Unter den Teppich gekehrt

Thema

Seit Jahren Jahren wird aus dem 17. Juni ein „Volksaufstand“ gemacht. Fest steht, auch nach zahlreichen in einigen sich „unabhängig und überparteilich“ nennenden Zeitungen interessanterweise sogar im Wortlaut veröffentlichten Leserbriefen von Zeitzeugen, dass es weder ein „Arbeiteraufstand“ und schon gar kein „Volksaufstand“ war.

Von Hans-Joachim Qeise 

 

Gut dreieinhalb Jahrzehnte behauptete bundesdeutscher und West-Berliner Politik- und Meinungsmachebetrieb, am 17. Juni 1953 habe in der DDR ein „Arbeiteraufstand“ stattgefunden. Seit Jahren wird noch eins draufgesetzt, indem daraus kurzerhand ein „Volksaufstand“ gemacht wurde. Fest steht, auch nach zahlreichen in einigen sich „unabhängig und überparteilich“ nennenden Zeitungen interessanterweise sogar im Wortlaut veröffentlichten Leserbriefen von Zeitzeugen, dass es weder ein „Arbeiteraufstand“ und schon gar kein „Volksaufstand“ war. Beteiligt waren nach entsprechenden Rechnungen ganze 6 % der Bürgerinnen und Bürger der DDR und in einigen Bezirken, so in Suhl, geschah praktisch überhaupt nichts. Zahlreiche Arbeiter verließen die Demonstrationszüge, als sie erleben mussten, wie eine Reihe von Teilnehmern zu brutalen Gewaltmaßnahmen griff. Dazu gehörten die Erstürmung und Verwüstung öffentlicher Gebäude, so der SED-Kreisleitung in Jena, und vom „RIAS-Warndienst“ ausgelöste Lynchjustiz, durch die wie in Rathenow Menschen zu Tode kamen. Vor allem aber wird unter den Teppich gekehrt, welche Hintergründe jene Ereignisse gehabt hatten: Der 17. Juni 1953 verliert nämlich angesichts einer auf das „roll back“ dessen, was in den USA unter Kommunismus verstanden wurde im Allgemeinen, und der knapp drei Jahre später von der Zeitung „Badische Neueste Nachrichten“ vom 26. Mai 1956 veröffentlichten Forderung „Aus dieser sogenannten Deutschen Demokratischen Republik darf nichts werden!“ sofort den ihm angedichteten „Aufstands“-Mythos. Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte dazu verlangt gehabt, man solle „nicht so sehr von der Wiedervereinigung, sondern von der Befreiung der Zone“ sprechen und damit im Klartext ausgedrückt, worum es wirklich gehen sollte, wobei die damaligen Ereignisse als die entscheidende „Chance“ angesehen wurden. Als Auslöser wurde die administrative, weil wissenschaftlich überhaupt nicht begründbar gewesene pauschale Anhebung der Arbeitsnormen um 10 % angesehen, die unter den damaligen Bedingungen gar nicht möglich war und den ohnehin noch geringen Lebensstandard erheblich abzusenken drohte. Aber auch diese überstürzte Maßnahme hatte ihre Vorgeschichte, sollte sie doch die Erhöhung der Verteidigungsausgaben zumindest weitgehend ausgleichen. Die nun entsprach keineswegs der Politik der Regierung Grotewohl, sondern war von der bis 1955 Besatzungsmacht gewesenen UdSSR angeordnet worden. Über die Einhaltung der von ihr verfolgten Linie wachte nach wie vor die Sowjetische Kontrollkommission. Die ist, einerlei, ob richtig oder falsch gewesen, ebenfalls nur vor dem Hintergrund von „roll back“ und „Befreiung der Zone“ zu verstehen: Bereits am 11. August 1950 war den Alliierten Hohen Kommissaren von der Regierung Adenauer eine höchst geheime Denkschrift dazu vorgelegt worden, vom 3. bis 6. Oktober tagten im Eifelkloster Himmerod einstige hochrangige Offiziere der faschistischen Wehrmacht und erarbeiteten ein verharmlosend „Denkschrift über die Aufstellung eines deutschen Kontingents im Rahmen einer internationalen