Friedliche Massen auf den Straßen

Vor 100 Jahren erkämpften streikende Soldaten und Arbeiter die erste Demokratie auf deutschem Boden. Auch in Thüringen gingen die Massen auf die Straßen und übernahmen die Macht, ohne einen Schuss abzugeben. Doch die Revolution scheiterte letztlich, auch wenn der Staat von Weimar nicht so schlecht war, wie er oft gemacht wird, erläutert der Historiker Mario Hesselbarth.

Skizzieren Sie bitte den Verlauf der Revolution in Thüringen.

 

Die Thüringer Ereignisse  und auch  die in Deutschland stehen nicht für sich allein. Sie waren  Teil eines  weltrevolutionären Prozesses, der ausgehend von den russischen Revolutionen 1917 bis in die frühen zwanziger Jahre reichte, ich erinnere an die Arbeiterregierungen in Thüringen und Sachsen 1923. Dieser Prozess zeigt, dass die Welt infolge des 1. Weltkrieges massiv erschüttert war, dass der Kapitalismus global vor einer Herausforderung durch die sozialen Protestbewegungen stand.

In Thüringen kann man sich den November 1918 so vorstellen, dass Massen auf den Straßen waren. In den zeitgenössischen Presseveröffentlichungen  kenne ich keinen Bericht, der nicht aussagt, dass die jeweiligen Säle oder Plätze noch nie so voll waren wie an diesen Tagen. Sehr charakteristisch für Thüringen war, dass alles friedlich ablief. Mir ist nicht bekannt, dass in Thüringen im November 1918 im Zusammenhang mit der Revolution ein Schuss gefallen ist. Das änderte sich  Ende Januar 1919, als Regierungstruppen aus Berlin nach Weimar kamen, um die Nationalversammlung zu schützen.  Während der Besetzung Gothas durch Freikorpstruppen am 18. Februar fielen die ersten Schüsse. Aber selbst im März und April, als in verschiedenen Teilen Deutschlands  bürgerkriegsähnliche  Situation herrschten, mit dem traurigen Höhepunkt der Niederschlagung der Münchner Räterepublik, blieb es in Thüringen relativ friedlich.

 

Warum gelang es, anders als in Russland, nicht  erfahrene Offiziere für die Revolution zu gewinnen? Und war das der entscheidende Grund für das Scheitern der Revolution?

 

Die Frage ist: Was scheiterte in Deutschland? In dieser Diskussion müssen wir auch versuchen, bestimmte Mythen zu beseitigen. Ohne das Engagement und den Heroismus der damaligen Revolutionäre gering zu schätzen, muss ich klar sagen, dass die Räterepubliken in Bremen oder München bereits gescheitert waren, bevor die Militärs eingriffen. Genau das macht den Eingriff der Noske-Truppen so sinnlos und furchtbar. Im Prinzip scheiterten diese Räterepubliken politisch an sich selbst. Schauen  wir demgegenüber auf die erste Räte-Bewegung des Novembers 1918, wird sehr schnell klar: Es war eine sozialdemokratische Bewegung. Auch an den Beschlüssen des Reichsrätekongresses wird das deutlich.  Sie wollte in erster Linie die parlamentarische Demokratie. Weniger bekannt ist, dass sie auch die Sozialisierung, sprich die Vergesellschaftung der Betriebe, wollten. Auch das beschloss der Reichsrätekongress, übrigens gegen den Willen Friedrich Eberts. Und sie wollte eine Militärreform, die konsequent mit dem preußischen Militarismus bricht und an dessen Stelle  eine demokratische Volkswehr etabliert. Eine solche gab es übrigens in Erfurt, die gerade in den  Konflikten im Februar 1919 entschlossen, aber ohne Waffengewalt, einschritt. So wurde ein Putschversuch gegen den Arbeiterrat  unblutig unterdrückt. Das fatale an der sozialdemokratischen Regierungspolitik ist aus meiner Sicht, dass sie versucht hat, Regierungsautorität wiederherzustellen – gegen ihre eigene Anhängerschaft und unter Rückgriff auf das alte Militär. 

 

Der Ebert-Groener-Pakt ...

 

Ja, zum Beispiel. Aber auch durch die Aufstellung der Freikorps ab Dezember 1918. Deren Offiziere wurden im November von Arbeitern und Soldaten insofern „gedemütigt“, dass ihnen durch das Herunterreißen der Schulterstücke klar gemacht wurde, dass sie nicht länger über den Soldaten stünden. Mit den Freikorps erhielten sie die Gelegenheit, sich zu rächen. Dennoch ist die Niederlage der Revolution nicht darin zu suchen, dass es keine  republikanischen Offiziere gab, denn die gab es auch. Maßgeblich für das Scheitern waren vor allem politische Entscheidungen.

 

Die da wären?

 

Es gab verständlicherweise keinerlei theoretische Vorstellungen, wie ein Rätesystem funktionieren könnte. Diese Diskussionen setzten erst 1919 ein. Den Freiraum, den es braucht, um solche neuen Gesellschaftsformen auszuprobieren, war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gegeben, weil Ebert und Noske darauf setzten, die alte Staatsautorität wiederherzustellen. Ihr Agieren richtete sich dabei  nicht in erster Linie gegen die maßlos aufgebauschte bolschewistische Gefahr, sondern gegen die eigenen Anhänger. Erst als Folge ihrer Politik  bekam der Rätegedanke und später die Kommunistische Partei in Deutschland Massenzulauf, weil viele Sozialdemokraten sagten: Diese Politik machen wir nicht mit!

 

Ist es auch ein Mythos, dass Sozialdemokraten wie Ebert und Noske sich für ein bisschen temporäre Macht von den Militärs zum Sündenbock für die Kriegsniederlage machen ließen?

