DIE LINKE muss ein Verteidiger radikaler Demokratie werden

Prof. Klaus Dörre, Direktor des Instituts für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, ruft DIE LINKE auf, die innerparteilichen Konflikte fruchtbar zu machen, in dem die unterschiedlichen Personen zeigen, dass sie sich respektieren.

Auf der Regionalkonferenz in Eisenach haben sie gesagt, DIE LINKE sei das wichtigste politische Projekt in Europa. Woran genau machen sie diese hohe Bedeutung fest?


Die politische Linke spielt in den west- und südeuropäischen Staaten, aber auch im Norden keine große Rolle. Als Folge des Krisenmanagements erleben wir aber eine Zuspitzung sozialer Proteste. Schauen Sie nach Griechenland oder Spanien! Diese Proteste tragen bereits die Züge von Empörung und Revolte. Es geht sogar um gezielte Regelverletzungen, z. B. Abstimmungen im Parlament zu verhindern. Auf der anderen Seite erleben wir, das die, im weitesten Sinne des Wortes, traditionellen linken politischen Gruppierungen bei Wahlen eher verlieren. Wenn ich nach Österreich, Italien, die Schweiz, Frankreich oder Belgien komme, dann wird immer sofort die Frage nach der Linkspartei gestellt. Es gibt große Hoffnungen, die sich z. T. auch an Personen, wie Oskar Lafontaine orientieren. Durch den Niedergang der parteipolitischen Linken in Europa entsteht die Wahrnehmung, dass DIE LINKE in Deutschland das einzige parteipolitische Projekt ist, das über einen längeren Zeitraum Wahlerfolge erzielen konnte. Umso fataler wäre es natürlich, wenn diese Hoffnungen wieder enttäuscht würden. Noch gibt es keinen Alternativ-Entwurf und es ist nicht klar, wohin sich die Proteste entwickeln, egal ob Spanien, Griechenland oder Nordafrika. Im Optimalfall könnte der Sozialismus von unten neu definiert werden und auch Diskussionsräume für ein neues gesellschaftliches Projekt im 21. Jahrhundert entstehen.


Kann DIE LINKE ein parlamentarischer Arm eines solchen, neuen gesellschaftlichen Projektes werden?


Ich denke nicht, dass es aus den sozialen Bewegungen nur einen parteipolitischen Adressaten gibt. Teile der globalisierungskritischen Bewegung finden sich immer noch bei den Grünen wieder. Auch viele Gewerkschafter orientieren sich noch in Richtung Sozialdemokratie. Einen Monopolanspruch der Linkspartei, die Interessen der Bewegungen zu vertreten, halte ich deshalb für verfehlt. Die originelle Bedeutung der Linkspartei besteht darin, dass sie es vermocht hat, die Soziale Frage, vor allem das Problem der Ausgrenzung und Prekarisierung, wieder auf die Agenda zu bringen. Aber auch hier besteht kein Monopolanspruch mehr, denn Grüne und SPD haben sich zumindest in Teilen korrigiert.


Hier kommt aber der inflationäre Begriff der so genannten Glaubwürdigkeit ins Spiel …


Ja, aber das ist ein Kapital, von dem DIE LINKE nicht dauerhaft zehren kann. Wenn der SPD-Wirtschaftsminister Machnig sagt, Hartz IV sei ein Fehler gewesen, glauben es die Leute am Anfang vielleicht nicht. Mit der Zeit und wenn Aktionen, wie die Entsenderichtlinie bei der Leiharbeit hinzukommen, werden er und die Sozialdemokratie an Glaubwürdigkeit gewinnen. Rot-Grün mag historisch versagt bzw. in wichtigen Punkten, wie der Regulierung der Finanzmärkte oder der Arbeitsmarktpolitik zumindest eine verfehlte Politik mit fatalen Weichenstellungen betrieben haben, daraus kann man aber keinen Monopolanspruch für DIE LINKE ableiten.