Streitmacht zur Verteidigung Westeuropas“ genanntes Dokument, das die Grundlage für die spätere Bundeswehr werden sollte. Mit dem am 16. März 1951 gegründeten und bei seiner Aufstellung eine Stärke von 10.000 Mann besitzenden Bundesgrenzschutz hatte sich die BRD auf Forderung und mit dem Segen der westlichen Besatzungsmächte ein bewaffnetes Organ geschaffen, dem zuallererst weniger die dem Namen nach vermuteten Aufgaben oblagen, sondern bei dem es sich um eine reguläre paramilitärische Einheit mit dementsprechender Ausrüstung und Bewaffnung handelte. Nicht umsonst war dieser BGS fast ausschließlich an den Staatsgrenzen zur DDR und zur ČSR bzw. ČSSR stationiert, zudem sollte er „im Falle eines Krieges zur Bekämpfung innerer Unruhen“ eingesetzt werden. Bereits 1953 wurde die Personalstärke auf 20.000 erhöht und damit innerhalb von zwei Jahren verdoppelt, bis Mitte der 1980er Jahre war er mit leichten und mittleren Infanteriewaffen, darunter Granatwerfern, ausgerüstet. Der BGS war zumindest bis 1955 viel weniger polizeilich, sondern in erster Linie paramilitärisch organisiert, weshalb ihm beim Aufbau der Bundeswehr eine tragende Rolle zukam. Fast überflüssig ist es da, zu erwähnen, dass der BGS ab 1. Juli 1951 auch über einen Seegrenzschutzverband und ab 1955 über eine Hubschrauber-Flugbereitschaft verfügte. Wesentliche Teile dieses paramilitärischen Verbandes wurden am 1. Juli 1956 direkt in die Bundeswehr übernommen, der Seegrenzschutz vollständig in die Bundesmarine überführt. Aus Anlass des 10. Gründungsjubiläums hielt der BGS am 28. Mai 1961 in Lübeck eine große Parade ab, an der auch bei Büssing und Thyssen/Henschel in Lizenz gebaute Vierrad-Schützenpanzerwagen der schweizerischen Firma Mowag Kreuzlingen (Kanton Thurgau) teilnahmen. Außerdem besaß der BGS solche Fahrzeuge aus US-amerikanischer Produktion, ausgerüstet mit Maschinengewehr MG 42 und Schnellfeuerkanone. Solche Bewaffnung war keineswegs für die bloße Grenzüberwachung und schon gar nicht für die Grenzkontrolle erforderlich. Selbstverständlich entsprachen auch Dienstgrade, Rangabzeichen und wesentliche Teile der Uniform teils denen des früheren Grenzschutzes, vor allem aber denen der Wehrmacht. Außerdem gab es für den eigentlichen Grenzdienst überhaupt nicht notwendige Felduniformen mit Tarnmuster: Sie wurden vor allem bei Spionageeinsätzen an der Staatsgrenze zur DDR getragen!

Für den anderen deutschen Staat war damit eine direkte militärische Bedrohung entstanden, die sich 1952 noch weiter verschärfen sollte: Schon am 2. und am 17. Mai 1950, zwei Jahre vor Gründung der KVP also, hatten die Besatzungsmächte, vertreten durch ihre Vereinigten Stabschefs, den Beginn von Remilitarisierung und Wiederaufrüstung eingeleitet: „Die Vereinigten Stabschefs sind der festen Überzeugung, dass aus militärischer Sicht die angemessene und frühe Wiederbewaffnung Westdeutschlands von grundlegender Bedeutung für die Verteidigung Westeuropas gegen die UdSSR ist“ und „Die Vereinigten Stabschefs sind … übereingekommen, dem Rat der Außenminister zu empfehlen, dass Westdeutschland gestattet werden soll, 5.000 Mann Bundespolizei zu haben, die Staatsschutz (Republican Guard) genannt werden soll. Die Vereinigten Stabschefs fordern nachdrücklich, dass die Außenminister dieser Empfehlung nachkommen, da eine solche Truppe sehr wohl der erste Schritt zu einer späteren Wiederbewaffnung Deutschlands sein könne.“ Die Stärke des BGS übertraf die hier zugestandene schon 1953 um das Vierfache!

