Es fehlt eine Debatte um die ideologischen Kontinuitätslinien

Gleichheit aller Menschen muss Element emanzipatorischer Bildung sein, damit Gewalt zum erreichen politischer Ziele ausgeschlossen wird, die Konsequenz zieht der LINKE Innenpolitikexperte Steffen Dittes nach den Anschlägen von Norwegen

Seit Jahren hetzen Rechtspopulisten gegen Linke, Ausländer und alles Fremde. War es da nicht eine Frage der Zeit, bis es zu einer Bluttat wie in Norwegen kommen würde?


Es gibt sicher keinen Automatismus, denn bis man eine Waffe in die Hand nimmt und Menschen umbringt, müssen erhebliche ethische Hürden übersprungen werden. Was es aber gibt, sind ideologische Kontinuitätslinien, beginnend von der Abneigung gegen-über Menschen, die vermeintlich nicht hierher gehören. Die werden auf Grund von Herkunft, Staats- oder Religionsangehörigkeit als fremd definiert, obwohl ein Mensch als solcher auf der Welt niemals fremd ist. Die Abneigung gegenüber dem konstruierten Fremden kann dann zu einer Radikalisierung führen, die auch diejenigen, die alle Menschen überall als mit gleichen Rechten ausgestattet ansehen, zum Ziel eines tätlichen Angriffes macht. 


Wie hoch ist die Gefahr, dass Neo-Nazis in Deutschland derartige Taten wie in Norwegen begehen?


Es gibt nach meiner Ansicht derzeit keine politische Organisation, die sich einen derartigen Anschlag in einem solchen erschreckenden Ausmaß zum Vorbild für ihre politischen Aktionen macht. Aber es besteht immer die Gefahr, dass Einzelne, die sich radikalisieren, in solchen Taten, neben der Verbindung zur eigenen menschenverachtenden Ideologie, auch noch andere Symboliken wieder entdecken: Männlichkeit, Machtausübung, Kontrolle über andere durch Waffen oder das Hineinschlüpfen in eine vermeintliche Heldenrolle. Eine Gefahr ist dennoch unbestritten, dass rechtsextremistische Organisationen und Gruppen Gewalt zum Mittel der politischen Auseinandersetzung machen und in einer Art Untergrundkampf, Terror gegen eine humanistische Gesellschaft und Andersdenkende ausüben.


Warum gibt es jetzt keine große Debatte über den Rechtsextremismus? 


Zum einen wäre es scheinheilig, denn wir haben in der Bundesrepublik genug Anlässe gehabt, um uns mit Rechtsextremismus und dessen menschenverachtender Ideologie auseinanderzusetzen. Aber ein Grund ist auch, dass die Begründungswelt des norwegischen Attentäters eher diffus wirkt und eben nicht den klassischen historischen Rechtsextremismus widerspiegelt. Einen anderen Grund sehe ich aber auch darin, dass Islamophobie – nicht zu verwechseln mit Religionskritik – und die Angst vor der Überfremdung durch Muslime in konservativen Kreisen Westeuropas weit verbreitet und zum Teil auch rassistisch begründet ist. Mir fehlt deshalb besonders eine Debatte um die bereits angesprochenen ideologischen Kontinuitätslinien. Das ist auch für DIE LINKE nicht so einfach, insbesondere auch vor dem Hintergrund der Debatte um den gewalttätigen Konflikt zwischen Israel und Palästina. Da gibt es ganz merkwürdige Konstellationen. Wir haben Rechtspopulisten in ganz Europa, die plötzlich den Schulterschluss mit Israel vollziehen. Wilders in den Niederlanden oder die FPÖ in Osterreich benutzen Israel, um ihre Islamfeindlichkeit auszuleben. Mit derartigen neuen Konstellationen tun wir uns auf der politischen Ebene natürlich schwer.


Wie weit die Islamfeindlichkeit verbreitet ist, sieht man auch an Bündnissen wie „Pro Deutschland“. Müsste man da nicht auch von staatlicher Seite viel genauer hinschauen?


Ich bin überhaupt kein Freund von staatlichen Geheimdiensten. Viel wichtiger wäre es, derartige islamophobe Gruppen stärker in den Fokus einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu rücken, auch über eine medial transportierte Debatte. Bei der „Pro“-Bewegung sind es vorrangig Rechtsextreme, die mit der postulierten Islamfeindlichkeit versuchen, Anhänger auch für ihre sonstigen rechtskonservativen Positionen zu gewinnen. Und hinsichtlich der vollkommen verquer geführten Debattenbeiträge zu Migration und Integration brauchen wir endlich eine sachliche Basis, die sich mit der Frage religiöser Werte, christlicher wie muslimischer oder jüdischer, ebenso beschäftigt, wie mit der Frage, was muss ein Staat leisten, damit die in ihm lebenden Menschen, unabhängig ob hier geboren oder nicht, ihr Leben selbstbestimmt organisieren können. Die Meinungsäußerungen zum Entstehen von Parallelgesellschaften oder zur Armutsmigration dürfen nicht länger als Vorwurf an die Menschen, die hierher kommen, missbraucht werden, sondern müssen als Aufforderung an unsere Gesellschaft verstanden werden, den Umgang mit MigrantInnen und unsere sozialen Sicherungssystem zu verändern.


