Dramatische Schieflage bei der Verteilung von Vermögen

Thomas Holzmann sprach mit Prof. Dr. Klaus Dörre, Direktor des Instituts für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena über die Vereinnahmung des 1. Mai durch Neonazis und worum es wirklich am Tag der Arbeit gehen sollte.

Warum versuchen die Nazis, immer wieder den 1. Mai zu vereinnahmen?


Diese Strategie der Nazis ist nicht neu und lässt sich bis auf die NSDAP zurückverfolgen. Neofaschistische Gruppen versuchen immer wieder, Protestgründe zu finden und für sich umzudefinieren. Dabei werden Symbole, Parolen und Kleidung aus dem linken Spektrum benutzt. „Autonome Nationalisten“ amen in ihrem äußeren Erscheinungsbild linke Autonome nach. In Hessen haben Neonazis versucht, beim Ostermarsch mitzumarschieren. Der Versuch, den 1. Mai zu okkupieren ist im Grunde nichts anderes. Der 1. Mai wird zum Tag der „deutschen Arbeit“ erklärt, Betonung auf „deutsch“, und Rechtsextreme versuchen, ihn im Sinne von neonazistischerer Propaganda umzufunktionieren.


Jobcenter vermitteln in 2,32 Stundenlohn


Dabei gäbe es auch ohne Nazi-Problem genügend Gründe, um auf die Straße zu gehen, nicht nur am 1. Mai. 


Deswegen versuchen die Rechten genau diese Themen zu okkupieren. Wir haben es offiziell mit einem „deutschen Beschäftigungswunder“ zu tun. Real gibt es aber eine Verschiebung aus der Arbeitslosenstatistik in die prekäre Beschäftigung. Wir haben einen stark ausgedehnten Niedriglohnsektor. Die Jobcenter vermitteln im Extremfall in Arbeitsverhältnisse mit 2,32 Stundenlohn, z. B. in Callcentern oder für 3,58 Euro in die Leiharbeitsbranche. Wir haben es mit einer dramatischen Verwilderung des Arbeitsmarktes zu tun, insbesondere für die unteren 25 Prozent der Einkommen, die aus den prekären Verhältnissen gar nicht mehr raus kommen. Die Menschen, die noch in regulärer Beschäftigung sind, werden mit einem enormen Druck konfrontiert. Die einen haben zu wenig oder gar keine Arbeit und andere haben davon so viel, dass sie krank werden. Diskussionen um das Burn-Out-Syndrom sind nur die Spitze des Eisberges. Aber nicht nur in Deutschland herrscht das Prinzip: Nie genug und immer mehr. Die Reallöhne sind über ein Jahrzehnt bis in die jüngere Vergangenheit gesunken, aber die Leistungsschraube wird permanent angezogen.

   

Trotzdem denkt die Mehrheit, dass sich Unternehmen keine höheren Löhne leisten können und  der Sozialstaat nicht zu finanzieren ist.


Ein führender Ökonom, Prof. Straubhaar, hat in der Kommentierung der Hartz-Gesetze argumentiert, das wäre die bedeutendste Reform seit vielen Jahren, weil deutlich geworden sei, dass der Wohlfahrtsstaat nicht mehr bezahlbar ist. Im Subtext heißt das, die Arbeitslosen und prekär Beschäftigen leben über ihre Verhältnisse. Wenn man umgekehrt schaut, was allein an Finanzmitteln aufgewendet werden muss, um die immer noch wabernde Bankenkrise zu bewältigen, sind doch alle Finanzierungsvorbehalte Makulatur. Das steht in einem krassen Missverhältnis zur vermeintlichen Nichtbezahlbarkeit der sozialen Sicherung.


Welchen Maßnahmen könnten kurzfristig die Situation verbessern? 

 

Ohne an die ganz großen Fragen ranzugehen, zu erst die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Der wird auch kommen, da bin ich mir sicher. Gegen den zunehmenden Stress schlägt die IG Metall u.a. eine EU-Anti-Stress-Richtlinie vor, die dann bei uns zu konkreter Betriebspolitik werden muss.


Die ganz großen Fragen werden sich auf nationaler Ebene aber kaum lösen lassen …


Wenn die Staaten in Europa über die möglichst niedrige Löhne, niedrige Steuern und den Abbau von Leistungen und Rechten konkurrieren, wird die herrschende Ungleichheit noch weiter verstärkt. Deutschland ist der unangefochtene Protagonist dieser Politik. Als „Exportweltmeister“ lebt Deutschland auf Kosten seiner europäischen Partner, denn der größte Teil des Exports geht in andere EU-Länder. Das sorgt in  Spanien oder Griechenland für entsprechend negative Handelsbilanzen, wodurch diese Ökonomien in die Knie gezwungen werden.  Das muss sich dringend ändern! Die Löhne müssen in Deutschland steigen. Es muss  insbesondere in den Bereichen Erziehung, Bildung, Pflege,  die traditionell gesellschaftlich gering geschätzt und schlecht bezahlt werden, aber umso bedeutender sind, nachgebessert werden. Das geht nur, wenn wir mit dem Irrsinn aufhören, dass große Unternehmen und Vermögen in Deutschland faktisch kaum Steuern bezahlen. Wir haben eine dramatische Schieflage bei der Verteilung von Vermögen. Selbst Historiker wie Ullrich Wehler, der nicht gerade im Verdacht steht, ein Linksradikaler zu sein, weisen pauschal darauf hin, dass genau das ein Ergebnis neoliberaler Politik ist. Wehler vergisst dabei nur, dass auch die frühere rot-grüne Bundesregierung dafür entscheidenden Vorschub geleistet hat. Wir müssen jetzt anfangen,  große Vermögen stärker zu besteuern und eine Erbschaftssteuer etablieren, die diesen Namen auch verdient. Schon allein deshalb, weil eine gigantische Vererbungswelle ansteht, bei der die Erben oft überhaupt nichts zum ererbten Vermögen beigetragen haben. Ganz wichtig wäre auch, dass dem Beschluss des EU-Parlamentes zur Finanztransaktionssteuer endlich Taten folgen. Mit Investitionsprogrammen könnte den südeuropäischen Ländern endlich Atemluft verschafft werden. Die Gewerkschaften fordern zurecht ein Volumen von 1,2 Billionen Euro, insbesondere im Bereich Ökologie und Soziales. Wichtig ist allerdings, dass die Krisenländer selbst gefragt werden, welche Art von Investitionen und Projekten sie benötigen.

