„In der Schulpolitik geht es offenbar nicht um die Zukunft der Kinder“

Nur noch jede zweite in Thüringen freiwerdende Lehrer-Stelle wird noch neu besetzt. Bis zum Jahr 2020 werden in Thüringen so 7.200 Lehrer fehlen, weiß Torsten Wolf, Vorsitzender der GEW Thüringen zu berichten.

In Ihrer kürzlich veröffentlichten Bildungsstudie ergibt sich ein sehr düsteres Bild für die Zukunft an den Thüringer Schulen, vor allem was die Personalsituation bei den Lehrkräften angeht. Kann das Land Thüringen seinem, in der Verfassung verankerten Bildungsauftrag so überhaupt noch gerecht werden? 


Ich würde das eine ganze Ebene tiefer ansiedeln. In Paragraph 2 des Thüringer Schulgesetzes steht: „Die Schulen sind im Rahmen ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags zur individuellen Förderung der Schüler als durchgängiges Prinzip des Lehrens und Lernens verpflichtet.“  Das ist ein wichtiger Punkt, den wir als GEW sehr begrüßt haben. Aber wir haben auch immer gesagt, das muss entsprechenden personell untersetzt sein. Viele Probleme, die wir in unserer Studie festgestellt haben, setzen genau da an. Es wird in Thüringen eine durchaus fortschrittliche und ambitionierte Bildungspolitik in Form von Gesetzen und Verordnungen verfolgt, aber die Grundlagen, um diese Bildungspolitik auch in der Praxis umzusetzen, die werden leider nicht geschaffen.   


Was heißt das konkret? 


Wir haben in unserer Onlinebefragung festgestellt, das Hauptproblem für alle Pädagogen ist das Thema gemeinsamer Unterricht. Nach dem  Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, ergibt sich der individuelle Rechtsanspruch jedes Kindes, in einer Grundschule oder weiterführenden Schule unterrichtet zu werden – egal ob es behindert ist oder nicht, lernstark oder lernschwach. Wir wissen aus Ländern wie Südtirol oder Skandinavien, die genau das schon viele Jahre sehr gut umsetzen, dass das unmittelbare Konsequenzen auf die personelle und materielle Ausstattung der Schulen hat. Das heißt, wir brauchen auf jeden Fall in den Klassen, die ein integratives bzw. inklusives System haben, eine Zweitbesetzung. Das ist der Anspruch des Thüringer Schulgesetzes.

In der Praxis hätten wir neben dem normalen Lehrer noch einen weitere  pädagogische Fachkraft oder eine Förderschullehrer, der die entsprechenden Kinder mit Förderbedarf optimal unterstützt, aber natürlich auch alle anderen Kinder. In einer Regelschulklasse  bis zum Jahr 2008 konnten die Lehrer davon ausgehen, dass alle 25 Kinder der Klasse sich zwar auf einem unterschiedlichen Niveau befinden, aber alle in der Lage sind, den Abschluss zu schaffen. Derzeit haben wir in der selben Schule auch dieselbe Anzahl an Kindern in der Klasse, aber zwei oder drei, die einen ganz speziellen Förderbedarf haben. An der personellen Situation hat sich in Thüringen nichts positiv verbessert. Ganz im Gegenteil, obwohl die Aufgaben in den Schulen ständig zunehmen, die Lehrer ständig älter werden, werden zusätzlich jedes  Jahr hunderte Lehrerstellen einfach abgebaut.

Bildungsminister Christoph Matschie sagt jetzt, er will zukünftig in jedem Landkreis einen Koordinator für gemeinsamen Unterricht. Wir als GEW sagen, wir brauchen die Beschäftigen in den Schulen. Die Pädagogen sind ja auch nicht gegen den gemeinsamen Unterricht, sie wollen nur die entsprechende Ausstattung. Zurzeit geht es auch auf Kosten der Gesundheit der Pädagogen, auch das ist ein Ergebnis unserer Studie. 


Kritik an Christoph Matschies Politik ist sicher berechtigt, aber von der Konzeption her dürfte er als Sozialdemokrat schon eher als die CDU die Interessen der Lehrer und Schüler im Blick haben?


So lange es nur auf dem Papier steht, im Schulgesetz oder der Schulordnung, sicher. Aber die konkrete Umsetzung bedarf personellen und sächlicher Voraussetzungen und die sind von ihm nicht geschaffen worden.

  

Könnte es denn sein, dass es in der CDU Kräfte gibt, die ganz gezielt diese Umsetzung verhindern, weil sie ihnen politisch gar nicht passt?


Seit Beginn der CDU-SPD-Koalition wird in Thüringen nicht einmal jede zweite freiwerdende Lehrerstelle neu besetzt. Wir haben folglich allein seit dem CDU und SPD in Thüringen regieren 1.100 Lehrerstellen verloren. 

