Es muss jetzt Los gehen
Erstmals klebten sich Aktivist*innen der „Letzten Generation“ in Thüringen auf die Straße. Ihre wichtigste Forderung: Einführung eines Gesellschaftsrates mit durch das Los bestimmten Bürger*innen. Die Idee stammt aus der griechischen Antike und ist die beste demokratische Antwort, auch auf andere Krisen unserer Zeit.
Schon im letzten November sollte es die erste Aktion der „Letzten Generation“ in Thüringen geben. Doch, bevor die insgesamt sechs Personen loslegen konnten, wurden sie von der Polizei gestellt. Vier Männer und zwei Frauen im Alter von 16 bis 44 Jahren hatten neben Kleber und Farbeimern auch einen Klettergurt dabei. Unschwer zu erraten, dass wohl das Goethe-Schiller-Denkmal ihr Ziel war. Die Polizei sprach einen Platzverweis aus und brachte die Gruppe zum Bahnhof. In Bayern hätten sie womöglich erstmal für 30 Tage in Präventivhaft gemusst.
Dabei zeigt sich bereits, dass die Debatten um härtere Strafen bei der Letzten Generation offenbar niemanden abschreckt. Warum auch? Es geht um unsere Existenz. Gegen das, was auf dem Spiel steht, scheinen immer mehr Menschen ein paar Tage Gefängnis als das deutlich kleinere Übel zu empfinden. Insofern überrascht es auch nicht, dass Anfang Februar nun die erste Klebe-Aktion in Thüringen stattfand. Unsere Kolleg*innen von Libertad Media aus Jena waren vor Ort dabei.
„Die Stadt hatte die Aktion als Versammlung eingestuft und eine Auflösung bis 10:00 Uhr angeordnet. Da die Versammlung nicht aufgelöst wurde, löste die Polizei vorsichtig den Sekundenkleber mit Öl und anderen Flüssigkeiten und führte die Aktivist*innen ab. Vor Ort verhandelte Bürgermeister Christian Gerlitz (SPD) mit den sitzenden Menschen“, berichtet Martin Michel.
Diese und die vielen anderen Aktionen haben in den Sozialen Medien für die übliche hitzige Debatte gesorgt: „Während einige Kommentatoren der Aktion zustimmend gegenüberstanden, waren andere entschiedene Gegner. Darüber hinaus gab es zahlreiche Aufrufe, gewalttätige Angriffe auf die Aktivist*innen zu verüben oder solche Angriffe zu fantasieren. Man solle einfach auf die Menschen mit dem Auto draufhalten, auf sie urinieren oder Gülle über sie kippen. Zahlreiche Menschen stellten sich in den sozialen Netzen auch gegen solche Forderungen: ‘Leute anpissen wollen und Leuten körperliche Schmerzen wünschen, ihr seid doch echt alle nicht ganz dicht. Weil die ne Straße blockieren ist es okay, denen Gewalt antun zu wollen, ihr tickt doch echt nicht richtig.’ schrieb beispielhaft T. Reck in einer regionalen Gruppe im sozialen Netzwerk Facebook“, fasst Michel zusammen.
Oft wird auch unter LINKEN mehr über die Methoden, als über die Ziele der letzten Generation diskutiert. Dabei lohnt es sich genau hinzuschauen.
Als Sofortmaßnahmen für bessern Klimaschutz fordert die Letzte Generation ein Tempolimit von 100 km/h auf deutschen Autobahnen sowie ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket. Allein das Tempolimit von 100 km/h würde jährlich mehr als 6,7 Millionen Tonnen CO₂ vermeiden und zu weniger Verkehrstoten führen. Ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket soll in Zeiten steigender Lebenshaltungskosten gerechte Bahnpreise und jede Menge CO₂ einsparen.
Ein Tempolimit und günstiger Bahnverkehr sind wahrlich keine Traumtänzereien – andere Länder machen beides und fahren gut damit. Nur in Deutschland gilt noch immer das Motto: Autos, Autos, über alles.