Sie haben der Linkspartei eine lernende Programmatik empfohlen. Birgt das nicht die Gefahr der Beliebigkeit und des Wiederaufkeimens altbekannter Vorwürfe, das sei alles unrealistisch und blanker Populismus?


Diese Gefahr besteht, wenn man nicht aufpasst. Es müssen schon programmatische Leitsätze festgeschrieben werden. Man kann ja nicht reinschreiben, wir sind für das Grundeinkommen und gegen das Grundeinkommen. Ich halte trotzdem an der lernenden Programmatik fest und zwar aus folgendem Grund: Was wollen sie den spanischen oder griechischen Jugendlichen sagen, was sie tun sollen? Die Situation ist doch so: die gemäßigte Linke regiert und setzt ein Sparprogramm durch, dass ihnen von IWF und EZB aufoktroyiert wird – angeblich alternativlos. Es ist natürlich schon deshalb nicht alternativlos, weil die Folgen verheerend sein werden. Mit dieser Euro-Plus-Regulierung kann jede demokratische Regulierung ausgehebelt werden, wenn es die Finanzmärkte verlangen. Das ist ein Beispiel für den Anwendungsbereich dieser lernenden Programmatik. Ein weiterer ist die Verklammerung von ökonomischer und ökologischer Doppelkrise. Wir wissen, dass die traditionelle, energie- und CO2-intensive Produktions- und Lebensweise vor dem Hintergrund der Klimaziele nicht dauerhaft sein kann.


Das weiß man doch schon seit der Club of Rome die Grenzen des Wachstums entdeckt hat …


Nur zum Teil, denn die Klimaproblematik kannte man damals so noch nicht. Entscheidend sind doch die Konsequenzen für eine linke Politik. Ein Mehr an Gleichheit und Gerechtigkeit haben sozialistische Arbeiterbewegungen immer nach Kriegen und Revolutionen oder während längerer Prosperitätsphasen durchgesetzt. Wenn sie jetzt argumentieren, dass es in den Gesellschaften des globalen Nordens progressiv ist, mit den energie- und CO2-intensiven Wachstum zu brechen und eine ökologische und soziale Nachhaltigkeit gleichermaßen zum Ziel erklären, dann ist das etwas historisch völlig Neues. Nochmals, es wäre fatal, wenn DIE LINKE behaupten würde, darauf die Antwort schon gepachtet zu haben. Sie müssen demnächst fast 800.000 Beschäftigten in der Autoindustrie erklären, dass ihr Wirtschaftsbereich ein Schrumpfungskandidat ist, weil die Produkte, wie die Luxuslimousinen, die sich jetzt so prima nach China verkaufen lassen, ökologisch und ökonomisch einfach nicht mehr gehen. Was das für eine sozialistische Politik bedeutet ist noch längst nicht zu Ende gedacht. Da gibt es die Links-Keynesianer, die sagen, wir brauchen nur einen anderen Typus des Wachstums und es gibt die Wachstumskritiker, die sagen, dass wir hier eine Lebensweise haben, die gemessen am ökologischen Fußabdruck den anderen Gesellschaften ihre Entwicklungsmöglichkeiten abschneidet. Dieses Spannungsfeld gibt es auch real in der Gesellschaft. Deswegen könnte es ein großer Vorzug der Linkspartei sein, genau dieses Spannungsfeld in der Partei fruchtbar zu machen. Darüber muss eine Debatte stattfinden und es muss Stück für Stück geschaut werden, was geht und was nicht geht. Dazu bedarf es auch einer Reformpolitik, die die Menschen tatsächlich mitnimmt. Viele Mitte-Links-Regierungen in Europa, teilweise auch unter Beteiligung der radikalen Linken, haben, weil sie genau das versäumten, sehr schell ihre Wahlen verloren. Bodo Ramelow verwies zu Recht darauf, dass schon die zaghaften Reformen im Thüringer Bildungswesen stark polarisieren und man darüber nicht einfach hinwegsehen könne. Deswegen sollte am Ende solcher Debatten eine Volksabstimmung stehen.