Kann man sagen, dass Muslime als Sündenböcke herhalten müssen? 


Eine derartige Sündenbockdebatte funktioniert nur, wenn es in der ideologischen Grundeinstellung schon ablehnende Haltungen gegenüber dem konstruierten Fremden gibt. Wenn ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen mache, dass es Menschen gibt, die nicht hierher gehören, dann ist der Weg nicht weit, denen die Schuld an vorhandenen Problemen zu geben. Menschen, die über ein sehr geringes Einkommen verfügen, ist die Teilhabe an der Gesellschaft erschwert. Dazu gehören viele MigrantInnen und deren Kinder, aber eben nicht nur. Die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, an Kultur, an Bildung, ist deutschen EmpfängerInnen von Hartz-IV-Leistungen in gleichem Maße erschwert. Die Frage der sozialen Verwerfungen in diesem Land ist keine Frage der Herkunft, sondern eine Frage fehlender Verteilungsgerechtigkeit. Die Konstruktion von Sündenböcken soll letztlich von den tatsächlichen Verantwortlichkeiten ablenken. Dazu kommt noch die Bedienung rassistischer Ressentiments und ein gefährlicher Einstellungsmix ist am Entstehen und Wachsen.


Um das verdeutlichen, bräuchte man mehr Programme zur Aufklärung über fremde Kulturen und gegen Rechtsextremismus. Warum wird da im Nachgang zu dem Attentat in Norwegen nicht mehr getan?


Am Anfang steht immer eine politische Einstellung. Wir haben in den letzten Jahren eine Rückbesinnung auf eine Art Volksidentität erleben müssen. Bestes Beispiel war die „Du-bist-Deutschland-Kampagne“, mit dem exakt gleichen Wortlaut, wie er auch von den Nazis benutzt wurde. Diese Rückbesinnung auf das Konstrukt des „eigenen Volkes“ ist nicht nur wissenschaftlicher Blödsinn, sondern bedeutet immer den Ausschluss von Menschen. Je mehr die Konstruktion des Volkes den Rechtsrahmen verlässt und eine emotionale Ebene einnimmt, desto mehr wird auch das gesellschaftliche Klima verstärkt, in dem Menschen zu Fremden erklärt, ausgegrenzt und letztlich auch aktiv diskriminiert werden. Ich will dem Großteil der Konservativen in Thüringen gar nicht absprechen, dass sie den Rechtsextremismus bekämpfen wollen. In der Konsequenz würde dies aber erfordern, sich selbst und die eigenen Positionen zu hinterfragen, ob nicht auch Positionen gruppenbezogener Ausgrenzung und Diskriminierung, beispielsweise im Umgang mit Flüchtlingen, Positionen sind, die es fast unmöglich machen, rassistischen Positionen der extremen Rechten glaubhaft entgegenzutreten.


Statt sich solche Fragen zu stellen, rufen die Konservativen nur nach mehr Überwachung und Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung …


Es ist erschreckend, wie Politiker einen solchen Anschlag missbrauchen, um ihre seit Jahren in der Öffentlichkeit herumvagabundierenden Forderungen nach mehr staatlicher Überwachung zu untermauen. In Norwegen gibt es – zugegebenermaßen erst seit April diesen Jahres – die Vorratsdatenspeicherung und die konnte den Anschlag nicht verhindern. Wer Sicherheit garantieren wollte, müsste die Freiheit derart beschneiden, dass man letztlich in einem totalitären Überwachungsstaat ohne Bürgerrechte leben würde. Und selbst dann wäre keine hundertprozentige Sicherheit garantiert. Sicherheit muss ohnehin viel weiter definiert werden, nicht nur im Sinne körperlicher Unversehrtheit, sondern auch im Hinblick auf die soziale Sicherheit. Es gibt gute Gründe, den staatlichen Zugriff auf die Privatsphäre des Einzelnen, weitestgehend auszuschließen. Die Freiheit des Einzelnen vor dem Zugriff des Staates ist ein hohes Gut, die wir nicht einem autoritären Sicherheitskonzept opfern dürfen. 


Was wäre denn der schnellste Weg, um präventiv so etwas wie in Norwegen verhindern zu können?


Bei Einzeltätern gibt es nur sehr wenige beeinflussende Instrumente, wenn das nahe Umfeld selbst nicht mehr wirkt. Gesellschaftlich ist es aber notwendig, ethische Grenzen im Umgang von Menschen immer wieder zu festigen. Das heißt z. B. Gewalt und Unterdrückung als legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer oder ökonomischer Ziele, auch für Staaten, zu hinterfragen und zu ächten. Dafür können wir mit einer humanistischen und aufklärerischen Bildung und mit der Entwicklung gewaltfreier Konfliklösungsmechanismen etwas tun. Das Element was den Menschenrechten zu Grunde liegt ist die Gleichheit aller, ohne Unterschiede. Dies jungen, aber auch den älteren Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen vorlebend mit auf den Weg gegeben, hilft, sie vor politischen Einstellungen zu immunisieren, die Elemente der Ungleichheit beinhalten. Wenn man das zur Grundlage eines emanzipatorischen lebenslangen Bildungsprozesses macht, könnte es auch gelingen, Gewaltanwendung weitestgehend auszuschließen. 

Thomas Holzmann