Jeder Nichtgläubige sollte die Bibel und jeder Gläubige Karl Marx lesen

Für Bodo Ramelow ist Glauben immer mit Toleranz verbunden, Ismen und Dogmatismus, die Widersprüche kaschieren, sind inakzeptabel.

Sie sagen, dass Religion Teil der Lösung sein kann. Was genau meinen Sie damit?


Immer dann, wenn man sich mit den Urtexten der abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – beschäftigt, kommt man auf phänomenale Erkenntnisse, welche die Menschen schon vor 3000 Jahren bewegt haben. Die Frage der Gier und ihre Begrenzung durch die Ethik hat damals schon eine Rolle gespielt. Entscheidend ist, ob man Religion auf den Machtapparat bezieht, der im Verlauf von 2000 Jahren entstanden ist, denn dann wird daraus eine Geschichte des Verbrechens, von Brutalität, Gewalt und Krieg. Bezieht man sich aber auf die Wurzeln der Religion, findet man verblüffenden Hinweise auf Lösungen für Dinge, welche die Menschen schon damals bewegt haben. Es ist immer die Frage, ob Religion Teil des Konfliktes wird, wie beim Heilligen Krieg, dem Dreißigjährigen Krieg usw. oder ob man zur Kenntnis nimmt, dass es im Verlauf von 3000 Jahren Reiche gab, in denen religiöse Toleranz im Zentrum stand. Interessanterweise waren die tolerantesten Reiche auf europäischen Boden meistens muslimisch. Das heißt nicht, dass der Islam immer tolerant ist, aber die islamischen Herrscher in Spanien oder im Osmanischen Reich haben alle Religionen toleriert. Das kennt das Christentum weniger und das Judentum bezieht sich nur auf sich selbst. Mir geht es darum, das Gemeinsame in den ethischen Wurzeln zu suchen. Die Frage des Glauben ist dabei eine höchstpersönliche und muss davon abstrahiert werden.


Und wie definieren Sie den Glauben für sich ganz persönlich?


Ich glaube, man kann Glauben gar nicht definieren, man kann Glauben nur spüren. Es gibt keine wissenschaftliche Erklärung dafür. Glauben hat etwas mit unserem Inneren zu tun und ich glaube an eine universelle Kraft jenseits des Erklärbaren. Das ist nicht jemand mit einem Bart, der auf seiner Wolke sitzt. Ich stelle mir das nicht praktisch vor, sondern ich glaube an eine Kraft, ein weltumspannendes Gefühl. Deswegen ist mein Glauben immer mit Toleranz verbunden und ich kann nicht akzeptieren, wenn im Namen von Ismen, von Dogmatismus, egal in welcher Form, die vorhandenen Widersprüche über den Glauben kaschiert werden. Denn das ist das Gegenteil von Glauben, weil Wahrheit und Weisheit durch ein Du-musst-daran-glauben ersetzt wird.


Aber Glaube und Wahrheit stehen doch grundsätzlich im Widerspruch, weil man mit Glauben bestimmte Dinge nicht mehr hinterfragt ...


Ich kenne keinen bedingungslosen Glauben und dieses Gefühl kann man auch nicht verordnen, nicht vom Staat und auch nicht von der Institution Kirche. Glaube wirkt sich erst dann aus, wenn man an die Grenz- und Wechselfälle des Lebens kommt. Dann wird auch der Nichtgläubige in eine Situation kommen, bei der er unsicher wird. Glaube ist höchstpersönlich und individuell und er darf nicht mit Macht verwechselt werden. Entweder man spürt ihn oder man spürt ihn nicht. Es gibt da keinen vorgezeichneten Weg, nach dem Motto, „lies die Bibel und dann glaubst du“. Jeder nichtgläubige Mensch oder jeder, der sich als Atheist bekennt, sollte die Bibel lesen, genauso wie jeder gläubige Mensch Karl Marx lesen sollte.


Wenn der Mensch nicht selbst genau nachliest, erhöht das die Gefahr des Missbrauchs. Ist der Missbrauch der Religion durch die Kirche auch der Grund, warum Sie nicht persönlich zum Papstbesuch auf den Domplatz gehen?