Die, wie das Beispiel Hamburg gezeigt hat, auch nach hinten losgehen kann …


Hamburg ist ein Beispiel, wo man es wieder von oben versucht hat, ohne eine gesellschaftliche Mobilisierung. Dafür hat die Gegenseite mobilisiert. Eine sozialistische Reformpolitik muss auch aus einer Regierungsverantwortung heraus mobilisieren können, um anspruchsvolle Reformvorhaben mit gesellschaftlichen Mehrheiten absichern zu können. Das ist auch etwas Neues, dass man für das 21. Jahrhundert durchdenken muss. Nehmen Sie Obama in den USA. Er hat die Wahl gewonnen, weil er dort mobilisierungsfähig gewesen ist. Seine Probleme begannen, nachdem er als Präsident nicht mehr in die Gesellschaft hinein mobilisiert hat. Das macht jetzt die Gegenseite und schon steht Obama mit dem Rücken zur Wand, die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse haben sich verändert und sie kriegen nicht mal ihre Gesundheitsreform durch. Auch für Rot-Rot-Grün wäre so etwas eine Zerreißprobe, weil die Sozialdemokraten mit so einem Politikverständnis immer Schwierigkeiten hatten. Deswegen muss auch das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Parteien mit Blick auf die Regierungsfähigkeit neu definiert werden. NRW könnte für so etwas ein Testfall sein, aber das passiert leider nicht.


Wenn es um Mobilisierung geht, müssten die Gewerkschaften an erster Stelle stehen. Sind die vor dem Hintergrund der Globalisierung ohne eine stärkere internationale Ausrichtung überhaupt noch aktionsfähig?


Da muss man differenzieren. Der Kapital-Arbeit-Konflikt ist nach wie vor in Europa der quantitativ bedeutsamste. Die Gruppe, die in unserer Datenbank national am häufigsten genannt wird, ist immer noch ver.di. Das größte Problem sehe ich bei der IG Metall. Sie hat früher mal die Plattform für eine sich als pluralistisch verstehende Linke geboten. Debatten zum öko-sozialen Wandel fanden früher im gewerkschaftlichen Kontext statt. Heute habe ich den Eindruck, dass Gewerkschaften, wie die IG Metall, die Krise genutzt haben, um gegenüber den politischen Eliten wieder handlungsfähig zu werden, was ihnen z. T. auch gelungen ist. Sie haben zwar, beschränkt auf das Krisenmanagement, Beschäftigung sichern können, eine harte Auseinandersetzung mit den Verursachern der Krise fehlte aber völlig, ebenso mit der marktradikalen Ideologie und das Fördern eines Diskurses über eine andere Gesellschaft. Mit dem Diskurs über eine Neue Wirtschaftsdemokratie gibt es erste zaghafte Ansätze für eine solche Debatte bei kritischen Minderheiten in den Gewerkschaften.


Was auch fehlt, ist eine Debatte über den Wert der Arbeit. Was muss sich da ändern?


Diese Frage ist ja ein Dissenspunkt bei der Programmdebatte innerhalb der LINKEN. Die klassischen Frauenberufe, Pflege, Fürsorge und Erziehung befinden sich in der gesellschaftlichen Anerkennungspyramide ganz unten und werden entsprechend schlecht bezahlt. Bei Studien haben wir festgestellt, dass es in diesen Bereich bereits einen Fachkräftemangel gibt, aber deswegen werden trotzdem keine höheren Löhne bezahlt. Die Arbeitsbedingungen sind so schlecht, dass selbst junge Leute auf halbe Stellen zurückgehen, weil sie den Druck nicht mehr aushalten. Man wendet einfach das Prinzip der Standardisierung aus der Fließbandarbeit auf Sozial- und Humandienstleistungen an ...


