Einst geachtet und verehrt, heute „Persona non grata“ – Wilhelm Pieck zum 135. Geburtstag

Zur Sache

Die eng mit der Geschichte der DDR verbunden Personen wurden nach 1989 von den Siegern der Geschichte fast vollständig aus den Geschichtsbüchern und dem Alltag gestrichen - zu Unrecht, besonders im Fall von Wilhelm Pieck.


Anerkannter und geachteter Gewerkschafts- und Parteifunktionär, Kämpfer für eine Gesellschaft sozialer Gerechtigkeit, für Frieden und Völkerverständigung, erstes Staatsoberhaupt der Deutschen Demokratischen Republik – mit all dem wurde der Name Wilhelm Pieck bis zu jenen sich überschlagenden Ereignissen des Herbstes 1989 ohne jeden Abstrich verbunden. Straßen, Schulen und Betriebe trugen seinen Namen, der Stadt Guben, in deren Mauern er am 3. Januar 1876 als Sohn des Kutschers Friedrich Pieck und seiner Frau Auguste das Licht der Welt erblickt hatte, war er 1961 als Ehrentitel verliehen worden.


Befragte man Menschen, die ihn noch persönlich erlebt hatten, dann sprachen sie mit Hochachtung von ihm, erzählten, dass er vor allem Bescheidenheit, menschliche Wärme und Güte ausstrahlte, ebenso auch Zuversicht, Fröhlichkeit, Besonnenheit, Weisheit, Energie und Kampfeswillen. Als er vor nunmehr über 50 Jahren am 7. September 1960 seine Augen für immer schloss, reihten sich viele Menschen in die Schlange am Werderschen Markt in Berlin ein, weil ihnen persönliches Abschiednehmen ein Bedürfnis war. Bei der Fahrt des Katafalks mit dem Sarg nach Baumschulenweg wurden die Straßen von unübersehbaren Menschenmengen gesäumt, nicht wenige der Wartenden hatten Tränen in den Augen. Das Weinen musste ihnen nicht „verordnet“ werden, es geschah ehrlichen Herzens. Viel wurde geschrieben über ihn, seinen Lebensweg, seinen politischen Werdegang, seine Tätigkeit als Gewerkschafts-, Partei- und Staatsfunktionär. Ganz gewiss wurde dabei auch so manches überhöht, schöner dargestellt, als es war, doch derartiges war nicht allein der politischen Führung der DDR zu eigen. Betrachtet man heutige und auch frühere Schönfärberei durch die politische Klasse der BRD, dann war die Erfolgs- und Initiativpropaganda eines Joachim Hermann allenfalls das Werk eines mittelmäßigen Stümpers. Doch freilich, es bleiben Fragen – nach der Rolle des KPD-Funktionärs Wilhelm Pieck bei der Erfindung und Durchsetzung jener unseligen und schädlichen „Sozialfaschismus-These“ ebenso wie bei ihrer Überwindung.


Auch wenn diese erfolgte, als es schon zu spät war – diese Tatsache hebt sich positiv von dem Umstand ab, dass die seinerzeit derart falsch beschuldigte SPD bis heute weder willens noch in der Lage ist, sich von ihrem nicht minder gefährlichen und schädlichen Antikommunismus zu trennen. Zu fragen ist ebenso nach seiner Rolle während der stalinistischen „Säuberungen“ in der UdSSR, der bekanntlich auch viele Mitglieder und Funktionäre der KPD zum Opfer fielen. Erst nach 1985 veröffentlichte „Neues Deutschland“ so plötzlich wie unkommentiert Faksimiles von persönlichen Briefen an hohe Funktionäre der KPdSU, in denen er sich für auf Grund falscher Beschuldigungen Verhaftete eingesetzt hatte. Das geschah freilich, nachdem trotz allem von überschwenglichem Lob erfüllten Getöse aus der „freien westlichen Welt“ für „Glasnost“ und „Perestroika“ nicht mehr zu verbergen war, dass die UdSSR auf dem Weg in den wirtschaftlichen Zusammenbruch und der große „Reformer“ Michail Sergejewitsch in einem Anflug von Illusionen bereit war, mit der DDR seinen treuesten und wirtschaftlich immer noch besser dastehenden Verbündeten an seinen ärgsten Feind zu verschachern.