 

Macht ein solches Programm Sinn, ohne aus dem Glauben an ewiges Wachstum auszusteigen?


Wir haben es hier mit einer historisch neuen Situation zu tun. Ja, es gibt Grenzen des Wachstums. Das wissen wir schon lange, „Peak Oil“ (maximale Förderrate der weltweiten Erdölproduktion.) und andere „planetary boundaries“ (Belastungsgrenzen des Planeten) stehen kurz bevor – trotz Fracking,  Schiefergas und anderer neuer Methoden. Wir steuern auf einen neuartigen Kulminationspunkt von ökologischen Gefährdungen zu, die ausschließen, dass das konventionelle Wirtschaftswachstum, mit dem man bislang versucht hat, die Krisen des Kapitalismus zu überwinden, für den globalen Norden noch eingesetzt  werden kann. Dieser Erkenntnisprozess ist sehr schmerzhaft. Man wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, weil unsere Institutionen auf Wachstum aufgebaut sind.  Für die anstehende Transformation gibt es keine Patentlösung. Umso wichtiger ist es, offen und intensiv darüber zu diskutieren, damit diese Problematik endlich ins öffentliche Bewusstsein rückt.


Selbst wenn es eine Patentlösung geben würde, sind die Gewerkschaften überhaupt in der Lage, solche Veränderungen zu erkämpfen?


 Da bin ich optimistisch. Ich gehe davon aus, dass die Verhältnisse – auch durch externe Schocks – Maßnahmen erzwingen werden, an die wir heute noch gar nicht denken. Ein Beispiel: attac wurde am Anfang ausgelacht für die Finanztransaktionssteuer. Jetzt gilt diese Steuer den Eliten als Rettungsanker. Oder wie schnell ging es nach Fukushima zumindest in Deutschland mit dem Atomausstieg? Unsere Probleme werden wachsen, dadurch werden neue soziale Bewegungen entstehen und es besteht zumindest die Chance, dass sich die politischen Kräfteverhältnisse ändern. Aber das muss nicht immer nur positiv sein, wie z. B. der „Front National“ in Frankreich zeigt.


Rechten Tendenzen den Optimismus des Tuns entgegen setzen


Und gerade in Deutschland gibt es in Krisen oft einen Rechtsruck. 


Ja, aber es gibt keinen Automatismus. Krisen können gut oder schlecht ausgehen. Wenn wir schon über den 1. Mai reden, müssen  wir  über politischen Willen und den Optimismus des Tuns sprechen. Rechten Tendenzen in Krisen kann man nur bekämpfen, indem man damit anfängt, ihnen etwas Ausstrahlungsfähiges entgegen setzt.

     

Aber genau an diesem politischen Willen mangelt es doch oft, das zeigen z. B. die oft enttäuschenden Teilnehmerzahlen bei Mai-Veranstaltungen.

 

Viele gehen nicht zum 1. Mai, weil es ihnen als ritualisierte Veranstaltung erscheint. Die Gewerkschaften haben es noch nicht genügend verstanden, tatsächlich eine partizipatorische Politik zu machen und die Menschen mitzunehmen. Ausnahmen bestätigen die Regel: Im Verdi-Bezirk Stuttgart z. B. gibt es eine über viele Jahre gewachsene Partizipationskultur, bei der die Mitglieder in allen möglichen Fragen einbezogen werden, auch bei der Diskussion über Forderungen für Streiks und Tarifrunden. Es kommt auf den Politikstil an. Aber im Moment ist es so, dass die Menschen den Gewerkschaften in den ganz große Fragen nicht viel zu trauen. Das ist zum Teil selbst verschuldet. Wenn ein Vorsitzender einer großen Gewerkschaft die 17,3 Millionen Euro Jahresgehalt von VW-Vorstands-Chef Winterkorn verteidigt, braucht sich niemand über ein allgemeines Stirnrunzeln zu wundern. Es gibt bei vielen Menschen eine unterschwellige Kapitalismuskritik, das sehen wir auch in unseren Belegschaftsbefragungen. Die Leute sehen nur keine realistische Chance auf Veränderungen. Aber das kann sehr schnell gehen.  Gibt es realistische Perspektiven, sind die Menschen auch bereit, etwas dafür zu tun. Das haben wir zuletzt im Jahr 1989 gesehen. 


Thomas Holzmann