Die Ruinen der Gaskammern erzählen das Schicksal jedes Einzelnen

Linksjugend [‘solid] unternahm eine Bildungsfahrt in das größte NS-Vernichtungslager nach Auschwitz – ein sehr persönlicher Erlebnisbericht von René Kotzanek

Von Erfurt aus startend, haben sich 20 Jugendliche in drei Kleinbussen auf den nicht ganz einfachen Weg nach Oświęcim gemacht. Eine Kleinstadt im südlichen Polen, die vielen eher unter dem Namen Auschwitz bekannt sein dürfte.  Anlass der Reise war die Konfrontation mit der Massenvernichtung an Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Auch wenn sich die Landschaft in den letzten 70 Jahren doch sehr stark verändert hat, machte sich ein unbehagliches Gefühl breit, je näher wir dem Ort kamen. 

„Ich schaute aus dem Fenster, auf die vorüberziehenden Wiesen und Wälder und versuchte mir vorzustellen, wie es sein muss, aus einem vergitterten Luftschlitz eines Viehwagons über diese Landschaft zu blicken“, schilderte Tobias am Abend der Ankunft in der Begegnungsstätte Oświęcim seine Empfindungen. 

Um Ängste, Erwartungen und Eindrücke teilen zu können, war es für uns auch wichtig, ein Kennenlernen der Gruppe zu fördern. Dies wurde im Vorfeld methodisch von Theresa und Thomas vorbereitet und dann auch nach Möglichkeit umgesetzt. 

Die Besuche der beiden Lagerteile – das Stammlager im Stadtzentrum und das am Stadtrand gelegene Vernichtungslager Birkenau – haben wir auf die beiden vollen Tage unserer Anwesenheit verteilt. Dadurch bot sich die Möglichkeit viel Zeit mit der Konfrontation, Verarbeitung und Auswertung des Erlebten zu verbringen.

Der wohl bekannteste Spruch des Holocaust: „Arbeit macht Frei“ ist über der Tordurchfahrt des Stammlagers Auschwitz zu lesen und geht allen in der Gruppe spürbar nahe, als wir sie durchschreiten. 

Auf dem verhältnismäßig kleinem Gelände stehen aufgereiht massive Steinhäuser, die von gepflasterten Straßen getrennt werden. Nur der doppelte Stacheldrahtzaun und die Wachtürme weisen auf ein Konzentrationslager hin. 

Die Gebäude dienten damals als Schreibstuben und Unterkünfte sowie Werkstätten der Gefangenen, berichtete unser Guide, der uns über das Gelände führte. Heute sind einige der Gebäude zugänglich und bieten den Besuchern die Möglichkeit, über viele unterschiedliche Ausstellungen, sich mit dem Lagerleben und der Grausamkeit der Massenvernichtung auseinanderzusetzen. Aufgetürmte Schuhe, Arm- und Beinprotesen, bergeweise Haare, Brillen, Kämme und Koffer sind die Überreste der so genannten „Endlösung“. Aber sie machen nicht einmal ansatzweise deutlich, wie viele Leben in Auschwitz ausgelöscht wurden. Auch verbrauchte Dosen des zur Vernichtung verwendeten Zyklon B sind nur stumme Zeugen der Vergasung. 

„Ich war froh als ich aus der Gaskammer-Nachbildung wieder raus war. Die Vorstellung in der Dunkelheit des engen Raumes mit hunderten Frauen, Männer und Kindern gefangen zu sein und ersticken zu müssen ist einfach nur unbeschreiblich“, versuchte Eva ihre Fassungslosigkeit auszudrücken. 

Sehr irritierend wurde allgemein der Besucherandrang im Stammlager empfunden. Hunderte Reisegruppen aller Generationen besuchen es täglich und vermitteln ungewollt den Eindruck einer touristischen Sehenswürdigkeit. 

Angesichts der emotionalen Anspannung wurden Teile des Nachmittages zur Auswertung dieser Eindrücke genutzt, um am frühen Abend dann den spannenden aber auch traurigen Erlebnissen des Überlebenden Kazimierz Smolen zu lauschen.

Unser Guide begleitete uns auch am Folgetag über das Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Ganz im Gegensatz zum Stammlager ist diese Anlage sehr weitläufig angelegt. Ein Großteil der Baracken sind nicht mehr vorhanden. Nur die Kaminschlöte machen deutlich, wie viele dieser Unterkünfte hier gestanden haben müssen. 

Besondere Gefühle löste das weltbekannte Hauptgebäude, durch dessen Tor die Transportzüge rollten, aus. „Als wir mit unseren Bussen über die Gleise gefahren sind, über die damals Millionen von Menschen direkt in den Tod geschafft wurden, wurde mir ganz anders“, bekannte Egon gleich nach der Ankunft am Lagertor. 

Weiter auf dem Gelände und speziell in den verbliebenen Baracken wurde die erdrückende Enge, in der die Menschen hier leben mussten, spührbar. So teilten sich sechs bis acht Menschen eine Etage der Bettkonstruktionen, zu mehreren Hunderten lebten sie in den engen Gebäuden. 

An der Stelle zu stehen, wo Millionen Menschen vergast wurden, war wohl der emotionalste Augenblick dieser Bildungsreise. Von den Gaskammern sind heute nur noch die Ruinen geblieben, doch erzählen auch diese das Schicksal jedes einzelnen Menschen. Einen Moment lang ist alles still. Unser Guide hob ein kleines weißes Steinchen vom Boden trat an uns heran und erklärte: „Das ist alles was von den Menschen nach der Verbrennung übrig geblieben ist!“ Erst da wurde uns klar, dass es sich dabei um ein kleines Stückchen Knochen handelte und wir in einem der so genannten Ascheseen standen. Weitere Gebäude  zeigen den Verwaltungsalltag eines Vernichtungslagers: Effektenkammer mit Desinfektionsbereich, lagereigene Kläranlage und Werkstätten. Auf dem Rückweg zum Haupttor bemerkten wir eine kleine Herde Rehe über das menschenleere Gelände springen. Es war ein paradoxes Bild, diese zierlichen Tiere zwischen den Ruinen und Stacheldrahtzäunen anzutreffen, doch hoben sie für einen kurzen Augenblick die Stimmung.

Der Abend hielt sehr viel Zeit für Reflektion und Auswertung offen. Erfahrungen, Emotionen und Erlebnisse wurden ausgetauscht. Die Gruppe, die sich zu Anfang teilweise gar nicht kannte, ist ein Stück zusammengewachsen, auf einer Fahrt, die bei allen tiefen Eindruck hinterlassen hat.