Das sich eingedenk schlimmster Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus und erst recht dem Faschismus, aber angesichts der den Bestrebungen der Regierung Adenauer durch die Regierungen Großbritanniens und der USA zuteil werdenden wärmsten Unterstützung in einer Zwangslage befindliche Frankreich unternahm den Versuch, seine Interessen mit Hilfe einer die künftigen Streitkräfte der BRD integrierenden „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ zu wahren, um so die Kontrolle behalten zu können. Obwohl das dazu ausgearbeitete Vertragswerk wegen fehlender oder äußerst strittiger Regelungen hinsichtlich der einer künftigen bundesdeutschen Armee zuzugestehenden Waffensysteme, der Art und des Umfangs der Rüstungsproduktion wie auch der Besetzung entscheidender Kommandostellen durch einstige hochrangige Wehrmachts- und somit künftige Bundeswehroffiziere völlig unausgereift war, wurde es auf Druck der USA am 26. und 27. Mai 1952 unterzeichnet. Das war die entscheidende Ausgangslage, die nicht nur für die DDR, sondern auch für die UdSSR eine ernsthafte Bedrohung darstellte. Beide antworteten zunächst mit einer verschärften Überwachung und verstärkten Sicherung der Staatsgrenze zur BRD: Am 26. Mai, dem Tag der Erstunterzeichnung des EVG-Vertrages also, erging die „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands“. Die hier verwendeten Begriffe entsprachen natürlich nicht den tatsächlichen Gegebenheiten, sie entstammten zum einen der Sprache des Kalten Krieges und verdeutlichten zum anderen den Umstand, dass die Wirklichkeit dem menschlichen Bewusstsein weit vorausgeeilt war. Am 9. Juni folgte die „Verordnung über weitere Maßnahmen zum Schutze der DDR“. Diese Verordnungen beinhalteten unter anderem die Unterbrechung grenzüberschreitender Schienen- und Straßenverkehrswege sowie die Aussiedlung von als politisch unzuverlässig geltenden oder bereits strafbare Handlungen begangen habenden Personen aus dem Grenzgebiet und sie stellten auch eine Grundlage für die Schaffung eigener Streitkräfte dar, deren Vorläuferin die am 1. Juli 1952 gegründete Kasernierte Volkspolizei (KVP) war. Das alles verschlang viel Geld, das für andere Zwecke wichtiger gewesen wäre, und dieser Tatsache sollte mit jener Normenerhöhung begegnet werden. Nicht vergessen werden darf auch die mit dem plötzlichen Tode Josef Stalins in der UdSSR entstandene verworrene, weil von Macht- und Richtungskämpfen geprägte Lage. Das wurde sowohl in Washington als auch in Bonn als die entscheidende „Chance“ zur Beseitigung der DDR angesehen. Diese nun sollte umgehend genutzt werden, zumal die Regierung Grotewohl in einer kurz vor dem 16. Juni gehaltenen Erklärung die Normenerhöhung selbstkritisch als schweren Fehler eingestuft und deren Rücknahme angekündigt hatte.

Unter den Teppich gekehrt wird ebenfalls die Rolle des bundesdeutschen und Westberliner Meinungsmachebetriebes. Einerlei, ob Presse, Rundfunk oder Fernsehen, sie alle waren mit Feuereifer bemüht, in der DDR eine von Verunsicherung und Angst bestimmte Atmosphäre zu schaffen. Zu einem als geeignet erscheinenden Zeitpunkt sollte diese in Widersetzlichkeit und offenen Aufruhr umschlagen, zum Sturz der Regierung Grotewohl führen und so mittels einer „innerdeutschen Polizeiaktion“ die „Befreiung der Zone“ genannte Annexion der DDR ermöglichen. Noch weitaus schlimmer als die ohnehin stramm antikommunistische bürgerliche gebärdete sich hier die Presse der SPD, deren von wütendem Hass, Lügen, gezielten Falschmeldungen und Gerüchten geprägte Blätter „Neuer Vorwärts“, „Sopade“ und der in Berlin (West) erscheinende „Telegraf“ alles in den Schatten stellten. So behauptete der „Neue Vorwärts“ vom 9. Januar 1953 unter anderem eine „Existenzkrise des SED-Regimes“ und einen „erstarkenden Widerstand der Bevölkerung“. Am 13. Februar hieß es „Kolchosen vertreiben Mitteldeutschlands Bauern“, zudem wurden Auszüge aus einem angeblich der Volkskammer zur Beschlussfassung vorliegenden Gesetz über eine Ablieferungspflicht für private Rundfunkempfänger abgedruckt. Am 14. Juni erschien der „Telegraf“ mit der Schlagzeile „Ulbricht stürzt“, einen Tag später hieß es reißerisch „Jetzt geht es der SED an den Kragen“ und am 16. Juni wurden gezielt Falschmeldungen über einen angeblichen Rücktritt hochrangiger Politiker verbreitet. Der Boden für die am 17. Juni herrschende, aus hasserfülltem grobschlächtigen Antikommunismus, Antisowjetismus und auch faschistischem Ungeist geprägte Atmosphäre der brutalen Gewalt war folglich systematisch geschaffen worden.

