„Du kannst etwas tun“

Günter Pappenheim ist einer der letzten Zeitzeugen, die das KZ Buchenwald überlebt haben. Ein Gespräch über den Horror der NS-Zeit, die Solidarität unter den Mitgefangenen, den Kampf gegen das Vergessen und die Verantwortung für die Zukunft.

 

Kleinschmalkalden hieß mal Pappenheim

 

Der Vater hatte als engagierter Antifaschist jüdischer Herkunft keine Chance. 1934 ermordeten die Nationalsozialisten den SPD-Landtagsabgeordneten und Gründer der Zeitung „Die Volksstimme“ Ludwig Pappenheim. Ihm zum Gedenken wurde nach dem Krieg Kleinschmalkalden in Pappenheim umbenannt. 1990 wurde diese Ehrung nach einer Volksbefragung wieder rückgängig gemacht. Dass die Erinnerung an die Familie und die Schrecken der Nazibarbarei trotzdem nicht verblasste, ist seinen Söhnen zu verdanken. Kurt starb im September 2018, aber Günter Pappenheim kämpft auch mit 94 Jahren noch unermüdlich gegen das Vergessen an. 

 

Kleine Lichtblicke der Solidarität

 

Nach dem Tod des Vaters blieb die Mutter mit vier Kindern allein zurück. „Wir wurden ausgegrenzt, beschimpft, bespuckt“, erinnert er sich an seine Schulzeit. „Es gab aber auch einige, die nicht mitgemacht und sogar andere, die ab und an eingegriffen haben“, so Pappenheim über kleine Lichtblicke der Solidarität. 

 

Freunde gesucht, die auch ausgegrenzt wurden

 

Nach der Schule begann er eine Ausbildung zum Schlosser, doch die Schikanen gingen im Betrieb weiter. „Pappenheim, der Jude und Sozi, das war allgemein bekannt. Deshalb habe ich mir Freunde gesucht, die genau wie ich ausgegrenzt wurden, und das waren die Zwangsarbeiter.“ Zu einem Belgier und einem Jugoslawen entwickelte sich eine besonders enge Freundschaft. Die interessierten sich vor allem für die Frage: Wann kommen wir wieder nach Hause? Pappenheim versorgte sie mit Infos über den Kriegsverlauf. „Das hat mir Freude gemacht, weil ich spürte: Du kannst etwas tun.“

 

Denunziert wegen der Marseillaise

 

Dann kam der 14. Juli 1943, Jahrestag der französischen Revolution. Mit seiner Ziehharmonika, auf der Pappenheim sonst gerne Volkslieder zum Besten gab, spielte er für französische Zwangsarbeiter in der Mittagspause die Marseillaise. Ein großes Risiko und tatsächlich: „Ein Mann in der Verwaltung hatte nichts Wichtigeres zu tun, als die Gestapo anzurufen.“ An die Namen der NS-Schergen, die ihn in das gleiche Suhler Gefängnis brachten wie zehn Jahre zuvor seinen Vater, erinnert sich Pappenheim noch. 

Das Spielen mit der Ziehharmonika hat er gleich zugegeben. Aber sie wollten mehr: „Wer ruft zu Sabotage und zum Langsam-Arbeiten auf? Dass ich davon nichts wusste, haben sie mir nicht geglaubt.“ Nachdem die Gestapo keine weiteren Informationen erprügeln konnte, ging es nach Röhmhild ins „Arbeits- und Erziehungslager“, wie es im NS-Jargon hieß, zur Zwangsarbeit im Steinbruch. 

 

Solidarität gab Kraft

 

Als der Schutzhaftbefehl mit der Überstellung nach Buchenwald eintraf, wurde Pappenheim wieder schwer misshandelt. In Buchenwald sahen die Mitgefangen, wie übel sein Rücken zugerichtet war. Die gut organisierten Kommunisten und Sozialdemokraten im Lager hatten seinen Vater gekannt und versprachen dem Sohn, alles zu tun, damit wenigstens er überlebe. „Und sobald die Wachen dir den Rücken zukehren, hör auf zu arbeiten. Du musst bis heute Abend durchhalten“, erklärten sie ihm. Diese Solidarität habe ihm die Kraft gegeben, die Lagerhölle und die Schufterei im Straßenbau zu überleben.

 

„Gewehre sind zum Totschießen da, das musst du anders machen ... “

 

Kapo Hermann Schönherr brachte ihn schließlich als Schlosser im Weimarer Wilhelm-Gustloff-Werk unter, einem Außenlager neben dem KZ, in dem Waffen hergestellt wurden. Die Arbeit war weniger hart und man war Wind und Wetter nicht mehr ausgesetzt. Aber Pappenheim musste Gewehrläufe schleifen und dachte sich: „Gewehre sind zum Totschießen da, das musst du anders machen ... “ Das tat er und der Kapo klopfte ihm dafür sogar anerkennend auf die Schulter. Doch seine Sabotage fiel sofort auf. Nur das Netzwerk von Kommunisten und Sozialdemokraten bewahrte ihn vor harter Bestrafung. Sie versteckten Pappenheim in der Krankenbarracke. Danach nahm der neue Kapo, Dr. Walter Wolf, ihn unter seine Fittiche und bis zum Tag der Befreiung war er als Lagerschlosser tätig.  

 

Tag der Befreiung: „Uns ist das Herz übergelaufen“

 

„Wir haben am Abend vorher schon den Donner der Kanonen gehört“, erinnert sich Pappenheim. „Schlafen konnte in dieser Nacht keiner.“ Das Gerücht, die SS könnte das Lager vom nahe gelegenen Flugplatz Nora aus bombardieren, machte noch die Runde. Dann aber sei ein Ruf ertönt: „Sämtliche SS-Leiter verlassen das Lager!“ Danach übernahmen die Häftlinge das Lager. Weiße Unterhosen wurden als Zeichen der Kapitulation für die herannahenden Amerikaner aufgezogen. „Uns ist das Herz übergelaufen“, sagt Pappenheim über jenen 11. April 1945, „und als über die Lautsprecher verkündet wurde: ,Kameraden, wir sind frei!‘, habe ich jeden umarmt und geküsst, der mir über den Weg lief.“

 

Schwur von Buchenwald: „Ein großes Kunstwerk“

 

Am 19. April 1945 war Pappenheim beim Schwur von Buchenwald dabei. „Das war das Ergebnis vieler Nationen und Sprachen. Diesen einstimmig zu verabschieden war ein großes Kunstwerk“, sagt Pappenheim stolz. 

 

Kämpfen lohnt sich! 

 

„Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

Ein Bekenntnis, das unverändert Gültigkeit habe. „Der Schwur hat durch die Rechtsentwicklung sogar noch an Bedeutung gewonnen“, findet Pappenheim, denn „mit den Wurzeln wurde nichts ausgerottet.“ Er appelliert an die Jugend, auf die Straße zu gehen, für Recht und Freiheit zu kämpfen – und dafür, dass eine Welt erhalten bleibe, in der es sich lohne zu leben, so wie es Fridays for Future tun. Dass bei Demos von Antifaschisten gegen Nazis das Zitat aus dem Schwur von Buchenwald oft auf den Transparenten zu sehen ist, freut ihn. Denn der Antifaschismus habe zwei Aufgaben: „Dafür zu sorgen, dass ordentliche, demokratische Verhältnisse geschaffen werden und dass der Frieden erhalten wird. Dafür zu kämpfen lohnt sich für die Jugend, denn alle wollen in einer freien Welt leben.“                 

 

Thomas Holzmann