Ist es zu viel verlangt?

Vielerorts in Deutschland werden Straßen und Apotheken nach antirassistischer Kritik umbenannt. In Thüringen sind wir davon noch weit entfernt, auch weil das Thema selbst unter Linken umstritten ist. Urs Lindner über die M-Symbolik und die vielen Gesichter des Rassismus.“

Am 14.6.2021 hat die Kasseler Stadtverordnetenversammlung mit den Stimmen von Linken, Grünen und 2/3 der SPD-Fraktion beschlossen, die Verwendung des Wortes „Mohr“ (im Folgenden abgekürzt als M) zu ächten. Sie erkennt damit an, dass die M-Symbolik heute rassistisch ist. Die Ächtung ist kein Verbot (was juristisch auch gar nicht möglich wäre), sondern eine Willensbekundung, rassistische Bezeichnungen im öffentlichen Raum zu überwinden. 

 

Fehlgeleitete Überkorrektheit?

 

Von derartigen Maßnahmen sind wir in Erfurt und Thüringen noch weit entfernt. Auf Widerstand trifft die Kritik an der M-Symbolik nicht nur – erwartbar – im konservativen und rechtsextremen Spektrum. Auch unter den Progressiven gibt es in dieser Frage (bisher) keine Einigkeit. Nehmen wir nur drei, auch von mir hochgeschätzte Thüringer Persönlichkeiten. Michael Gerner, der unermüdlich für Geflüchtete im Einsatz ist, meint, die Beschäftigung mit der M-Symbolik lenke von den eigentlichen Problemen Geflüchteter ab. Kai Uwe Schierz, Direktor der Erfurter Kunstmuseen und Unterstützer der Kampagne zur Umbenennung des Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer, vertritt die Ansicht, die M-Apotheken würden mit ihrem Namen die arabische Medizin ehren. Henryk Goldberg schließlich, der legendäre Kolumnist der Thüringer Allgemeinen, erklärt das M-Wort zu einem grundsätzlich anderen Fall als das N-Wort, das auch er als diskriminierend empfindet. Die Überkorrekten, so befürchtet er, würden demnächst „das Wort >Jude< auf den Index setzen, es klingt irgendwie judenfeindlich“.

 

Bis  zum 16. Jahrhundert: M-Symbolik widersprüchlich

 

Schauen wir uns den Forschungsstand in dieser Frage an. Das M-Wort ist im Althochdeutschen seit dem 8. Jahrhundert nachweisbar, es leitet sich her von altgriechisch  mavros = schwarz und moros = dumm. Bis an die Wende zum 16. Jahrhundert ist die M-Symbolik umkämpft und widersprüchlich: Mit positiver Bedeutung ist etwa Mauritius, der edle Schwarze Ritter, versehen, mit negativer der Höllen-M. Hautfarbenrassismus existiert zu dieser Zeit noch nicht. 

 

 

Heute: M- und N-Wort

in vielen Zusammenhängen austauschbar

 

Das ändert sich mit der europäischen Kolonisierung der beiden Amerikas und der transatlantischen Sklaverei. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts ist die M-Symbolik im deutschsprachigen Raum eine eindeutig rassistische Bezeichnung, die Schwarze Menschen als untergeordnet und minderwertig markiert. Das M- und das N-Wort sind seitdem zwar nicht synonym, aber doch in vielen Verwendungszusammenhängen austauschbar. Auch haben sich die bildlichen Darstellungen geändert: vom edlen Ritter zum orientalisch aufgemachten Diener oder zum halbnackten Wilden mit Bastrock und Kannibalenohrring. Im Logo der Erfurter M-Apotheke ist sogar beides vereint: ein orientalisches Dienermännchen mit Kannibalenohrring. 

 

Noch 2018 wurde in Erfurt ein Eis-N verkauft

 

Michael Gerner scheint entgangen zu sein, wie herabsetzend die M-Symbolik heute ist. Kai Uwe Schierz lässt sich entgegnen, dass die Pharmaziegeschichte hinsichtlich Entstehung und Namensgebung der M-Apotheken bisher über kein belastbares Wissen verfügt. Henryk Goldberg möchte ich darauf hinweisen, dass in der Landeshauptstadt noch 2018 eine Süßspeise mit Schokoüberzug als Eis-N verkauft wurde, die auf Thüringer Jahrmärkten Eis-M heißt. Zudem übersieht Goldberg den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbezeichnung: Es gibt in Deutschland einen Zentralrat der Juden, nicht jedoch einen Zentralrat der M. Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland jedenfalls lehnt die Verwendung der M-Symbolik als rassistisch ab. 

 

Warum nicht auf ein Wort verzichten? 

 

Was sagt uns das alles? Rassismus hat viele Gesichter: neben physischer Gewalt und materieller Benachteiligung auch die symbolische Herabsetzung. Wir sollten antirassistische Kämpfe, die an verschiedenen Punkten ansetzen, nicht gegeneinander ausspielen. Es geht um soziale Gerechtigkeit, darum, dass alle Mitglieder dieser Gesellschaft als Freie und Gleiche an ihr teilhaben können. Warum dafür nicht auf ein Wort und eine Symbolik verzichten, die seit mehreren Jahrhunderten rassistisch aufgeladen sind? Das schließt keineswegs aus, für spezifische Fälle spezifische Lösungen zu suchen und Darstellungen, die älteren Datums sind als der Kolonialismus, gesondert zu diskutieren. 

 

Dr. Urs Lindner ist Philosoph am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und engagiert sich in der Initiative Decolonize Erfurt.