Die entscheidende Rolle bei der Vorbereitung und Steuerung des 17. Juni spielte der Rundfunk, vor allem in Gestalt des seit 7. Februar 1946 in Berlin (West) ansässigen „Rundfunk im Amerikanischen Sektor“ (RIAS). Seine Gründungspaten waren der US-amerikanische Geheimdienst und das Außenministerium der USA. Dass im Ätherkrieg gegen die DDR alle Mittel recht waren, beweist unter anderem die Tatsache, dass der RIAS auf international nicht bestätigten Frequenzen sendete. Diese Station war also schlicht und und einfach ein Funkpirat! Ihre außerordentlich großzügige Finanzierung erfolgte zum einen aus den USA und zum anderen durch das „Ministerium für gesamtdeutsche Fragen“, das für alle Planungen, die DDR „zum Verschwinden zu bringen“ (Egon Bahr), zuständig war und mit dem die Bundesregierung „ein eigenes Ministerium für den Kalten Krieg“ unterhielt, wie mit Ernst Nolte selbst einer der konservativsten Historiker der BRD kritisierte. Zur Erhöhung der Reichweite wurde die Sendeleistung stetig gesteigert – von zunächst 20 kW auf 100 kW im Juli 1949 und dann am 14. Januar 1953 auf 300 kW, um laut Westberliner „Die Neue Zeitung“ vom gleichen Tage „die RIAS-Sendungen noch weiter in die Gebiete östlich des 'Eisernen Vorhangs' hineinzutragen“. Der bis zu 1.000 Mitarbeiter beschäftigende RIAS wurde im Verbund mit jenem „Ministerium für gesamtdeutsche Fragen“, den „Ostbüro“ genannten Spionageorganisationen der bundesdeutschen Parteien, vor allem aber den antikommunistischen Terrororganisationen „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) des Rainer Hildebrandt und „Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen“ (UfJ) zur Hauptwaffe der Diversion und des psychologischen Krieges gegen die DDR. Mit einem breitgefächerten Programm, das natürlich auch der Abwerbung von Fachkräften und der Gewinnung von Agenten diente, gelang es dem RIAS, breite Kreise der Bevölkerung anzusprechen. Dabei stieß er in Lücken, die der Rundfunk der DDR damals mangels einer ausreichenden Zahl erfahrener Mitarbeiter, einem ungünstigen Verhältnis zwischen Informations- und Unterhaltungsprogrammen, die sachliche Information über Tatsachen zugunsten einer mehr oder weniger platten Propaganda vernachlässigenden politischen Sendungen sowie Überspitzungen und nicht zu rechtfertigender scharfer Ablehnung von damals gängigen Musikrichtungen letztlich selbst geschaffen hatte. Eine besonders perfide Rolle spielte der auf Grund von Agentenberichten diffamierende Personenbeschreibungen von in staatlichen und gesellschaftlichen Funktionen tätigen Bürgerinnen und Bürgern ausstrahlende „RIAS-Warndienst“, wodurch gerade am 17. Juni bis zum Lynchmord gehende tätliche Angriffe durch aufgeputschte Personen ausgelöst wurden.