Häufig wird nur noch fachfremd vertreten. Ist das nicht möglich, kommt es zu massivem Unterrichtsausfall. Es gibt Abiturklassen, in denen Naturwissenschaften, Mathematik oder Sprachen über einen längeren Zeitraum nicht angeboten werden können. Die Schulen können Fächer nicht mehr für alle zur Verfügung stellen und losen es aus. So wie im Fall einer Arnstädter Schule im Fach Latein. Das muss man sich mal vorstellen! Der zukünftige Bildungsweg eines Kindes wird per Losentscheid generiert und nicht über seine Fähigkeiten. 

Individuelle Förderung der Schüler gibt es nur noch nach Haushaltslage. Von daher ist ihre Wahrnehmung, was die CDU angeht, sicher nicht ganz falsch. Über den Finanzminister Wolfgang Voß kann die CDU zudem sehr stark in die Bildungspolitik hineinregieren. Die Probleme liegen ja nicht nur beim Bildungsminister Matschie, sondern ebenso beim Finanzminister Voß und damit auch an der Ministerpräsidentin Lieberknecht. Wir haben als GEW den Ersatzbedarf bis 2020 errechnet: 7.200 Lehrer-Stellen. Finanzminister Voß plant, bis 2020 noch einmal 4.000 Stellen an den Thüringer Schulen abzubauen. Aber bis 2020 wird die Schülerzahl in Thüringen in der Tat noch einmal um einige tausend Kinder ansteigen. Dass heißt, Haushaltssanierung auf Kosten der Zukunft unserer Kinder und auf Kosten der Gesundheit der Lehrer, Erzieherinnen und Sonderpädagogischen Fachkräfte! 

Es ist ja heute schon kaum noch möglich, den Unterricht abzudecken. Man sagt immer, in der Haushaltspolitik geht es um die Zukunft der Kinder. In der Schulpolitik geht es offenbar nicht um die Zukunft der Kinder. Kinder, die keine Gelegenheit hatten ordentlich Physik, Mathematik oder Englisch zu lernen, können später keine guten Facharbeiter oder Ingenieure werden, wählen aber schneller einmal rechtsradikale Parteien.

 

Da stellt sich natürlich unweigerlich die Frage nach der Finanzierung dieser 7.200 Stellen so dringend benötigten Stellen. 


Schon die 4.000 Stellen, die bis 2020 wegfallen sollen, sind einzig und allein haushaltspolitisch begründet. Das Bildungsministerium darf einfach nur noch jede zweite altersbedingt wegfallende Stelle wieder besetzen, egal ob  Fachbedarf besteht oder nicht!

Ich will noch mal betonen, was viele gar nicht wissen: wir haben jetzt keine zurückgehenden Schülerzahlen mehr. Bis zum Jahr 2016/17 wird die Schülerzahl sogar um etwa vier Prozent steigen. Das sind offizielle Prognosen des Thüringer Bildungsministeriums. Wir brauchen diese Lehrer, ganz einfach. Wer soll denn sonst zukünftig unsere Wertschöpfung sicherstellen, wenn nicht die Kinder, die heute in der Schule sind? 

Die Fragen nach den Kosten kommt natürlich immer wieder. John F. Kennedy hat einmal sehr treffend gesagt: Nichts ist teurer als Bildung, außer keine Bildung. Wenn in den nächsten Jahren über 7.000 Lehrer in den Ruhestand gehen, haben sie alle die höchste Gehaltsstufe. Junge Lehrer fangen dagegen in der Eingangsstufe an. Die jährliche Differenz zwischen Eingangs- und Endstufe ist je nach Schulart zwischen 16.000 und 23.000 Euro im Jahr pro Stelle. Rechnet man diesen Einspareffekt gegen, dann brauchen wir nicht mehr Geld im System. Nach unserer Berechnung wäre es sogar aufkommensneutral, die von uns geforderten zusätzlichen Stellen zum Aufbau einer Vertretungsreserve und zur Umsetzung eines gelingenden Gemeinsamen Unterrichts daraus zu finanzieren. Was wir ablehnen ist, dass aus dem Bildungssystem Geld heraus gezogen wird!

 

Was können die Eltern tun, um Druck auf die Landesregierung auszuüben, endlich etwas gegen diese Bildungsmisere zu unternehmen? 


Die Eltern sind der zentrale Bestandteil für eine Kampagne, die heißen könnte: „Gute Schule braucht...!“. Dazu muss auch die Situation jeweils vor Ort öffentlich artikuliert werden. Das wollen wir als GEW gemeinsam mit den Akteuren – Eltern, Schülern, Lehrern – koordinieren. Ich fordere jedes Elternteil auf, engagieren Sie sich in ihrer Schule, rufen Sie uns an, fragen Sie nach! Immer mehr Eltern- und Schülervertreter machen das schon. In Sachsen haben wir heute schon die Situation, dass eine landesweite Kampagne für bessere Verhältnisse an den Schulen vom GEW und Eltern gestartet werden musste. Das sind die Hinterlassenschaften von Herrn Voß, der früher dort Staatssekretär im Finanzministerium war. Das wird auch in Thüringen kommen, wenn die Landesregierung den Landeshaushalt auf Kosten der Schulen saniert!

Thomas Holzmann