Die Chance der Prekarisierung?

Es geht ein Gespenst um in der deutschen Linken – das Gespenst der Prekarisierung. Der Begriff beschreibt eine zunehmende Verdrängung von Normalarbeit durch meist schlechtbezahlte, befristete, sozial- und arbeitsrechtlich nur ungenügend geschützte Arbeit. Betrachtet man Prekarisierung dialektisch, kann man aber auch Positives abzugewinnen.

Von Eric Schröder 

 

Es geht ein Gespenst um in der deutschen Linken – das Gespenst der Prekarisierung. Der Begriff beschreibt eine zunehmende Verdrängung von Normalarbeit durch meist schlechtbezahlte, befristete, sozial- und arbeitsrechtlich nur ungenügend geschützte Arbeit, oder knapper den Einzug der Unsicherheit in die Arbeitswelt. Kaum ein anderer sozialer Prozess war in den letzten 40 Jahren so relevant für den Wandel der Ungleichheitsstrukturen sowie die Lebensrealitäten der Menschen. So ist es nur zu begrüßen, dass Gewerkschaften sowie linke Parteien und Organisationen mit gebotener Härte gegen dieses Phänomen ankämpfen. 

 

Die Dominanz der Marktarbeit

 

Und doch: Betrachtet man Prekarisierung dialektisch, so kommt man nicht umhin, diesem Prozess auch Positives abzugewinnen, da er den Blick für eine tiefgreifendere Problematik öffnet: die Dominanz der Marktarbeit. Historisch kaum älter als 200 Jahre entsprang sie einem religiösen Kontext, wie Max Weber mit dem Begriff der „protestantischen Ethik“ zeigte: schuften für das Seelenheil. Inzwischen hat sich die rationale, marktverwertbare Arbeit der religiösen Motivation entledigt und hat doch eine quasi-religiöse Dimension erhalten, der sich kaum jemand entziehen kann, weil sie in Fleisch und Blut übergegangen ist. In modernen Arbeitsgesellschaften dominiert Marktarbeit Biografien, ist wichtigster Lebenssinn, spendet Identität und Anerkennung, schafft soziale Kontakte und Integration, liefert das Brot zum Überleben. Selbst Bildung und Freizeit dienen letztlich einer gelungenen Marktintegration. 

 

Prekäre Arbeit entwertet sich selbst

 

Durch die Prekarisierung kommt nun Bewegung in dieses starre Gefüge. Prekäre Erwerbsarbeit schafft keine stabilen Identitäten, wird oftmals nicht mehr als sinnhaft und befriedigend empfunden, entwertet sich also selbst. Dies kann zu zwei Entwicklungen führen. Entweder wird Normalarbeit aufgrund der zunehmenden Konkurrenzsituation weiter idealisiert (mit allen sozialen und psychologischen Problemen, die damit verbunden wären) oder es entsteht ein Bewusstsein dafür, dass gute und subjektiv sinnstiftende Arbeit nicht (nur) auf dem Markt zu finden ist, dass also der Arbeitsbegriff an sich hinterfragt werden muss: Welche Arbeitsformen sind subjektiv und gesellschaftlich nützlich? Was bedeutet unter diesem Aspekt Leistung? Dies sind nur zwei von vielen möglichen Fragen, die Perspektiven eröffnen, in denen Erwerbsarbeit nicht bedeutender als autonome politische und kulturelle Tätigkeiten, Familien- und Sorgearbeiten sowie Muße erscheint. 

 

Heilige Kuh Marktarbeit vor Schlachtung?

 

So kann möglicherweise Prekarisierung mit all ihren negativen Folgen dazu beitragen, dass das dominante Arbeitsverständnis hinterfragt wird, so dass die heilige Kuh der Marktarbeit geschlachtet werden kann. Dazu muss allerdings der Erwerbsarbeit der letze Zwangsmechanismus genommen werden: das Monopol der Einkommenszuteilung. Grundeinkommen, Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung wären deshalb notwendige Instrumente auf dem Weg in eine Tätigkeitsgesellschaft, in der die Vielfalt der Arbeitsformen anerkannt würde. Das wäre ein wichtiger Schritt zur Erweiterung des Reiches der Freiheit, in dem demokratischer und solidarischer Austausch und autonome Tätigkeiten die gesellschaftlichen Verhältnisse dominieren und in dem der Begriff prekär keinen Ort mehr besitzt.