Bereits am 16. Juni 1953 unterbrach der politische Programmdirektor des RIAS, Gordon Ewing, das laufende Programm und stellte die gesamte Sendezeit auf die Ereignisse in der DDR und ihrer Hauptstadt ein. Mit einem um 19.40 Uhr gesendeten Kommentar von Eberhard Schütz wurden mit nationalistischen und antikommunistischen Parolen provozierende Personen zu Angriffen auf Einrichtungen von Partei und Staat aufgefordert. Am folgenden Tag ergingen laufend Aufrufe zur Lahmlegung der Volkswirtschaft und zur Störung der Versorgung der Bevölkerung. Der DGB-Vorsitzende von Berlin (West), Ernst Scharnowski, war sich nicht zu schade, zum Generalstreik in der DDR aufzurufen. Immer unverhüllter wurde nun zum Aufruhr, zur Beseitigung der SED und der Führungen der mit ihr verbündeten Parteien sowie der gesellschaftlichen Organisationen gehetzt und Gerüchte über Rücktritte führender Politiker verbreitet. Vor allem aber versuchte dieser Sender Verwirrung und blutige Zusammenstöße auszulösen. Außerdem aktivierte er über entsprechende Code-Nummern sein Agentennetz in der DDR, so dass genügend Rädelsführer und Provokateure in das Geschehen eingreifen konnten. Dass es sich hier um unwiderlegbare Tatsachen handelte, gestand Gordon Ewing 20 Jahre später in einer Sendung des BRD-Fernsehens ein, die den bezeichnenden Titel „Volksaufstand – Agentenputsch?“ trug. Er bestätigte, dass die Aufrufe und Losungen jener Juni-Tage samt und sonders aus der Redaktion in der Kufsteiner Straße stammten und dass die Ereignisse ohne den RIAS überhaupt nicht möglich gewesen waren. Damit bequemte er sich mit zwei Jahrzehnten Verspätung freilich nur zu dem Eingeständnis, dass die vom sowjetischen Stadtkommandanten in einem am 30. Juni an die Kommandanten der westlichen Besatzungssektoren gerichteten Brief gemachten sehr deutlichen Hinweise ebenso den Tatsachen entsprachen wie die Enthüllungen der DDR über den RIAS als Spionagesender. Unter dem Eindruck der massiven Proteste mussten umfangreiche Programmänderungen vorgenommen werden. So sah sich der RIAS im November 1953 genötigt, vor allem auf die berüchtigte Hetzsendung „Berlin spricht zur Zone“ zu verzichten. Dennoch blieb er wichtigstes Instrument im Ätherkrieg gegen die DDR, weshalb sein Hauptsender einen 147 m hohen Antennenmast erhielt, über den zusammen mit der Relaisstation im bundesdeutschen Hof zwei Programme über insgesamt 10 Kurz-, Mittel- und Ultrakurzwellensender ausgestrahlt wurden.

Der 17. Juni 1953 erwies sich letztlich auch und vor allem als offener Ausbruch und Höhepunkt der in der DDR durch Bertold Brecht mit dem sarkastischen Ausspruch, wenn die Führung das Volk für politisch unreif halte, solle sie sich doch besser ein neues Volk suchen, zum Ausdruck gebrachten Führungkrise. Dabei lassen sich im wesentlichen vier Schwerpunkte erkennen: Da war die vor allem Walter Ulbricht als dem Generalsekretär des ZK der SED angelastete Krise der politischen Führung, womit sein Sturz in greifbare Nähe gerückt war. Zweiter Schwerpunkt war das eindeutige Versagen des Ministeriums für Staatssicherheit, das praktisch nicht in der Lage gewesen war, von den Vorbereitungen für einen Umsturzversuch Kenntnis zu erlangen. So war es nicht möglich gewesen, rechtzeitig Abwehrmaßnahmen zu treffen. Dritter Schwerpunkt war die bislang erfolgte einseitige Konzentration der wirtschaftlichen Entwicklung auf die Schwer- und Grundstoffindustrie. Deren Aufbau war angesichts der von den westlichen Besatzungszonen ausgegangenen wirtschaftlichen und dann auch staatlichen Spaltung von grundlegender Bedeutung für die lebensnotwendige Schaffung einer eigenen