 

Bei der Rolle der SPD muss man zwischen der Führung und der Basis durchaus unterscheiden. Hermann Paul Reißhaus in Erfurt hat sich  für die Nationalversammlung ausgesprochen, gleichzeitig die Räte aufgefordert zu lernen, die errungene Macht auch auszuüben. Das ist ein ganz anderes Bild als bei der SPD-Führung, die die Räte schnellstmöglich beseitigen wollte. Ich würde aus linker Sicht nicht mehr diese klassischen Verratsthesen verwenden, sondern differenzierter herangehen. Es war eine sozialdemokratische Revolution, die von oben beeinträchtigt und letztlich beseitigt wurde. D. h. aber nicht, dass diese Revolution eine totale Niederlage war. Die Weimarer Republik war im Vergleich zum Kaiserreich ein bedeutender historischer Fortschritt. Wir betrachten sie immer aus der Perspektive des Untergangs 1933. Das ist auch richtig, aber wir sollten diese Republik nicht schlechter machen, als sie tatsächlich war.

 

Die Rechte und Freiheiten von Weimar sind unbestreitbar. Aber warum wurde, mit Ausnahme des Volksentscheides zur Fürstenenteignung 1926, nicht die Eigentumsfrage gestellt?

 

Den Volksentscheid zur Fürstenenteig-nung kann man noch im Kontext der nachrevolutionären Auseinandersetzungen sehen. Aus Sicht der Militärs und der Großindustrie ist es ja die Eigentumsfrage, die die Revolution so gefährlich macht. Die ganze Sozialisierungsdiskussion war  mit der Wahl der Nationalversammlung nicht abgeschlossen. Selbst die  Jenaer Zeiss-Belegschaft, wo durch das Stiftungsstatut, die Gewinne auch der Universität und sozialen Einrichtungen in der Stadt zugute kamen, beantragte im März 1919 die Sozialisierung des Werkes. Diese breite Debatte machte es aus Sicht all derer, die dabei verloren hätten, so gefährlich und deshalb gab es das brutale Vorgehen. Diese soziale Frage war zu Beginn der Revolution im November praktisch noch gar kein Thema, bleibt aber bis in die zwanziger Jahre hinein durchaus präsent.

 

Wenn man davon ausgeht, dass die Revolution im großen Ganzen friedlich verlief, welche Rolle spielte das Mittel des Massenstreiks, auch im Kontext von dem, was Rosa Luxemburg beschrieb und was 1920 gegen den Kapp-Putsch praktiziert wurde?

 

1918 spielte der Generalstreik insofern keine Rolle, weil die Revolution vom Militär ausging. Es war ein Militärstreik. Schon im Frühjahr 1918 verweigerten sich mindestens eine Million Soldaten dem Fronteinsatz. Mit dem Aufstand der Kieler Matrosen schlug dieser verdeckte Militärstreik in einen offenen um und löste die Revolution aus. Ökonomische Streiks, im Sinne Rosa-Luxemburgs, waren eher symbolisch. Politische Streiks setzten erst nach der Ermordung von ihr und Karl Liebknecht ein. Da wurde auch in Thüringen aus Protest massenhaft gestreikt. Beim mitteldeutschen Generalstreik im März 1919 ging es bereits um die Sozialisierungsforderungen. Diese Streiks endeten größtenteils ohne Erfolge und erst recht nicht in einer Revolution. Beim Putsch 1920 findet sich mehr das Konzept des SPD-Vorstandes von 1906 wieder, das gegen Rosa Luxemburg gerichtet war, nämlich zur  Abwehr einer Gefahr und nicht zur Durchsetzung politischer Ziele. Im Ruhrgebiet wurden 1920 durch die Streikenden auch weitergehende politische Forderungen gestellt, durch das teilweise Erfüllen einiger ihrer Anliegen kam es zu ihrer Spaltung und am Ende zur militärischen Niederschlagung. In Thüringen spielte der Gedanke aus dem Generalstreik eine Revolution zu machen, nur in den ersten Tagen eine Rolle.

 

Kann man von den Ideen Luxemburgs zum Massenstreik überhaupt etwas auf die heutige Zeit übertragen?

 

Aus der Geschichte muss man eigene Schlussfolgerung ziehen, aber nicht einfach Konzepte von vor 100 Jahren  auf heute übertragen. Allerdings kann gerade bei Rosa Luxemburg sehr viel nachgelesen werden, wie solche Konzepte weiter entwickelt und an die jeweilige Zeit anzupassen sind.  Sie würde heute bestimmt nicht sagen, ihr müsst es genauso machen, wie ich es vor 100 Jahren gesagt habe. Im Gegenteil. Gerade sie hätte das Potenzial und die Courage gehabt, ihr Massenstreikkonzept  selbst weiter und in die Zukunft gerichtet zu denken. Protest auf der Straße ist immer wichtig. Gerade die #unteilbar-Demo in Berlin hat gezeigt, wie die gesellschaftlichen Mehrheiten in diesem Land sichtbar gemacht werden können und müssen. Zu meinem großen Bedauern ist DIE LINKE insgesamt noch nicht in der Lage, solche Impulse stärker in ihre Politik  aufzunehmen.    

                               

Thomas Holzmann

 

Mario Hesselbarth ist Historiker, Mitglied des Gesprächskreises Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung und veröffentlichte u.a. das Buch: Gegen das Hissen der Roten Flagge auf dem Rathaus erheben wir keinen Einspruch. Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen. Auf www.rosalux.de kann es kostenlos heruntergeladen oder zum Versandkostenpreis bestellt werden.