Nein. Das hat nichts mit einer politischen Wertung, sondern mit meiner persönlichen Grundüberzeugung zu tun. Ich lasse mich nicht bei meinem Beten oder meinen ganz persönlichen Glaubenshandlungen filmen. Ich habe auch ein Problem mit Events, die als eine Art Glaubensevents daherkommen. Ich respektiere die vielen gläubigen Katholiken, die zur Papstmesse gehen. Ich finde es positiv, wenn Menschen glauben und das auch zeigen, aber man muss mit beiden Beinen im Leben bleiben. Der Glaube entbindet uns nicht von der Pflicht, von der Bergpredigt auch Gebrauch zu machen. Einfach nur heilig zu sein, ist da nicht die einzige Antwort. Und natürlich ist der Vatikan Instrument einer Macht und er hat im Laufe von 2000 Jahren gigantische Macht gehabt, die er ebenso gigantisch missbraucht hat. Genauso ist auch der Glaube missbraucht worden. Die Geschichte von 200 Jahren Kommunismus ist da ähnlich. Auch der Kommunismus wird irgendwann zum Glauben, weil die Mensch an das Bessere, was irgendwann kommen wird, glauben sollen. Widersprüche werden dann nicht mehr aufgelöst und man hat eine Staatsmachtpartei, die fast wie ein Glaubensersatz fungiert. Manche Sozialisten werden das nicht gerne hören, aber auch da gab Glaubensrituale wie Parteitage oder Zelebrationen.



Egal, in welchen System, es wurde immer gelogen, was das Zeug hält. Müsste sich nicht gerade jeder Politiker, der sich als Christ begreift, an das Gebot „Du sollst nicht lügen halten“?


Politik, die mit Lügen einhergeht, ist immer eine falsche Politik. Man sollte nicht die Unwahrheit und nicht das Gegenteil von dem sagen, was man eigentlich meint. Das ist eine unwahrhafte Politik, die ich verachte, egal in welchem Mantel sie daherkommt. Allerdings muss man nicht alles, was man weiß, immer auf den Jahrmarkt tragen. Manchmal muss man verantwortungsvoll mit Informationen umgehen. Ich wusste um die Geschehnisse im Erfurter Guttenberg-Gymnasium mehr als ich öffentlich gesagt habe. Ich hielt es aber für meine Pflicht, das nicht öffentlich zu sagen. Denn dort, wo ich andere Menschen tief verletzt hätte, habe ich meine Grenze gezogen. Es gibt ethische und moralische Grenzen, aber das Credo: „Du sollst nicht lügen“, ist grundsätzlich eine sehr wichtige Botschaft. Und auch die anderen der zehn Gebote finde ich akzeptabel. Die Frage ist immer, wie man sie in die jeweilige Zeit transferiert. Du sollt nicht Ehebrechen, heißt für mich, du sollst nicht in eine Beziehung eindringen, wenn das anderen Menschen Schmerz zu fügt. Wenn aber zwei selbstbewusste Menschen für sich entscheiden, sich zu trennen, ist das etwas anderes. Deswegen halte ich die katholische Sicht auf diese Dinge weder für zeitgemäß noch für akzeptabel.Ich bin der Meinung, dass man in eine Beziehung eines anderen Paares nicht eindringen darf und zwar egal ob verheiratet oder nicht, es sei denn der eine hat sich abgewendet und man weiß, was man tut.


Ein häufig missachtes Gebot ist: Du sollst nicht töten …


In all den Jahren, in denen die Kirche eine Machtkirche war, haben Priester gepredigt: Du sollst töten, du sollst unseren Glauben, der der einzig wahre ist, mit Feuer und Schwert verbreiten und genau das vertreten, was man heute den Muslimen vorwirft. Dabei ist der Dschihad eigentlich gar kein kriegerischer Begriff, er wird verdreht, auch weil ihn muslimische Fanatiker so benutzen. Eigentlich geht es, wie auch bei den Christen darum, dass man für Verbreitung des Islam werben soll. Nur die Juden kennen die erbliche Weitergabe der Religion. Bei ihnen fällt die Aggression des Unterwerfens damit aus. Hier geht es um die Entstehung von Reichen und das hat nicht etwas mit Gott, sondern mit irdischer Macht zu tun.


Müsste man als Christ, mit Blick auf Dinge wie die Bergpredigt, Pazifist sein?