Wirtschaftsstruktur. Angesichts der begrenzten Mittel musste dabei aber eine Vernachlässigung der Verbrauchsgüterindustrie in Kauf genommen werden, was letztlich zu Lasten der Bevölkerung ging. Die infolge der kriegs- und nachkriegsbedingten Entbehrungen geradezu zwangsläufige einseitige Ausrichtung vieler Bürgerinnen und Bürger auf das dank offener Grenze frei zugängliche und in voller Absicht zum „Schaufenster der westlichen Welt“ ausgebaute Berlin (West) musste so ganz einfach zu dort wohlkalkuliertem und beabsichtigten Unmut führen, dessen Umschlagen in Unzufriedenheit und offenen Aufruhr dann in den Augen derer, die die DDR „zum Verschwinden“ bringen wollten, nur noch eine Frage der Zeit war. Dabei waren auch und vor allem die Aktivitäten des von Jakob Kaiser (CDU) geleiteten „Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen“ unübersehbar gewesen. Auch wenn dessen Wühltätigkeit nicht unmittelbar darauf gerichtet gewesen war, gerade den 17. Juni 1953 zum „Tag X“ werden zu lassen, so hatte diese doch vom Grundsatz her den Boden dafür bereitet. Kaisers Biografen Conze, Kosthorst und Nebgen sollten das dann in ihrem Buch „Jakob Kaiser. Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen“, wenn auch widerwillig sowie verharmlost und beschönigt, zugeben: „Am 17. Juni war es schließlich in der DDR zur höchstmöglichen Steigerung, ja zur Explosion gekommen – sicherlich nicht durch das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen ausgelöst oder in solcher Form gewollt, aber seine jahrelange Aufklärungsarbeit hatte mindestens indirekt zur Schaffung der Bedingungen ihrer Möglichkeit beigetragen.“ Der vierte Schwerpunkt dieser Krise bestand im politischen und vor allem strafrechtlichen Umgang mit an den Ereignissen des 17. Juni beteiligt gewesenen Personen, soweit es den Sicherheitsorganen gelungen war, solche festzunehmen und Ermittlungsverfahren einzuleiten. Während Justizminister Max Fechner (SED) davon ausging, dass es sich in der großen Mehrzahl um irregeleitete Arbeiter gehandelt hatte, und eine Todesurteile in größerer Anzahl und hohe Zuchthausstrafen einschließende Abrechnung ablehnte, gab es im Führungskreis um Walter Ulbricht und bei einer Reihe von Juristen wie Hilde Benjamin (SED) eine völlig entgegengesetzte Auffassung. Wer Menschenleben auf dem Gewissen hatte, den musste natürlich die Strenge des Gesetzes treffen, doch war wohl nicht immer eindeutig zu ermitteln, wer in einem von antikommunistischer Massenhysterie geprägten Menschenauflauf konkret welche strafbare Handlung begangen hatte. Zudem hatten die sowjetischen Truppen bei ihrem Eingreifen bereits Personen festgenommen und unter der Beschuldigung, Rädelsführer gewesen zu sein, standrechtlich erschossen. Auch hier war das nicht immer konkret beweisbar gewesen, weshalb bundesdeutsche Politik natürlich aus Personen wie dem bei der Erstürmung und Verwüstung der SED-Kreisleitung Jena verhafteten Alfred Diener unschuldige Opfer und Märtyrer macht. Die Beteiligung an dieser Untat konnte indes nicht bestritten werden und so wurde sie bei sich „unabhängig und überparteilich“ nennenden Konzernmedien ganz einfach verharmlost. Er habe lediglich nach „Unterlagen über seinen Vater gesucht“ wurde da behauptet. Max Fechner hatte in einem am 30. Juni 1953 in „Neues Deutschland“ veröffentlichten Interview angekündigt, dass nur solche Personen bestraft werden sollten, „die sich eines schweren Verbrechens schuldig machten“. Dagegen sollten ohne Nachweis von begangenen Verbrechen keine Streikleitung und kein Rädelsführer „auf bloßen Verdacht oder schweren Verdacht hin“ bestraft werden.