Was eigentlich ein Verstoß gegen die Menschenwürde nach Artikel eins des Grundgesetzes ist …


Im Grunde ja, denn mit der Würde des Menschen, aber auch mit der Würde der Arbeit hat das nichts zu tun. Menschen, die in der Pflege arbeiten, wollen ja wirklich helfen. Sie können es dann nicht, weil sie in dieser Korsett gezwungen werden. Wir brauche deshalb einen Arbeitsbegriff, der auch solche Dinge mit aufgreift, der systematisch den Blick auf die Prekarisierung richtet und der eine Höherbewertung der Humandienstleistungen einklagt. Die Gewerkschafter in der LINKEN sagen, wir wollen einen öffentlichen Sektor, der diese Arbeit steuerfinanziert aufwertet. Das halte ich auch für einen richtigen Ansatz. Doch das allein reicht nicht. Man braucht eine öffentliche Form, die auch die Selbstorganisation unterstützt, das heißt, dass jemand für die Pflege auch aus dem Beruf rausgehen kann.


Durch diese Humandienstleistungen entsteht ja kein Wirtschaftswachstum, wie es heute an BIP oder BSP gemessen wird, folglich braucht es auch einen neuen Wachstumsbegriff?


Bezahlte Pflegetätigkeiten werden auch heute eingerechnet. Nicht erfasst sind aber die ungleichen Verteilungen der Güter, die in diesem Wachstum stecken. Ebenso nicht die Defensivkosten, also die destruktiven Folgekosten des Wachstums, wie die Zerstörung der Umwelt. Wir erleben schon längst, dass genau diese Folgekosten das materielle Wachstum von BIP und BSP auszehren. Da brauchen wir ein realistischeres Maß, wo die Ölpest im Golf oder der Atomunfall von Fuksuhima nicht auf dem Papier zu Wirtschaftswachstum führen.


Es gibt Menschen, die solche Überlegungen generell in die Extremismusecke drücken wollen. Wie sehen Sie diese Problematik?


Kriterien anzulegen, bei denen jeder, der den Wohlfahrtsstaat verteidigt oder für mehr Staatsintervention ist, ein Linksextremist sein soll, sind völliger Quatsch. Solche Dinge sind unschön, die muss man auch kritisieren, aber ich würde dem nicht so viel Beachtung schenken. Versuche, DIE LINKE zu isolieren, in dem man sie in die extremistische Ecke schiebt, gibt es immer wieder. Solche Debatten werden immer von außen konstruiert und mein Eindruck ist, dass die Linkspartei zu schnell hineintappt, wie gerade wieder bei der Antisemitismusdebatte. Ganz im Sinne von Rosa Luxemburg muss DIE LINKE Freiheitsgarantien geben. Das Recht des anderen, seine Meinung öffentlich zu vertreten, ist unantastbar. Grenzen gibt es da nur, wo die Schwelle zu Gewaltbereitschaft überschritten wird. DIE LINKE muss ein Befürworter und Verteidiger radikaler Demokratie werden. Das wird noch zu wenig deutlich. Konflikte können, frei nach Simmel, auch zusammen schweißen. Ein Problem der inneren Kämpfe in der LINKEN ist, das die unterschiedlichen Personen zu wenig zeigen, dass sie sich respektieren. Was da abläuft, finde ich zum Teil unterirdisch. Es muss auch innerparteilich das Verständnis einer pluralen LINKEN herrschen. Man muss trotz unterschiedlicher Meinungen solidarisch miteinander umgehen und gemeinsam um Kompromisse ringen. Das halte ich für unverzichtbar.     


Thomas Holzmann


Buchtipp: Haipeter, Thomas/Dörre, Klaus (Hrsg.): Gewerkschaftliche Modernisierung. Wiesbaden 2011: VS Verlag.