Es kann jeden treffen, viel schneller als die meisten denken

Durch eine verfehlte Politik sind immer mehr Menschen gezwungen zur Tafel zu gehen, selbst jene, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben. Für den Vorsitzenden des Landesverbandes der Thüringern Tafeln, Martin Oeltermann, ist die Politik hier zum handeln aufgefordert.

35 Tonnen Lebensmittel wurden durch die erfolgreiche Wette Christoph Matschies zum Bundestafeltreffen in Suhl gesammelt. So erfreulich die Spendenbereitschaft ist, hat man da auch ein weinendes Auge, wenn es so viele Menschen gibt, die diese Lebensmittel tatsächlich benötigen?


Das kann man sicherlich so sehen. Diese Wetten sind allerdings Tradition bei den Tafeltreffen. Auch wir hatten uns gesagt, wir wollen etwas besonderes bieten, so wie wir es auch zu Weihnachten tun. Da gehen wir gezielt in die Supermärkte und bitten um Spenden, wie ein Päckchen Kaffee. Solche Sachen, mit einem langen Haltbarkeitsdatum, die bekommen wir sonst als Tafel nicht gespendet. Es soll ja auch eine Einkaufsentlastung sein. Das Geld, was die Menschen so einsparen, können sie für ihre Familien einsetzen oder um am kulturellen Leben teilzuhaben. 


Gerade von links gibt es aber Kritik, weil die Menschen so zu Bittstellern gemacht werden und das eigentliche Armutsproblem nicht gelöst, sondern eher noch verschlimmert wird.



Eigentlich sind wir uns ja einig: die Tafeln sollten schnellst möglich abgeschafft werden. Unsere Kritiker argumentieren, wir helfen dem Staat dabei, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Dass die Sozialgesetzgebung, Harz IV im Besonderen, dringend überholungsbedürftig ist, steht außer Frage. In manchen Punkten kann ich die Kritiker aber überhaupt nicht verstehen. So werfen sie uns vor, wir würden die Situation noch verschärfen. Wenn wir als Landesverband von der Politik Gelder für unsere Arbeit fordern würden, dann wäre das vielleicht gerechtfertigt. Da unterscheiden wir uns aber von anderen großen Sozialverbänden. Dass es bei über 900 Tafeln in ganz Deutschland nicht ohne größeren bürokratischen Aufwand geht, ist logisch. Die Aufgabe der Tafel ist aber nicht die Bekämpfung der Ursachen. Zu unseren Leitgedanken gehört die Müllvermeidung bei Lebensmitteln und den Menschen Hilfe zu gewähren, die sie auch tatsächlich benötigen. Wir können nur die Folgen lindern, auch wenn wir solche Gelegenheiten wie das Bundestafeltreffen nutzen, um den Finger in die Wunde zu legen. Wir zeigen immer wieder, was in diesem Land eigentlich nicht sein müsste. Ändern muss das aber die Politik und natürlich auch jeder Einzelne.

 
Wobei der Leitgedanke der Müllvermeidung angesichts der enormen Verschwendung von Lebensmitteln schon ein politischer Auftrag ist?


In Thüringen machen die meisten Supermarkt-Ketten mit. Für den Suhler Bereich kann ich sagen, dass nur noch das weggeworfen wird, was auch die Tafel nicht mehr gebrauchen kann. Da ist durch die Arbeit der Tafeln in den letzten Jahren schon eine Sensibilisierung bei den Verbrauchern erreicht worden. Lebensmittel mit sehr kurzem Haltbarkeitsdatum oder dem „zu verbrauchen bis“ bekommen wir in der Regel gar nicht. Die Frage, die sich mir immer stellt, wie können wir die Produzenten sensibilisieren? Dazu gehört die Überproduktion, aber auch die ständige Einführung neuer Produkte, die sich dann gar nicht verkaufen lassen. Da ist der Verbraucher gefragt! Jeder will ja beim Einkaufen um 22:00 Uhr noch komplett gefüllte Regale sehen. Da müssen wir unser Konsumverhalten überdenken. Das können wir nicht allein über staatliche Politik oder mediale Präsenz der Tafeln regulieren, sondern über das Gewissen der Verbraucher. So etwas muss immer wiederholt werden, damit es im Bewusstsein wachsen kann, doch das dauert ein oder zwei Generationen und wird nur über eine bessere Bildungspolitik funktionieren können. 

Bleiben wir beim Bewusstsein: Was für Menschen sind das, die zur Tafel kommen?


Das ist eine sehr bunte Mischung. Es kann jeden treffen, viel schneller als die meisten denken. Der Arbeitsplatz wird wegrationalisiert oder das Unternehmen geht in die Insolvenz. Sind die Leute dann noch über 50, kriegt man keinen Anschluss mehr. Das kann sogar Akademiker treffen. Auch sie gehören zu unseren Kunden, genauso wie der klischeehafte Bild-Zeitungs-Hartz-Vierer. Am besorgniserregenden ist für mich aber die stetig zunehmende Zahl an Rentnern, bei denen die Grundsicherung nicht mehr ausreicht. In West wie Ost muss die Politik da handeln. Es kann doch nicht sein, dass man sein ganzes Leben gearbeitet hat und dann zur Tafel gehen muss.

