„Denn träumen kann ich immer noch . . .“

Zur Sache

Die Thüringerin Sigrid Hahn, geborene Nacke, ist Jahrgang 1966. Sie hat zwei Töchter – 16 und 10 Jahre alt, ist geschieden und lebt seit 2007 in Erfurt. Der Vater ihrer beiden Kinder ist Landwirt im Hessischen. 14 Jahre ihres Lebens hat sie auf seinem Hof gearbeitet. Träume hatte sie mehrere in ihrem bewegten Leben, aber viel zu lange wurde ihr mehr Kraft abverlangt, als sie besaß. Doch wirklich aufgegeben hat sie nie.

Als Kind wollte sie gern Uhrmacherin werden. Die tickenden Wunderdinge hatten es ihr angetan, aber aus ihrem Berufswunsch wurde trotz guter Noten in der 10. Klasse nichts. Abgelehnt! Zur Auswahl standen: Gärtner oder Maschinenbauer. Sie entschied sich für den Maschinenbau bei Petkus Wutha. Auch auf ihrem Facharbeiterzeugnis stand GUT. Aber so richtig glücklich war sie dort nicht, liebäugelte mit den Grenztruppen. Ihr Heimatort Gerstungen war DDR-Grenzgebiet. Und irgendwie hatte dort jeder damit zu tun. So meldete sie sich bei der Armee und wurde im Herbst 1985 einberufen. Zuvor hatte sie von ihrem Ausbildungsbetrieb noch ein Schreiben erhalten, dass sie nach der Armeezeit wieder in diesem Betrieb arbeiten könne. 

Nicht alle ihre Träume erfüllten sich, denn nicht alles ging glatt bei den Grenzern. Sie wollte gern nach Berlin, aber landete zunächst in Gerstungen. Als sie ihre erste Schützenschnur geschossen hatte, präsentierte sie diese stolz daheim. Eines Tages  erhielt Feldwebel Nacke per Zufall eine Kommandierung nach Berlin. Im Biergarten Grünau sollte sie mit für die Kinder- und Jugendregatta kochen. Dorthin kamen auch Polizisten vom Grünauer Revier. Die junge Frau erkannte ihre Chance, doch noch in Berlin zu landen. Sie fragte nach einer Stelle. Kripo wäre ihr Wunsch gewesen, aber man bot ihr an, Hundeführer zu werden. Das gefiel ihr. Am 30. Januar 1990 gab sie die Kündigung bei ihrer Kompanie in Gerstungen ab und fuhr nach Berlin. In der selben Nacht bekamen die Berliner Polizisten Einstellungstopp. Und so stand sie von einem Tag auf den anderen plötzlich ohne Arbeit da. Man empfahl ihr nach Hause zurückzufahren, denn niemand wusste, was nach dem Einstellungstopp kommen würde. Aus der Traum!

Die Wende war für diese junge Frau eine schwere Zeit. Sie vergrub sich und es flossen viele Tränen. Alles, was sie gelernt hatte, galt plötzlich nicht mehr. Selbst als sie bei Petkus, ihrem Lehrbetrieb, nach Arbeit fragte, wurde ihr sehr schnell klar gemacht, dass ihr Facharbeiterzeugnis nichts mehr wert war. Sie konnte nicht begreifen, warum sich viele Menschen so freuten. Sie ging zu keiner Demo, denn sie ahnte, was kommt. Was im Westen längst usus war, würde jetzt auch den Osten erreichen: Arbeitslosigkeit en gros. 

Als in Eisenach das Arbeitsamt öffnete, bekam sie für ein Jahr einen Job als Mitropa-Kellnerin. Dann wurde der Bahnhof geschlossen und Sigrid Nacke stand wieder auf der Straße. Arbeit gab es nicht. Sie verließ sich nicht auf’s Arbeitsamt, las selbst Annoncen, war ständig auf der Suche. Sie arbeitete vorrübergehend als Serviererin im Schloßhotel Eschwege bei Verwandten, etliche Wochen als Pferdepflegerin. Dann eröffnete in Gerstungen jemand eine Fahrschule und riet ihr, den Führerschein zu machen, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Geld hatte sie keins. Am Ende bekam sie den Führerschein, hatte keine Arbeit, aber Schulden. Wieder ging die Rechnung nicht auf.

