Die globale Revolte gegen die kapitalistische Weltordnung

Pedram Shahyar betreibt die Agentur Avatarist – Social Media für emanzipatorische Inhalte (pedram-shahyar.org) und ist Lehrbeauftragter der Freien Universität Berlin. UNZ sprach mit ihm über die Hingründe der Unruhen in England. Fazit: der Neoliberalismus wird autoritärer und setzt überall verstärkt auf den Knüppel.

Sind die Vorgänge in England, wie oft behauptet wird, wirklich rein krimineller Natur oder holen sich junge Menschen wegen des Versagens der Politik die glitzernden Dinge der kapitalistischen Konsumwelt, die sie sich sonst nicht leisten können?


Das ist offensichtlich. Wir haben nirgendwo in der westlichen Welt eine solche Klassengesellschaft, wie in England. Wer in London war weiß, wie krass hier Reichtum direkt neben Armut steht. Eine OECD-Studie belegt zudem, dass England die geringste soziale Mobilität in der westlichen Welt hat. Das heißt, wenn  man unten ist, dann bleibt man unten. Diese Verhältnisse haben sich im Geburtsland des Neoliberalismus in den letzten Jahren immer noch weiter verschärft und die Cameron-Regierung hat nochmal eine Schippe drauf gelegt. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis es zu solchen Unruhen kommen musste.


Die frühere Labor-Regierung hat also das, was unter Margaret Thatcher begonnen wurde, einfach weiter geführt?


Labor hat ab Mitte der neunziger Jahre sogar eine noch schlimmere neoliberale Politik gemacht als zuvor die Konservativen. Die Labor Party in England steht wie kein zweiter für die Wandlung der Sozialdemokratie hin zum Neoliberalismus. Das hat große Auswirkungen auf die Art der entstehenden Proteste. Wenn es keine Alternativen zu einer neoliberalen Politik mehr gibt, dann fühlen sich die Menschen nirgendwo mehr repräsentiert und es kommt zu einem wilden, unkontrollierten Protest.


Trotzdem waren die Unruhen kein typischer politischer Protest. Was muss passieren, damit der Druck der Straße tatsächlich zu politischen Veränderungen führen kann? 


Ich würde nicht sagen, dass die Unruhen keine politische Aussage hatten. Die sozialen Ursachen sind ja relativ klar und werden in den Medien auch diskutiert. Entscheidend ist, dass der Auslöser ein Mord an einem Schwarzen war. Es ist kaum bekannt, dass so etwas in England Alltag ist.  Im Guardian war zu lesen, dass seit 1998 über 300 Menschen im Polizeigewahrsam umgekommen sind. Es gibt insbesondere in den ärmeren Stadtteilen eine extreme Polizei-Brutalität. Das, in Kombination mit den sozialen Problemen, ergibt den politischen Kontext der Unruhen. Die Form der Aktionen, die Plünderungen, waren  nicht unbedingt politisch. Oft gab es aber einen Straßenkampf mit der Polizei, was vor allem auf die Erfahrungen der Jugendlichen mit der Staatsmacht zurückgeht. Es war eben keine reine Plünderer-Bewegung. Premierminister Cameron und viele andere versuchen das zu verbreiten, um die politischen Ursachen dieser Bewegung zu verwischen, weil sie letztlich dafür die Verantwortung tragen. 


Wenn versucht wird noch stärker, vielleicht sogar mit der Armee, gegen die Unruhen vorzugehen, besteht dann nicht Gefahr, dass sich die Spirale der Gewalt noch weiter dreht?


Absolut! Die Probleme werden nicht beseitigt, wenn man versucht sie militärisch zu erdrücken. Das hat noch nie funktioniert. Die Politik in England zeigt uns gerade das Zukunftsbild, wohin die kapitalistisch dominierte Wirtschaftspolitik führen wird: mehr Armut, mehr soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Die Gesellschaft soll dann nur noch von Polizei und Militär ruhig gehalten werden. Das scheint momentan zu funktionieren, aber zukunftsträchtig ist es nicht. 


Ähnliche Probleme gibt es auch in Deutschland. Heißt das, solche Unruhen könnten auch in der Bundesrepublik entstehen?


In Deutschland gibt es diese Probleme in einer viel geringeren Qualität. Es gibt keine extrem abgekoppelten Stadtteile, wie in London oder Paris. Zum Teil ist es in Deutschland in den letzten Jahren sogar besser geworden. Wenn der Gewerkschaftschef der Polizei meint, es könne hier auch passieren, ist das schon ein Stück weit Panikmache. Dennoch muss es auch eine Warnung sein. Wenn sich die soziale Spaltung im Lande weiter vertieft, können wir in Deutschland solche Revolten erleben, ganz besonders dann, wenn im Sozialbereich weiter gekürzt wird. In Tottenham wurden  z. B. 75 Prozent des Budgets für Jugendeinrichtungen gestrichen. In Berlin-Neukölln, wo ich wohne, werden auch gerade viele Jugendeinrichtungen geschlossen. Wenn man das macht, braucht man sich nicht zu wundern, dass junge Menschen ihre Unzufriedenheit auf der Straße Luft machen. 


Die nächste große Wirtschaftskrise kündigt sich schon an. Mit welchen Protesten und mit welchen repressiven Maßnahmen muss man dann rechnen?


Wir erleben jetzt schon die größten Proteste seit 20 Jahren und das in einem globalen Maßstab: Generalstreiks in Europa, der arabische Frühling, 100.000 Lehrer und Schüler waren in Chile für Reformen auf der Straße, auch in Israel gibt es Proteste. Wir haben bereits eine globale Revolte gegen eine kapitalistische Weltordnung, die in einer massiven Krise steckt. Diese Proteste fangen auch an, sich mehr und mehr aufeinander zu beziehen. Auf der polizeilichen Seite wird natürlich viel dagegen getan, neue Gesetze, bessere Überwachung, wobei England ja der Vorreiter ist. Der Neoliberalismus wird autoritärer werden, weil man nicht mehr versucht, über sozialen Ausgleich die Gesellschaft zu integrieren, sondern nur noch über den Knüppel.        

Thomas Holzmann