 
In den nächsten Jahren sind größere Wirtschaftskrisen alles andere als unwahrscheinlich. Ist die Tafel vorbereitet, wenn dadurch die Zahl der Bedürftigen massiv ansteigt?

 
So wie wir aufgestellt sind, sollte es jedenfalls nicht so sein, dass die Leute hungern müssen. Die Frage ist, welche Aufgabe hat die Tafel in einer solchen Krisensituation? Schauen wir uns die jetzigen Arbeitslosenzahlen an, müssen wir davon ausgehen, dass die tatsächliche Arbeitslosenzahl schon jetzt bei etwa fünf Millionen und nicht bei 2,8 Millionen steht. Nicht nur die Rentenbescheide schockieren mich, auch die Verdienste, die ich manchmal sehe. Wir müssen das prüfen, um eine Bemessungsgrenze zu haben. Wenn man dann Stundenlöhne von 3,15 Euro sieht, ist man erstmal geschockt.


Die Tafeln finanzieren sich ausschließlich aus Spenden und ehrenamtlicher Arbeit. Wie schwer ist es heutzutage, Freiwillige zu finden?


Ich kann mich nicht beklagen, dass wir zu wenige Ehrenamtliche hätten, aber auch nicht gerade zu viele. Hier in Suhl haben wir das große Glück, neun Bürgerarbeitsstellen zu haben. Durch den Wegfall der Ein-Euro-Jobber sind aber auch große Lücken entstanden. Problematisch ist, dass wir oft Leute brauchen, die körperlich arbeiten können, doch die sind durch andere berufliche Verpflichtungen nicht immer verfügbar. Viele Tafelkunden helfen gerne mit, aber die haben auch ihre Einschränkungen. Insofern wird es schwierig, bestimmte Dinge ehrenamtlich noch zu gewährleisten. So trifft man oftmals die selben Verdächtigen, die sich engagieren. Abzüglich der Profilneurotiker bleiben nur noch wenige übrig, die alles wirklich aus purem Idealismus heraus machen. In der Bundestafel wird wohl bald ein kleines Loch entstehen. Für mich als ehrenamtlicher Vorsitzender in Thüringen ist alles noch überschaubar, aber von Kiel bis Garmisch wird es schwer, jemanden zu finden, der das alles ehrenamtlich übernimmt. 


Trotz dieser Probleme gehen manche Tafeln noch über die Essenausgabe hinaus und bieten auch Kleidung und Möbel an. Soll das noch weiter ausgebaut werden?  


Das hängt vom Träger ab. Bei der Berliner Tafel ist es so, dass sie nur einsammeln und dann auf alle anderen sozialen Träger mit Essenausgabe verteilen. In Suhl, wo der Träger die die Kirche ist und wir auch im Fami-lienzentrum sitzen, ist die Situation anders und wir haben auch eine Kleiderkammer. Ein Pullover, der noch sehr gut in Schuss ist, für 20 Cent abzugeben, überfordert niemanden und man erreicht damit auch eine gewisse Wertschätzung. Deswegen nehmen wir bei der Essenausgabe den Tafeltaler, damit die Leute sich nicht nur als reine Bittsteller fühlen müssen, sondern wie Kunden behandelt werden. Auch in Gera wurde das Tafelumfeld Stück für Stück ergänzt, wo man für fünf Euro jetzt auch mal ein Sofa bekommen kann. Das hilft den Betroffenen und der Tafel gleichermaßen. 


Was wünschen Sie sich zukünftig von der Politik, abgesehen von einer anderen Sozialpolitik?


 Ich würde mich sehr freuen, wenn noch weitere Landespoltiker Mitglieder des Thüringer Landesverbandes werden. Aber nicht, um politisch daraus Kapital zu schlagen, sondern um vor Ort dabei zu sein und erkennen zu können, wie die Stimmung ist und vor allem wo die Probleme liegen. Von der Bundespolitik wünsche ich mir, dass alle freien Träger, nicht nur die Tafeln, mehr Unterstützung was das Thema Ehrenamt betrifft, erhalten. Der neue Bundesfreiwilligendienst ist ja gut und schön, aber wir haben einen solchen Verwaltungsapparat hinten anstehen, das frisst so viel Arbeitszeit und ist so komplex, dass es von „Amateuren“ kaum noch zu bewältigen ist. Und natürlich würden wir uns freuen, wenn die eine oder andere Wertschätzung unserer Arbeit nicht nur verbal, sondern in Form einer Zuwendung kommt – Euro-Krise hin oder her. 


Thomas Holzmann