Die genannten Veröffentlichungen lösten zwar, vor allem bei Parteifunktionären und Angehörigen der Intelligenz, viele Diskussionen aus, brachten aber wegen der fehlenden Erläuterungen und ohne Stellungnahmen aus dem Politbüro mehr Verwirrung als Klarheit in der Sache. Zu fragen ist auch nach der Rolle Wilhelm Piecks als einer der beiden Vorsitzenden der SED bei deren Umwandlung in eine „Partei neuen Typus“, womit bekanntlich ihre Stalinisierung durchgesetzt worden war. Nicht zuletzt ist seine Rolle als Vorsitzender bzw. Mitglied des Politbüros und Staatspräsident in der Zeit der stalinistischen „Säuberungen“ in der Partei in der ersten Hälfte der 1950er Jahre von Interesse. Darüber freilich wurde in dem Wahn, dem Gegner dürfe man „nicht auch noch die Munition liefern“, bis 1989 nichts veröffentlicht. Dabei stellte gerade solches Verschweigen die beste Munition dar, denn so wurde den Kräften, die die DDR „zum Verschwinden“ bringen wollten, die Initiative überlassen.


Ab Herbst 1989 wurde Wilhelm Pieck durch selbsternannte „Bürgerbewegte“, gewendete Block- und neugegründete Parteien sowie ihre Fahne in den nun vermeintlich „richtigen“ Wind gehängt habende und daher rasch ausgetretene SED-Mitglieder wie so viele andere auch bar jeder sachlichen und unvoreingenommenen Prüfung zur Unperson erklärt, sein Name von Schulen, Betrieben, Einrichtungen und Straßen getilgt. In Ilmenau waren es ausgerechnet zwei ehemalige und in den Jahren zuvor für ihr gesellschaftliches Engagement im Kulturbund der DDR bzw. für das kulturelle Leben in der Stadt gelobte SED-Mitglieder, die bereitwillig die „Federführung“ bei der Ausmerzung jeglicher Erinnerung an das Ringen um eine Staat gewordene gesellschaftliche Alternative übernahmen und in ihrem Übereifer sogar August Bebel, Friedrich Ebert und Hanns Eisler „auf den Prüfstand stellen“ wollten.


Da gehörte der Name Wilhelm Piecks, Kommunist, einer der Initiatoren des nun auch hierzulande wieder als „Zwangsvereinigung“ verleumdeten Zusammenschlusses von KPD und SPD und erstes Staatsoberhaupt der DDR als dem „Reich des Bösen“ auf deutschem Boden – dreifacher „politischer Verbrecher“ in den Augen der von antikommunistischer Hysterie besessenen neuen Herren also – zu den ersten, die ausgelöscht wurden. Auch das sich einst ob der Verleihung so geehrt gefühlt habende Guben wollte nun plötzlich keine Wilhelm-Pieck-Stadt mehr sein. Das ihm gewidmete Museum wurde mit der fadenscheinigen Ausrede, sein Geburtshaus hätte sich ja im seit 1945 polnischen und so zur Stadt Gubin gewordenen einstigen östlichen Teil befunden, geschlossen. Mit der „Stalinismus“-Keule wurde an Stelle sachlicher und unvoreingenommener Aufarbeitung in eifervoller Anbiederung an die neuen alten Verhältnisse politischer Kahlschlag betrieben. Auf der anderen Seite wurde freilich äußerst großzügig verfahren – als auf Wunsch der in Ilmenau den Bürgermeister und damit den Stellvertreter des Stadtoberhaupts stellenden und dieserhalb faktisch mitregierenden SPD ein Seitenweg der Bahnhofstraße nach Paul Löbe benannt wurde, störten sich die Herren nicht daran, dass er sowohl eine Einheitsfront gegen den Faschismus als auch nach dem 30. Januar 1933 einen Generalstreik zum sofortigen Sturz der Nazi-Regierung kategorisch abgelehnt und sich der Illusion hingegeben hatte, durch Abwahl sämtlicher jüdischer Mitglieder des Parteivorstandes und Zustimmung zu Hitlers außenpolitischem Programm das Verbot der Partei abwenden zu können.


Wilhelm Pieck mag in manchem, vielleicht auch in vielem, gefehlt haben – sein Leben und Wirken galten einer Gesellschaft sozialer Gerechtigkeit, ohne Arbeitslosigkeit, Armut per Gesetz mit Kinder- und Altersarmut sowie Obdachlosigkeit, einer Gesellschaft ohne Profitgier und Krieg. Das aber ist aller Ehren wert und das kann ihm kein noch so hysterischer Antikommunist nehmen.


Hans-Joachim Weise