Auch deshalb ist die einzige, wirklich radikale Forderung der Letzten Generation so bemerkenswert: Die Einberufung eines Gesellschaftsrates. In dem sollen Expert*innen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft mit durch das Los bestimmten Bürger*innen eine Null-Emissions-Zukunft für Deutschland bis 2030 erarbeiten. Die Idee ist klasse, aber nicht neu, sondern eine demokratisch Urform aus der griechischen Antike. Die Behauptungen, die Letzte Generation wolle damit den Bundestag ersetzen, sind nichts anderes als Fake News aus der Welt der Internet-Trolle.
Unrealistisch ist die Forderung auch nicht. Der Verein „Mehr Demokratie“ hat schon seit Jahren verschiedene Modellversuche für geloste Bürgerräte durchgeführt. Die Erfahrungen sind dabei fast ausschließlich positiv. Diese Idee ließe sich auch auf die kommunale oder die Landesebene übertragen.
Ein gelostes Gremium, mit fundierter, wissenschaftlicher Moderation, würde mit Sicherheit konstruktive Vorschläge für eine moderne Verkehrspolitik in Erfurt oder Jena machen, zu denen die Parteien und Fraktionen oft nicht fähig sind.
Die könnten dann in einer Art Multiple-Choice-Bürgerentscheid (d.h. mit Mehrfachauswahl) zur Abstimmung gestellt werden. Keine Angst, liebe Berufspolitiker*innen: Es bleibt noch genug zu tun, bei der Umsetzung. Die repräsentative Demokratie wird nicht abgeschafft, sondern ergänzt und verbessert. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung stehen solche Bürgerräte übrigens explizit drin. Das heißt: Die Letzte Generation fordert eigentlich nur mit radikalen, aber immer friedlichen Mitteln das ein, was sowieso versprochen wurde.
Losverfahrfen, Bürgerräte und mehr Demokratie
Bürgerräte
Mehr Demokratie hat dazu bereits 2019 Modellversuche gestartet. Per Los bestimmte Bürger*innen erarbeiten Vorschläge zu verschiedenen Themen von Außenpolitik bis Klimaschutz. Die Erfahrungen und das Feedback sind überwiegend positiv. Die Letzte Generation bezieht sich in ihren Forderungen explizit auf genau dieses Modell mit dem einzigen Unterschied, dass deren Vorschläge für Parlamente und Regierungen verbindlich sein sollen.
Bürgergutachten
Zur gescheiterten Verwaltungs-, Funktional- und Gebietsreform in Thüringen wurden 2016 72 Personen ausgelost, die ein umfassendens Gutachten erarbeiteten. Die bemerkenswerten Ergebnisse haben nur leider kaum jemanden interessiert. 2021 folgte eine weiteres Gutachten von 52 Ausgelosten zur Coronapandemie, das 55 Vorschläge beinhaltete.
Irland
In zwei Volksabstimmungen entschied die Mehrheit das Äquivalent zum deutschen „Abtreibungsparagraphen“ 218 abzuschaffen (2018) und die „Ehe für alle“ einzuführen (2015). Jeweils vorgeschaltet: Ein gelostes Gremium, das genau das empfohlen hatte. Aus den Reihen der Ausgelosten gab es viel positives Fazit.
Kleroterion
Die Idee des Losverfahrens stammt aus dem antiken Griechenland. Die Erfinder der Demokratie hatten sogar eine Losmaschine: das Kleroterion. Damit wurden u.a. öffentliche Ämter ausgelost, um Machtmissbrauch und Korruption einzudämmen. Erst in der Renaissance wurde die Idee u.a mit der „Lotterie“ eines gewissen Casanova neu entdeckt.
Losverfahren
In Parlamenten sitzt überwiegend akademisches Klientel und fast keine Arbeiter*innen. Ein gelostes Gremium würde dagegen einen echten Querschnitt der Gesellschaft abbilden. Die Teilnahme ist aber grundsätzlich freiwillig.
Multiple-Choice-Entscheide
Ein Idee von David van Reybrook: Geloste Bürgerräte könnten z.B. 10 Vorschläge für die Verbesserung der Demokratie in der EU erarbeiten. In einem Volksentscheid könnte jede Bürgerin und jeder Bürger drei ankreuzen. Die drei mit den meisten Stimmen müssten dann Eu-weit verbindlich umgesetzt werden