Parteien müssen Wahlrecht aus dem Blickwinkel der Bürger betrachten

Die Vorschläge von Mehr Demokratie Thüringen e. V. sind ein erster Aufschlag, um das Thema Landtagswahlrechtsreform auf die politische Agenda zu setzen. Sprecher Ralf-Uwe Beck hofft auf eine offene Debatte über Parteigrenzen.

Mehr Demokratie hat Vorschläge für eine Reform des Landtagswahlrechts veröffentlicht, deren Ziel es ist, die Bevormundung durch die Parteien zu brechen. Aber sind die dafür auch bereit?


Würden die Parteien das wollen, hätten sie eigene Vorschläge gemacht. Aber in der Demokratieentwicklung braucht es oft den Impuls aus der Bürgerschaft, zu sagen, was verlangt wird. Jetzt haben die Parteien die Möglichkeit, sich zu unseren Forderungen zu verhalten. Wir haben alle Landtagsfraktionen bereits angeschrieben. Es ist eine gute Tradition, solche Wahlrechtsreformen überparteilich und interfraktionell anzugehen. Wenn das – wie im Fall des Bundestagswahlrechtes im vorigen Jahr – allein von einer Regierungskoalition gemacht wird, kann das schnell schief gehen. Solche Diskussionen sollten ohne Überlegungen der Parteien, was die Aussicht auf eigene Stimmenanteile angeht, ablaufen. Das geht aber nur, wenn sie sich selbst und ihre eigenen Interessen zurückstellen und die Sache aus dem Blickwinkel der Bürger betrachten.


Die Praxis zeigt aber, dass solche Vorschläge von Parteien zerrieben werden. Die CDU sagt in Person von Manfred Scherer (MdL) bereits: „Der Vorschlag setzt eine Intensität der Beschäftigung mit Politik und dem politischen Personal voraus, die man nicht erwarten oder einfordern sollte.“ 


Das ist schon fast Wählerbeleidigung. Es wäre doch wünschenswert, wenn sich die Menschen mehr mit Politik beschäftigen.  Wird unser Vorschlag umgesetzt, wird damit auch das Interesse an Politik geschürt. Einfordern muss man da gar nichts, aber man sollte respektvoller über die Menschen denken.


Leider dürfte das nicht nur in der CDU so sein. Warum geht mehr Demokratie nicht den radikalen Weg und fordert gleich die Abschaffung der Listen und die Direktwahl aller Abgeordneten?


Das ist aus unserer Sicht nicht sinnvoll. Unser jetziger Vorschlag ist moderat, nachvollziehbar und diskutabel. Wir wollen mehr Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Landtages – deswegen die Vorschläge, zukünftig auch kumulieren und panaschieren zu können (Siehe Kasten). Wir wollen das Wahlrecht aber nicht völlig umkrempeln und auch nicht unnötig verkomplizieren. Es muss für die Wähler nachvollziehbar sein, was ihre Stimme bewirkt. Wenn wir an die Personenwahl rangegangen wären, würde das z. B. wie in Hamburg zu Mehrmandatswahlkreisen führen. Das nun von uns vorgeschlagene Prinzip ist durch die Kommunalwahlen in Thüringen eingeübt. Kumulieren und panaschieren gehört also schon zu unserer Wahlpraxis. Die zweite Frage, die wir stellen, ist: Wer ist überhaupt wahlberechtigt? Wobei uns vor allem die Frage des Alters interessiert. Auch über das Wahlrecht für EU-Ausländer, wie es Justizminister Poppenhäger anstrebt, haben wir nachgedacht. Drittens geht es uns um die Nachwahl von direkt gewählten Abgeordneten.


Dass die Nachfolge eines direkt gewählten Abgeordneten nicht über das Nachrücken mittels Landesliste, sondern über eine direkte Nachwahl erfolgen sollte, müsste doch für jeden logisch nachvollziehbar sein …


In der Tat. Mit dem jetzigen System wird der Bürger in seinem Stimmrecht beschnitten: Ich wähle direkt, aber nachgerückt wird von der Liste. Vielleicht kommt der Nachfolger gar nicht aus meiner Region, wie wird die dann aber im Parlament vertreten? Als Gegenargument kommt oft, noch eine Wahl mehr, würde die Menschen überfordern. Aber da ist doch noch viel Luft. In den USA wird sogar ein Sheriff oder ein Schulamtsleiter direkt gewählt. In der Schweiz gibt es jährlich vier Abstimmungssonntage. Das übt sich ein. Bei der Nachwahl bin ich mir sicher, dass sich die Parteien schnell auf ein neues Verfahren einstellen würden, indem sie im Vorhinein für Landrats- oder Bürgermeisterwahlen weniger direkt gewählte Abgeordnete aufstellen und auch stabilere Mehrheiten bilden. 