Die in der UdSSR ausgebrochene Führungskrise wurde im Laufe des Jahres 1953 gelöst, indem sich Nikita Sergejewitsch Chrustschow gegen die hartnäckigen Verfechter der Weiterführung des Stalinschen Terror-Kurses durchsetzte und die wichtigsten und am schwersten belasteten, so Innenminister Lawrenti Berija, beseitigen ließ. Das ermöglichte schließlich auch das politische Überleben Walter Ulbrichts, dessen Machtfülle durch Abschaffung seiner bisherigen Funktion als Generalsekretär und Wahl zum Ersten Sekretär des ZK der SED lediglich etwas gestutzt wurde – zumindest symbolisch. Auf die geplante Herausgabe einer Sonderbriefmarke zu seinem 60. Geburtstag am 30. Juni 1953 wurde sinnvollerweise ebenso verzichtet wie auf die Uraufführung des diesem Ereignis gewidmeten Films „Baumeister des Sozialismus“. Wilhelm Zaisser verlor seine Funktion als Minister für Staatssicherheit, womit gleichzeitig einer der schärfsten Kritiker von Walter Ulbrichts bürokratischem Führungsstil kaltgestellt wurde. Das Ministerium für Staatssicherheit wurde vorübergehend zum Staatssekretariat zurückgestuft und dem Minister des Innern unterstellt. Max Fechner kostete die von ihm vertretene und durchaus richtig gewesene Linie nicht nur das Amt als Minister, er wurde gar aus der Partei ausgeschlossen und 1955 in einem Prozess zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Dass die Vorwürfe gegen ihn ungerechtfertigt waren, bewiesen die bereits 1956 erfolgte Entlassung aus der Haft, die Begnadigung durch Staatspräsident Wilhelm Pieck und die Wiederherstellung seiner Parteimitgliedschaft 1958. In den 1960er Jahren schlossen sich die Auszeichnung mit dem Vaterländischen Verdienstorden (1965 in Silber, 1967 in Gold) und schließlich auch die öffentliche Aussöhnung Walter Ulbrichts mit ihm an. In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht war bereits am 9. Juni der „Neue Kurs“ eingeleitet worden, der unter anderem die Verminderung der Aufwendungen für die Schwerindustrie, die Rücknahme der administrativen Normenerhöhungen, Erleichterungen für rückkehrwillige Republikflüchtige, eine Erhöhung der Rechtssicherheit und eine wahrheitsgemäße Berichterstattung in den Medien vorsah. In bundesdeutschen Veröffentlichungen dazu wird gern behauptet, Walter Ulbricht habe die Verwirklichung des „Neuen Kurses“ nie ernsthaft geplant gehabt. Bewiesen wurde davon nichts, doch von einer konsequenten Durchsetzung kann jedenfalls keine Rede sein. Für die Tatsache, dass es dennoch zu den Ereignissen des 17. Juni kommen konnte, sind die bislang vorgefundenen Erklärungen keineswegs eindeutig. Bundesdeutsche Veröffentlichungen suchen gern nach solchen der einfachen Art, weshalb sie meinen, das Vertrauen großer Teile der Bevölkerung in die politische Führung sei mit der Verkündung des „Neuen Kurses“ nicht wiederherzustellen gewesen. Das mag teilweise zutreffen, doch nicht weniger naheliegend ist die Schlussfolgerung, dass interessierte Kreise vor allem in Berlin (West) mit der Rücknahme der Normenerhöhung zu recht auch das Schwinden von Unmut und Unzufriedenheit befürchteten, was ihre Pläne für die baldige Auslösung des „Tages X“ empfindlich störte. Nicht umsonst heizten RIAS, KgU und UfJ ihre Hetz- und Verleumdungskampagne gegen die DDR weiter an, aktivierten ihre Spionagenetze sowie Terror- und Sabotageaktionen zur Störung von Wirtschaft und Landwirtschaft sowie von Handel und Versorgung. Die Parteiführung unter Walter Ulbricht beging einen weiteren schweren Fehler, indem mit der Maßgabe „Keine Fehlerdiskussion“ eine gründliche und kritische Analyse der Ursachen dieses 17. Juni 1953 unterbunden und stattdessen der Illusion angehangen wurde, begangene Fehler „im Vorwärtsschreiten“ lösen zu wollen. Dennoch hatte der 17. Juni 1953 in wirtschaftlicher Hinsicht ein für die DDR positives Ergebnis, da sich die UdSSR veranlasst sah, auf weitere Reparationsleistungen zu verzichten. So berechtigt diese Forderungen angesichts der von deutsch-faschistischer Hand angerichteten schweren Zerstörungen waren, so stellten sie doch gleichzeitig ein schweres Hindernis für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung der DDR dar. Bis dahin hatte sie, berechnet nach Preisen des Jahres 1953, die mit insgesamt 99,1 Milliarden D-Mark (der Deutschen Bundesbank) höchsten Reparationsleistungen des 20. Jahrhunderts erbracht. Die BRD hatte demgegenüber nur 2,1 Milliarden D-Mark an Reparationsleistungen erbringen müssen, zudem war von ihr im Widerspruch zum Potsdamer Abkommen an die UdSSR kein Pfennig gezahlt worden. Die DDR hatte somit zwischen 97 % und 98 % aller Reparationsleistungen für das ehemalige Deutsche Reich erbringen müssen. Das war pro Person das 130fache des auf die Bürgerinnen und Bürger der BRD entfallenden Anteils gewesen!