In letzter Konsequenz würde es zum Pazifismus führen, wenn es im Pazifismus eine Strategie gibt. Der Pazifismus als gelebte Strategie setzt voraus, dass man sich niemals vor fremden Armeen ängstigt. Das bedeutet, sich durch eine persönliche Haltung einer Macht nicht zu unterwerfen und sich auch nicht brechen zu lassen. Das ist keine Feigheit, sondern ein viel größerer Mut als bei denen, die Waffen in die Hand nehmen. Den Waffenbesitz als persönliche Freiheit zu verstehen, wie es in den USA zum Teil getan wird, halte ich für gefährlich. Diese Mentalität, gepaart mit evangelikalem Christentum, erweckt einen Fanatismus. Dorothee Sölle sprach ja vom Christo-Faschismus. Da war ich zunächst irritiert. Aber in der Konsequenz muss man es sogar so benennen, wenn für George W. Bush extra ein Flugzuträger in Position gebracht wird, um dann vom Kreuzzug zu sprechen. Für mich ist das Kreuz aber mit Jesus Christus und der Bergpredigt verbunden und nicht mit dem Schwert, denn auch in den abrahamitischen Schriften ist schon das Kriegsverbot festgeschrieben.


Krieg und Religion passen also nicht zusammen – Kapitalismus und abrahamitische Schriften auch nicht?


Nach der kalten Logik des westlichen Kapitalismus, unterwerfe ich mich einem System, das am Ende gesellschaftszerstörend ist, weil Produkte verkauft werden, bei denen die, die sie verkaufen zunächst Boni kassieren und am Ende ist jeder Einzelne der Dumme. Deswegen finde ich auch das islamische Bankwesen so interessant. Dort ist es so, dass man Geld geliehen bekommt, damit wirtschaftet und aus dem Ertrag bekommt die Bank dann ihren Anteil. Die Bank bekommt erst Geld wenn auch etwas entsteht, das heißt, wir reden hier von Realwirtschaft. So sahen es die abrahamitischen Schriften von Anfang an vor. Das halte ich für eine tiefe philosophische Weisheit, die schon vor 2000 in der Bibel beschrieben worden ist.


Deshalb muss, wer Christ ist auch Sozialist sein?


Adolfe Grimme hat das gesagt. Es spricht jeder vom Grimme-Preis, mit dem der beste Fernsehjournalismus geadelt wird, aber wer Adolf Grimme war, das wissen die Wenigsten. Viele Sozialisten kennen auch nicht die philosophischen Quellen des Sozialismus, z. B. Wilhelm Weitling, ein christlicher Soziallist. Karl Marx kennt jeder, dass er sich auch mit diesen Menschen Auseinander gesetzt, Stichwort Feuberbachthesen, das wissen viele nicht.


Das würde ja doch für die vielbenannten christlich-jüdischen Wurzeln der westlichen Welt sprechen ...


In dieser Frage halte ich es mit Prof. Walter Homolka, der sagt, wer vorschnell von jüdisch-christlich Wurzeln redet, meint eigentlich nur, die Juden mit reinzunehmen, um sich von den Moslems abzugrenzen. Manche tun das bewusst, Manche unbewusst. In Wirklichkeit will man damit die schlimmste Schande der Christen in Deutschland unter den Teppich kehren – den Hitler-Faschismus. Auch bei anderen lassen sich diese christlich-jüdischen Wurzeln nicht finden, selbst Luther schrieb von den bösen Juden. An den Stellen, an denen es heute immer bemüht wird, kann ich diese Wurzeln nicht erkennen. Richtig ist, dass es die Wurzeln gibt, wenn wir uns mit der Historie beschäftigten, z. B. bei der Kooperation von jüdischen und christliche Menschen. Da geht es nicht um Philosophie, sondern um praktisches Zusammenwirken.


Was muss passieren, damit Religion tatsächlich verbindet und nicht trennend wirkt?


Es muss um die Grundfragen der abrahamitischen Schriften gehen. Gier muss begrenzt sein. Zinsen müssen als Teil der Gier verstanden werden. Neid ist Teil unserer Probleme. Das muss man benennen. Man muss darum wissen. Der Teil der Religion, der uns verbindet ist, den anderen auch immer anders sein zu lassen. Das gilt auch für den Papstbesuch. Die katholischen Christen haben ein Recht, den Besuch ihres Oberhauptes auch zu genießen und zwar unbelästigt. Das heißt aber nicht, dass man gegen falsche politische Auffassungen nicht demonstrieren darf, kann und muss. Ich verstehe, dass es überall auf der Welt, wo Benedikt auftritt, zu Demonstrationen kommt. Ich werbe dabei aber immer für Toleranz, dass es um die Sache geht, es friedlich bleibt, nicht die religiösen Gefühle der Anreisenden verletzt werden und die institutionelle Positionen kritisiert werden und nicht der Gläubige.    


Thomas Holzmann