„Es ist eine Schande“

Interview

Weil er für französische Zwangsarbeiter die Marseillaise spielte, sperrten ihn die Nazis in Buchenwald ein. Kleinschmalkalden hieß von 1945 bis 1990 zu Ehren seines von den Nazis ermordeten Vaters Pappenheim. Günter Pappenheim (94) empört sich in einem offenen Brief an Finanzminister Olaf Scholz über die Aberkennung der Gemeinnützigkeit des VVN.

Mein Vater, Ludwig Pappenheim, war in Schmalkalden einer der Mitbegründer der SPD, also Sozialdemokrat wie Sie. Er genoss das Vertrauen der Menschen, weil er für die Durchsetzung ihrer Interessen eintrat.

 

Im Frühjahr 1932 wurden in unserem Wohnhaus die Fensterscheiben eingeschlagen und öffentlich wurde zum Mord aufgerufen: „Schlagt die Judensau tot!“

 

Am 25. März 1933 verhaftete man den Vater, ohne dass es einen Haftbefehl gab, unter fadenscheinigen Gründen und ordnete „Schutzhaft“ an, trotz seiner Immunität als Abgeordneter des Provinziallandtages. Vom Gefängnis Suhl wurde er ins Gefängnis Kassel verlegt und von dort musste er in das Konzentrationslager Breitenau, von dem aus er in das KZ Neusustrum überstellt wurde. Nach Misshandlungen und Folter brachten ihn die Hitlerfaschisten am 4. Januar 1934 bestialisch um.

 

Meiner Mutter, sie war seit 1925 aktive Sozialdemokratin, wurde es verwehrt, ihren Mann, unseren Vater, in Schmalkladen zu bestatten. Sie war fortan mit vier Kindern auf sich allein gestellt.

 

Ich wurde am 14. Juli 1943 nach einer Denunziation in Schmalkalden von der Gestapo verhaftet und ins Gefängnis Suhl gebracht, wo mich Gestapo-Beamte fünf Tage miss- handelten. Von Suhl brachten sie mich in das Arbeitslager Am Gleichberg und nach kurzer Zeit war ich Häftling Nummer 22514 im Konzentrationslager Buchenwald.

 

Am 19. April 1945 gehörte ich zu den 21.000 Überlebenden dieses Lagers und leistete an der Seite meines sozialdemokratischen Kameraden Hermann Brill den „Schwur von Buchenwald“. Dessen Kernaussage: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“  wurde mir ebenso wie den meisten meiner Kameraden zur Lebensmaxime.

 

In diesem Sinne beteiligten sich meine Mutter in Funktionen und ich nach 1945 als Mitglieder der SPD aktiv am demokratischen Neuaufbau in Schmalkalden. Unser Ratgeber war Hermann Brill.

Wir sahen in einer vereinten Arbeiterpartei die Möglichkeit, Voraussetzungen zu schaffen, dass es nie wieder faschistischen Terror geben wird.

 

Viele von den Hitlerfaschisten Verfolgte organisierten sich 1947 in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN).

 

Dieser größten deutschen überparteilichen Verfolgtenorganisation, heute Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, wird fast fünfundsiebzig Jahre nach dem Schwur von Buchenwald vom Finanzamt für Körperschaften I des Landes Berlin die Gemeinnützigkeit entzogen, verbunden mit Steuernachforderungen in fünfstelliger Höhe und weiteren Folgerungen.

 

Lässt sich vorstellen, wie ich mich als Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos schäme, meinen Kameraden sagen zu müssen, dass wir in Deutschland, das sich rühmt, ein freiheitlich demokratischer Rechtsstaat zu sein, regierungsamtlich wieder Verfolgte sind?

 

Soll ich meinen Kameraden erklären müssen, dass die vom AfD-Funktionär, dem Faschisten Höcke geforderte „geschichtspolitische Wende um 180 Grad“ jetzt staatlicherseits betrieben wird, indem mit fadenscheinigsten Begründungen der Verfolgtenorganisation die materielle Handlungsfähigkeit entzogen wird?

 

Muss ich meinen französischen Kameraden, die den Präsidenten der Republik Frankreich veranlassten, mich als Antifaschisten zum „Kommandeur der Ehrenlegion“ zu ernennen, jetzt erklären, dass in Deutschland Antifaschismus nicht gemeinnützig, weil politisch ist?

 

Es ist eine Schande, dass mit der Zerschlagung dessen, was wir 1945 als antifaschistischen Konsens verstanden, gewartet wurde, bis fast keine Zeugen faschistischer Verbrechen mehr vorhanden sind, um ihre protestierende Stimme erheben zu können.

 

Und ich muss feststellen, dass wohlklingende Forderungen in deutschen Politikerreden, die offen sichtbare Rechtsentwicklung zurückdrängen zu müssen, nicht glaubhaft sind, wenn zugleich zivilgesellschaftliche Kräfte, wie sie in der VVN-BdA, bei attac oder campact agieren, in finanzielle Fesseln gelegt werden.

 

Es kann Ihnen, Herr Minister, nicht verborgen geblieben sein, wie immer dreister, frecher, anmaßender, gewaltsamer und öffentlichkeitswirksamer rechtsextremistische Kräfte handeln! Unter diesen Bedingungen zielgerichtet Gegenbewegungen auszuschalten, ist nicht nur grob fahrlässig, sondern höchst gefährlich.

 

Ich erwarte von Ihnen und weiß mich in Übereinstimmung mit meinen Kameradinnen und Kameraden, mit sehr vielen Freundinnen und Freunden, das Sie sich kraft Ihres Amtes unverzüglich für eine Aufhebung der strangulierenden Maßnahmen einsetzen.

Mit freundlichen Grüßen

Günter Pappenheim