Ein Herausragender Wissenschaftler und beliebter akademischer Lehrer

Dr. Gerhard Riege wurde allseitig wegen seiner aufrechten Haltung und seiner Integrität geschätzt, seine wissenschaftliche Arbeit auch in Bundesrepublik anerkannt. Doch nach 1990 bekam er als Bundestagsabgeordneter in beschämender Weise Engstirnigkeit und Beschränktheit zu spüren, als seine Reden mit wüsten Beschimpfungen, ordinären Ausdrücken und dümmlichen Einwürfen unterbrochen wurden. Er sah sich schließlich gegenüber Stasi-Beschuldigungen und Vorwürfen, so belanglos und unberechtigt sie auch waren, in einer ausweglosen Lage und wählte vor 20 Jahren am 15. Februar den Freitod.

Der Lebensweg des Rechtswissenschaftlers, Hochschullehrers und Politikers begann am 23. Mai 1930 im thüringischen Gräfenroda. Das Wissen um die unermesslichen Leiden von Kriegsgegnern und um die Notwendigkeit antifaschistischer Gesinnung prägte – wie bei vielen anderen seiner Generation auch – seine Lebensentscheidung. Obgleich besonders an Philosophie, Historie und Kunstgeschichte interessiert, begann er in Jena Jura zu studieren – sehr erfolgreich. Bereits 1954 wurde er mit der Wahrnehmung einer Dozentur beauftragt und durfte als jüngster Rechtswissenschaftler in Thüringen eine staatsrechtliche Vorlesung halten. 

Nach Promotion und Habilitation wirkte er seit 1965 als Ordinarius für Staatsrecht, zeitweilig als Prorektor für Gesellschaftswissenschaften bzw. für Prognose und Wissenschaftsentwicklung sowie von 1974 bis 1983 als Dekan der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät. Hier wie auch außerhalb der Alma mater jenensis erfüllte übernommene Aufgaben beispielhaft. So wie er an sich selbst hohe Ansprüche stellte, wollte er auch bei anderen Nachlässigkeit und Oberflächlichkeit nicht dulden. Im Nachhinein bleibt Erstaunen, welches Arbeitspensum er bewältigen konnte. Größte Hochachtung verlangen Intensität und Qualität seines tagtäglichen Schaffens, das durchaus noch Raum ließ für seine Neigungen zu Musik, Literatur und bildender Kunst. Er wirkte als ein herausragender Wissenschaftler und ein außerordentlich beliebter akademischer Lehrer an seiner Universität, deren Rektor – obgleich 1990 demokratisch gewählt - er nicht sein durfte.

Niemand hat je den Vorwurf erheben können, Gerhard Riege habe seine Karriere vor allem der Mitgliedschaft in der SED zu verdanken. Respekt heischte seine Persönlichkeit, Achtung erwarb er sich durch Leistung, Zustimmung dank des Arguments im sachlichen Gespräch. In seiner aufrechten Haltung galt er in all den Jenaer Jahren als eine Art politisch-moralische Instanz. Seine Integrität war unbestritten. Allseitig wurde sein Auftreten geschätzt, geschuldet wohl vor allem der Konsequenz, die stets parteilich, jedoch nie parteiisch oder gar intolerant gewesen ist.

So entgegengesetzt Rieges Gedanken zur Staatsbürgerschaft der DDR zu Auffassungen führender Staatsrechtswissenschaftler in der BRD stand – an der wissenschaftlichen Qualität seiner Arbeiten rüttelten diese nicht. Seine Publikationen fanden nicht nur in den sozialistischen Staaten, sondern ebenso in vielen westlichen Ländern große Beachtung. Selbst höchstrichterliche Urteile, z. B. solche des Bundesverfassungsgerichts, nahmen ausdrücklich Bezug auf Rieges Publikationen. 

Indessen unterlag sein fast idealistisch zu nennender Optimismus erst einer generellen Selbstbefragung, als die DDR kollabierte. Er hatte zwar begonnen, einzelne Elemente und einige Konturen eines anderen Sozialismus-Modells in den Blick zu nehmen, eines Modells, das seinen Gerechtigkeits- und Demokratievorstellungen entsprach, doch unter den realen Bedingungen konnte auch er den Widerspruch zwischen seiner Parteikonformität einerseits und seiner Unzufriedenheit, seiner Widerspenstigkeit und seiner Suche nach verbesserten demokratischen Regularien in der DDR andererseits nicht lösen. Erst allmählich und schmerzhaft reifte in ihm die Erkenntnis, dass nicht allein eine fehler- und stümperhafte Politik, sondern Konstruktionsmängel und grundlegende Defizite des gesamten gesellschaftlichen Konzepts letztlich die Erfolglosigkeit dieses Staatswesens bedingten.

Riege wurde 1990 für die PDS in die letzte Volkskammer der DDR gewählt und war danach auch Mitglied des Bundestages. Hier wie auch in dem sich neu formierenden Land Thüringen bemühte Riege sich um die Ausarbeitung einer seinen demokratischen Vorstellungen von Staatsrecht, Bürgerrechten und Verwaltung entsprechenden Verfassung. Er, der selbst Toleranz als Maxime pflegte, erfuhr nach 1989 Ausgrenzung und beleidigende Intoleranz. Vor allem im Bundestag bekam er in beschämender Weise Engstirnigkeit und Beschränktheit zu spüren, als seine Reden mit wüsten Beschimpfungen, ordinären Ausdrücken und dümmlichen Einwürfen unterbrochen wurden. Oftmals entbehrten Reaktionen konservativer, liberaler, sozialdemokratischer und grüner Abgeordneter auf seine Parlamentsreden selbst das Mindestmaß an politischer Kultur. Der feinsinnige und sensible Mann zerbrach daran, obgleich ihm sowohl die Jenaer als auch die Tübinger Universität Gelegenheit geboten hatten, seine Lehrtätigkeit fortzusetzen. Er sah sich schließlich gegenüber Stasi-Beschuldigungen und Vorwürfen, so belanglos und unberechtigt sie auch waren, in einer ausweglosen Lage und wählte vor 20 Jahren am 15. Februar den Freitod.          

Manfred Weißbecker