„Sowohl als auch, statt entweder oder“

Hat hier jemand einen Shitstorm bestellt? Dieser riesige Gülle-Trecker würde wohl nicht ausreichen, um die heftige Debatte um Sahra Wagenknechts neues Buch zu füllen. Ihre Wahl zur Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen finden manche richtig super und anderen total zum Kotzen. UNZ sprach im Interview mit dem erfahrenen LINKE-Politiker Dieter Hausold über Auswege aus den Schützengräben der Lagerkämpfe.

 

Wenn dein Nachbar fragt: Was ist  Identitätspolitik, wie erklärst du das Menschen ohne akademischen Hintergrund? 

 

Eine berechtigte Frage, die offenbar ganz unterschiedlich definiert und bewertet wird. Ich muss gestehen, dass mir diese Frage so bis jetzt noch gar nicht gestellt wurde. Im Alltag wurde sie mir bei politischen Debatten nicht oft gestellt. Es geht auf jeden Fall um spezifische Besonderheiten von Menschengruppen. 

 

Bei solchen Fragen geraten sogar promovierte Soziolog*innen ins Schwitzen. Im Internet haben viele eine Ahnung, aber nur wenige fundiertes Wissen. Hat die allgemeine Unkultur, die jeweilige Gegenseite nur noch als Lügner und Trolle zu diffamieren, auch in der LINKEN Einzug gehalten? 

 

Ich stelle leider auch bei uns fest, dass eine gewisse Intoleranz zugenommen hat. Vieles wird nicht mehr zu Ende diskutiert, weil alle Seiten nicht bereit sind, mal über den eigenen Tellerrand zu schauen. Für den notwendigen politischen Diskurs, ob in der Partei oder in der Gesellschaft, halte ich das für ein großes Problem. 

 

Flügelkämpfe gab es in der LINKEN schon immer. Hast du mit deiner Erfahrung einen Ansatz, wie die verfeindeten Lager wieder zu mehr Dialog kommen können?

 

Flügelkämpfe hat in es in der Thüringen Partei meines Erachtens  so gar nicht gegeben. Ein großer Vorzug unsere Landesverbandes. In den 90er Jahren, zum Teil auch noch heute, gab es in der PDS die große Frage: Regieren oder nicht regieren? Meine Auffassung war und ist: Es geht nicht um entweder oder, sondern um sowohl als auch. Das sehe ich heute auch in vielen anderen Fragen so. Natürlich muss eine demokratisch-sozialistische Partei den Anspruch erheben, Dinge konkret auch in einer Regierung zu verändern, zu verbessern. Aber es gibt auch hunderte gute Gründe, unser Gesellschaftssystem ganz grundsätzlich in Frage zu stellen, trotz einer Regierungsbeteiligung. Entweder-oder-Debatten führen uns nirgendwo hin. 

 

Ein aktuelles Beispiel: Wir müssen als LINKE ganz prinzipiell den ökologischen Transformationsprozess unserer Industriegesellschaft vorantreiben. Dazu müssen wir uns grundsätzlich mit den großen Konzernen anlegen. Aber wir müssen auch konkret, hier in Thüringen, mit den Unternehmen vor Ort, gangbare Wege dieser Transformation entwickeln, auch um Arbeitsplätze sich sichern. 

 

Aber das geht nicht auf dem einfachen Weiter-so-Weg. Auch hier hilft uns entweder oder nicht. Realitätsbezogene LINKE Politik heißt hier, Industrieproduktion in Thüringen so zu gestalten, dass sie sozial-ökologischen Gesichtspunkten gerecht wird. Im Entwurf des Landtagswahlprogramms ist das genauso formuliert.

 

Da fällt mir Gregor Gysis Rede auf dem Schleizer Parteitag 2009 ein. Er meinte damals: „Unser Wert liegt im Pluralismus und in dem Parteimitglied, das ich gerade am wenigsten leiden kann“. Darf mensch hoffen, dass die Lager gerade in den anstehenden Wahlkämpfen sich solcher Werte  besinnen?

 

Unterschiedliche Auffassungen, auch in zentralen Fragen, müssen wir ausdiskutieren und auch mal aushalten. Gregor Gysi meinte damals vor allem, solche Debatten ohne persönliche Verletzungen zu führen.

Dazu noch ein anderes Beispiel: Natürlich müssen wir die Abschottung der EU-Außengrenzen bekämpfen und uns in Thüringen für Geflüchtete einsetzen. Wir dürfen aber bei aller Solidarität nicht die Augen vor den Problemen bei der Integration  verschließen, für die die Bundesregierung verantwortlich ist. Ignorieren führt uns  auch hier nicht weiter. Wenn alle nur in ihrer eigenen Blase agieren, entsteht Intoleranz. Da hat die Partei im Ganzen so ihre Probleme. Ich muss aber sagen, dass in Thüringen die Situation so nicht ist. 

 

Will heißen, dass sich die Partei  ein Beispiel an der skandalfreien und geräuscharmen Thüringer LINKEn nehmen sollte? 

 

2019 hatten wir im Bereich Landwirtschaft bei den Landtagswahlen die höchste prozentuale Zustimmung von allen Berufsgruppen. Das zeigt, wo wir stehen: Einerseits für eine Umweltpolitik, die Probleme löst, andererseits auch dafür, dass der Berufszweig Landwirtschaft, der davon ganz zentral betroffen ist, in unserer Politik eine Perspektive sieht. Das muss uns auch in anderen Bereichen wieder stärker gelingen. Dazu müssen wir aber mehr reden, auch darüber, dass wir in Thüringen bei der Bundestagswahl 2017 vor allem bei Menschen mit geringem Einkommen verloren haben. Diese Debatte haben wir zu wenig geführt. Wir brauchen sie aber, weil es in einer immer komplexer werden Welt keine Patentrezepte oder Ideallösungen gibt. Linke Mehrheiten sind bitter nötig, die erreichen wir aber nicht, wenn wir uns nur auf ein bestimmtes Klientel konzentrieren.

 

 

Thomas Holzmann