden. Doch, für viele überraschend, holte der parteilose Amtsinhaber Kai Buchmann in der Stichwahl 20 Prozentpunkte auf. Dabei steht er wegen 14 Dienstrechtsverstößen massiv in der Kritik. Ende März war er von der Rechtsaufsichtsbehörde im Landratsamt sogar suspendiert worden. Im August hatte das Verwaltungsgericht Meiningen die Dienstenthebung Buchmanns aber ausgesetzt. Wirklichen Wahlkampf hat Buchmann auch nicht gemacht. Sein Sieg gegen Jörg Prophet (AfD), der im ersten Wahlgang noch klar vorn lag, muss offensichtlich etwas mit der Arbeit des Bürgerbündnisses „Nordhausen Zusammen“ zu tun haben.

 

Die Sprecherin Stephanie Tiepelmann-Halm empfängt uns zum Interview im Weltladen. Während wir draußen reden, pulsiert um uns herum das Leben, kommen nicht nur lachende Kinder vorbei, sondern auch eine gut gelaunte Frau. Sie stellt sich im typischen Nordhäuser Dialekt als Wilma Busch vor, Inhaberin eines nachhaltigen Geschäfts für Brautmode. Für die Grünen sitzt sie im Stadtrat.

 

In die Feierstimmung nach Buchmanns Wahlsieg wollen in Thüringen aber längst nicht alle mit einstimmen. Schließlich haben in der Stadt, in der von 60.000 Zwangsarbeiter*innen Hitlers Wunderwaffen gebaut wurden, trotzdem 10.000 Menschen einen Nazi gewählt. „Absolut überwiegt die Freude“, sind sich Busch und Tiepelmann-Halm sofort einig.

 

„Wir haben nicht gänzlich verkackt. Ich bin so stolz auf die Leute, die sich aufgerappelt und professionell organisiert haben“, sagt die quirlige Busch, die vier Tage nach dem Wahlabend immer noch ziemlich euphorisch ist und sich den Sieg über Prophet keinesfalls miesmachen lassen will. „Unser Geheimnis war unsere Haltung. Wir stehen für etwas. Und wir wollen keinen OB, der ein geschichtsrevisionistischer Menschenfeind ist. Damit bewegen wir die großen Player“, so Tiepelmann-Halms erste Analyse.

 

Mit großen Playern ist nicht nur die frühere Oberbürgermeisterin Barbara Rinke (SPD) gemeint. Sebastian Krumbiegel, Smudo oder Stefanie Hertel (war 2019 für eine Spielzeit im Theater Nordhausen) schalteten sich ein. Und in Nordhausen, wo sich die Gedenkstätte des KZ Mittelbau-Dora befindet, besonders wichtig: „Auch Prof. Jens-Christian Wagner (Chef der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora) hatte großen Anteil. Und dass, obwohl die Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte in den letzten Jahren eher im absinkenden Modus war“, sagt Tiepelmann-Halm. „Aber die Wahl hat das alles wieder auf den Plan gerufen“, wirft Busch ein.

 

Das Bündnis gegen Rechts (BGR) Nordhausen gab es schon seit Jahrzehnten, mit Wellen und Spitzen. „Aber Corona hat uns in ein schwarzes Loch gerissen, was Netzwerke und Ideen angeht“, blickt Tiepelmann-Halm zurück. Busch: „Habe mich schon damals gefragt, wo sind die ganzen Anständigen, während die Blauen immer am lautesten sind und den ganzen Tag durch die Gegend brüllen? Ich wusste aber immer, dass es die Anständigen auch hier gibt und zur Wahl waren sie endlich da, auch wenn die ansonsten immer noch leise sind.“

 

Tiepelmann-Halm: „Vom Verein kennen wir das Phänomen schon aus dem Jahr 2015 („Sommer der Migration“). Da gab es gerade aus Kirchenkreisen ganz viel Zuspruch. Die haben gesagt: Wir werden im Leben nicht auf der Straße laut rumskandieren, aber wir sind in Gedanken bei euch. Auch bei meiner Nachbarin war ich total überrascht als sie sagte: Wir haben es gerissen. Trotzdem sind Leute wie sie sind mit Sicherheit in vielen Punkten zu Recht unzufrieden“. Dass der Kampf gegen die AfD nicht gewonnen ist und mit Blick auf das Super-Wahljahr 2024 viel auf der Kippe steht, braucht man in Nordhausen niemanden zu erklären. Aber gerade für scheinbar aussichtslose Kämpfe ist Nordhausen ein leuchtendes Beispiel, dass es sich lohnt zu kämpfen, statt den Kopf in den Sand zu stecken.

 

„Ich haben den Eindruck, wir sind durch die Wahl noch mal stärker ins Gespräch gekommen. Auch bei mir im Laden ist das so. Und wenn ich denen erkläre, für oder gegen was die AfD im Stadtrat so alles stimmt, machen die immer ganz große Augen. Ich sage immer: schaut genau hin und glaubt nicht den Mist, den die bei Facebook schreiben“, sagt Busch voll kämpferischen Optimismus. Für die anstehende Kommunalwahl kommenden Mai ist es Tiepelmann-Halm besonders wichtig, parteipolitische Neutralitätspflicht nicht mit politischer Neutralitätspflicht zu verwechseln: „Jedes Unternehmen, jeder Verein in Nordhausen hat ein Leitbild oder irgendetwas gegen Diskriminierung und für Menschenrechte aufgeschrieben. Das sollten wir nach außen kehren! Wir stehen für Vielfalt, Offenheit, Empathie und auch Utopien.“

 

Aber wie überall verkaufen sich Dystopien und schlechte Nachrichten besser, ob Netflix oder Thüringer Allgemeine. „Leider haben wir hier nicht die große Glanzberichterstattung, dafür die sehr rechtslastige „Neue Nordhäuser Zeitung“ (NNZ). Selbst der MDR berichtet nicht über unser Essen der Kulturen. Es gibt hier viel Schönes und viel Miteinander. Aber nach außen wird oft nur das Bild von Tristesse und Traurigkeit getragen“, kritisiert Tiepelmann-Halm.

 

Frauen wie Tiepelmann-Halm und Busch halten es deswegen oft nicht im Osten aus und gehen hinaus in die weite Welt. Aber, weil sie wissen, dass es in Nordhausen so viel Gutes gibt, das Hoffnung macht, spüren sie dieses Fernweh nicht mehr: „Früher dachte ich immer, man muss raus in die große weite Welt. Aber wir können auch hier mitgestalten und woanders wäre ich auch genauso kaputt, wenn ich von der Arbeit komme und würde nicht jeden Abend noch ins Theater gehen.“

 

Busch sieht das genauso: „Corona hat so viel Scheiße nach oben gespült, von der ich nicht wusste, dass es das gibt. Jetzt sind auch mal die schönen Sachen, die guten Leute nach oben gespült worden. Davon gibt es viele und die sind jetzt viel vernetzter. Das gibt es nicht nur in Hamburg oder Berlin.“ Tiepelmann-Halm bringt es treffend auf den Punkt: „Jeder ist in seiner Blase gefangen und das Bündnis hat es geschafft, sie alle zusammen zu bringen.“

 

Thomas Holzmann