Welche Erfahrungen gibt es mit solchen Wahlrechtsreformen bisher?


Auf kommunaler Ebene kann in den meisten Ländern kumuliert und panaschiert werden, in den südlichen Ländern sogar mit so vielen Stimmen, wie Kandidaten auf der Liste stehen. Auf Landesebene gibt es seit 2007 in Bremen und seit 2011 in Hamburg ein neues Wahlrecht, das maßgeblich von Mehr Demokratie initiiert wurde. 


Ist ein erfolgreiches Volksbegehren ohne die politische und logistische Unterstützung durch eine oder mehrere Parteien in Thüringen realistisch?


Das wäre zumindest sehr schwierig. Die beiden bisher erfolgreichen Volksbegehren unseres Bündnisses wären ohne die Parteien kaum möglich gewesen. Ein Volksbegehren ist kein leichter Weg und immer das letzte Mittel, wenn alle parlamentarischen Initiativen gescheitert sind. Das steht jetzt gar nicht zur Debatte. Unsere Vorschläge sind der erste Aufschlag, um das Thema überhaupt auf die Agenda zu setzen und das Gespräch mit und zwischen den Parteien in Gang zu bringen. Den Zeitpunkt haben wir so gewählt, damit das Thema jetzt diskutiert wird, bevor die Parteien über die Zusammensetzung der Listen diskutieren, bevor es um Personen, Karrieren und denkbare Koalitionen geht. Am Anfang einer Wahldebatte sollte die Frage stehen: welchen Einfluss haben die Menschen auf die Auswahl ihrer Volksvertreter und welchen sollten sie haben.


Zu der Frage des Einflusses gehört auch der Vorschlag, das Wahlalter auf 16 zu senken. Was spricht dafür?


Bei den Kommunalwahlen dürfen 16-Jährige bereits in acht Bundesländern, bei den Landtagswahlen in Brandenburg und in Bremen, wählen. Es wird häufig darüber diskutiert, ob denn die Menschen dafür schon reif sind. Wir sagen: Das Wahlalter muss nicht an die Volljährigkeit gekoppelt sein, zumal die Menschen mit 14 z. B. auch schon straf- und religionsmündig sind. Allerdings gibt es derzeit noch zu wenige Erfahrungen und gesicherte Erkenntnisse. Deswegen wollen wir ganz bewusst in Thüringen diese Erfahrungen machen – zunächst als Pilotprojekt für zwei Landtagswahlen. Ein Hauptargument für die Absenkung des Wahlalters ist für mich der demographische Wandel. Junge Menschen geraten zunehmend in eine Minderheitenposition. Mit der Wahlalterabsenkung könnten sie sich mit ihrer Stimme eher in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen. Sie interessieren sich anders für ein Thema, wenn sie tatsächlich mitentscheiden können. Da kann man von anderen Ländern viel lernen, wo gezielt in Schulen gegangen wird, um Interesse an Politik zu wecken.


Kann die Wahlrechtsreform mit der Debatte um die Gebiets- und Verwaltungsreform verbunden werden?


Momentan wäre das noch nicht sinnvoll. Zuerst muss in den Kommunen diskutiert werden, was vor Ort erledigt werden kann und welche Zuständigkeiten abgegeben werden müssen. Kommunale Selbstverwaltung meint, dass die Kommune mehr Subjekt und weniger Objekt der Überlegungen sein muss. Hier muss mit den Bürgern geredet werden. Dann erst kommt das Thema Gebietsreform ins Spiel. Gegebenenfalls ist sehr viel später in dessen Zuge auch über eine Parlamentsreform zu diskutieren. Jetzt wollen wir, dass das Thema Wahlrechtsreform auf die Agenda gesetzt wird. Ich bin sicher, dass wir eine offene Debatte über Parteigrenzen hinweg hinbekommen.

Thomas Holzmann