In dieser Zeit lernte sie ihren Mann – einen Milchbauern – kennen. Obwohl die Landwirtschaft nicht zu ihren Lebensträumen gehörte, fragte sie auf seinem Hof in Hessen nach Arbeit, hatte Glück und fing im Februar 1993 bei ihm an. Sie war sich für keine Arbeit zu schade, war wissbegierig. „Ich hatte früher von Landwirtschaft keine Ahnung und musste alles lernen: melken, Schlepper fahren, Heu und Silo machen, von Hand füttern, den Umgang mit Kälbern . . .“  

Sie verliebte sich in ihren Bauern und schon ein gutes Jahr später – am 10. März 1994 – folgte die Hochzeit. Fortan hieß sie Sigrid Hahn. Im September wurde ihre erste Tochter  Michaela geboren. Das Glück allerdings dauerte nicht lang. In der privaten Landwirtschaft war es nicht, wie in den LPG im Osten. Es gab keinen Urlaub, keinen freien Tag. Sie rackerte und rackerte. Musste manche Bösartigkeiten der Schwiegermutter erdulden, die ihr ihre Herkunft vorwarf,  und dass sie nichts besitze und nichts könne. Ihr Mann hielt letztendlich immer zu seiner Mutter. Nach und nach blieb die Liebe auf der Strecke und das Leben auf dem Hof wurde immer unerträglicher. Sie wollte weg, aber mehrere ihrer Fluchtversuche scheiterten. Und ihr Mann versprach viel. Am 7. Oktober 2000 kam ihre zweite Tochter  zur Welt. Was am Anfang noch unklar war, wurde einige Wochen später bestätigt: Die kleine Stefanie hat das Down-Syndrom. Ein Schock für die Mutter, aber Trost fand sie bei der Familie ihres Mannes nicht. Es folgten weitere Beschimpfung von Ehemann und Schwiegermutter. Sie wurde verantwortlich gemacht für die Behinderung des Kindes. Die Lage wurde immer unerträglicher. Sie suchte Rat und Hilfe bei den Schwestern der Geburtsklinik, informierte sich über die Krankheit und kam zu dem Schluss: Dieses Kind wird die bestmögliche Förderung bekommen und bei mir leben. 

2001 schaffte sie es erstmals für 14 Tage in ein Erfurter Frauenhaus. Ihr Mann wollte sie nicht gehen lassen, drohte mit Selbstmord . . .  So vergingen noch Jahre bis sie endgültig am 9. März 2007 – einem Tag vor ihrem 13. Hochzeitstag – nach Erfurt kam. 

„Seit diesem Tag bin ich arbeitslos,  lebe von Hartz IV und habe nur einen Wunsch: eine Arbeit, von der meine kleine Familie auf Dauer gut und würdevoll leben kann“. Ihre große Tochter lebt bei ihrem Vater, die Kleine bei der Mutter.

Sigrid Hahn ist keine die abwartet, wird immer wieder selbst aktiv. Seit vielen Jahren schreibt sie Gedichte. Darin verarbeitet sie ihre Probleme, ihre Gefühle auf ganz spezielle Art. Diese Gedichte führten sie auch zum Erfurter Verein „Kontakt in Krisen“ , der die Straßenzeitung „Brücke“ herausgibt. Inzwischen hat sich ein gutes Verhältnis zwischen beiden entwickelt. Sie wurde nicht nur Brückeverkäuferin, sondern hat dort zur Zeit auch einen Ein-Euro-Job. Sie kann täglich 6 Stunden arbeiten. Das bedeutet pro Woche maximal 30 Euro mehr im Portmonee. „Auf diese Weise komme ich zurecht. Und mir geht es ja auch besser als anderen. Immerhin bekomme ich für meine Tochter Pflegegeld, habe einen Nebenjob und der Vater zahlt Unterhalt, wenn er kann“. Leider läuft der zusätzliche Job zum Jahresende aus. Die Holzarbeiten und andere Basteleien wie die spezielle Weihnachtskerze auf unserem Foto, die sie dort fertigt und für den Verein verkauft, machen ihr Spaß. Deshalb gab es bereits Überlegungen, ob sie daraus nicht eine selbständige Arbeit entwickeln könnte, die es ihr ermöglicht, auf eigenen Füßen zu stehen. Allerdings sind die Berechnungen schwierig und sie ist längst noch nicht am Ende damit. Zumal ihre Gesundheit manchmal Grenzen setzt.

Sigrid Hahn hat es nicht leicht, vor allem, wenn es um die Arbeitssuche geht. Manch einer wollte ihr schon helfen und sie einstellen. Als sie dann allerdings erzählte, dass ihre Tochter mit dem Down-Syndrom lebt, sie häufig krank ist und oft unerwartet von der Schule abgeholt werden muss, war alles hinfällig. Stefanie geht inzwischen in die dritte Klasse einer Integrierten Erfurter Gesamtschule. Besonders viel Freude bereitet ihr das Musikhören. In der Schule lernt sie Flöte spielen. Sie kann am Computer große Buchstaben und Zahlen schreiben und ist ein aufgewecktes Kind. Gute Voraussetzungen, um später vielleicht einmal ein selbstbestimmtes Leben im betreuten Wohnen zu finden. Ihre Weihnachtsbescherung mit Mutter und Oma findet bereits am 19. Dezember statt. Der Baum ist schon geschmückt. Am 22. Dezember fährt Stefanie zu ihrem Vater. 

Sigrid Hahn freut sich auf Ruhe, Entspannung und Besinnlichkeit zum Weihnachtsfest. Dann hat sie Zeit für sich und kann tun, was sie gern möchte. Und vielleicht bringt sie neue Träume auf den Weg: „Denn träumen kann ich immer noch“, sagt sie.