Ein weiteres wichtiges Ergebnis war die Bildung der Kampfgruppen der Arbeiterklasse, mit denen die Betriebe sowie andere volkswirtschaftlich wichtige Objekte vor Angriffen, Provokateuren und Sabotageakten geschützt werden sollten. Diese bislang wenig beachtete Seite zeigt, dass das Misstrauen der politischen Führung kein die gesamte Arbeiterklasse pauschal betreffendes war. Ansonsten wären keinem Personenkreis außerhalb der schon vorhandenen Sicherheitsorgane Waffen übergeben worden. Im Hinblick auf die im „Neuen Kurs“ geforderte Erhöhung der Rechtssicherheit wurde unter Leitung von Hilde Benjamin, vom 15. Juli 1953 bis 1967 Ministerin für Justiz, mit der schon 1952 ausgearbeiteten Strafprozessordnung, dem Gerichtsverfassungsgesetz und dem Jugendgerichtsgesetz Rechtsgeschichte geschrieben. Ab 1963 leitete sie die Ausarbeitung des neuen Strafgesetzbuches und ebenso geht der 1965 vorgestellte Entwurf des Familiengesetzbuches auf ihr Wirken zurück. Wichtige Punkte dieses Entwurfs waren die völlige Gleichstellung nichtehelicher Kinder, die Reformierung des Scheidungs- und Namensrechts sowie die Förderung der Berufstätigkeit der Frau, womit die DDR im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter wesentlich fortschrittlicher als die BRD war.

Der Widerspruch zwischen gesellschaftlichen Erfordernissen einerseits und den ökonomischen Möglichkeiten andererseits konnte zeitlebens nie überwunden werden. Verschärft wurde dieser zum einen durch den Umstand, dass die Partnerländer der DDR mit Ausnahme der Tschechoslowakei allesamt als Agrarländer mit wenig produktiver Landwirtschaft und unterentwickelter Industrie mit dem Bau einer sozialistischen Gesellschaft begonnen hatten. Von ihnen war demzufolge wenig oder auch gar keine Unterstützung zu erwarten, eher musste die DDR in der Hoffnung auf eine spätere Lieferung wichtiger Rohstoffe solidarische Hilfe leisten. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die auf die Erkundung von Lagerstätten wichtiger Bodenschätze gerichtete Tätigkeit von Geologen in der Mongolischen Volksrepublik. In dem Maße, wie die Führungen vieler Partnerländer der Illusion anhingen, mit Krediten kapitalistischer Banken ihre Volkswirtschaften in kürzester Frist auf den modernsten Stand bringen zu können, den Kapitalismus also zu überlisten versuchten, begaben sie sich in die Schuldenfalle und wurden erpressbar. Ungarn beispielsweise war als einziges sozialistisches Land 1982 Mitglied des Weltwährungsfonds (IWF) geworden und stöhnte nun längst unter der horrenden Schuldenlast von 19,6 Milliarden US-Dollar („Neues Deutschland“, 21./22.06.2014). Die notwendigen Zahlungen für Waren, Zinsen und Tilgungsraten verschlangen 75 % des jährlichen Nationaleinkommens! Eine der Folgen war ebenso wie bei Rumänien und Bulgarien die Nichteinhaltung abgeschlossener Lieferverträge über Obst und Gemüse, weil die Masse landwirtschaftlicher Erzeugnisse als Billigexporte zur Schuldentilgung in die kapitalistischen Gläubigerstaaten ging. In dem Maße, wie sich dadurch das Angebot an Obst und Gemüse in Menge und Sortiment verschlechterte, wuchs die Unzufriedenheit bei Teilen der Bevölkerung, zumal sich die sogenannte Versorgungsdiskussion ohnehin längst verselbständigt und zum Teil groteske Formen angenommen hatte. Verschärft wurde die Lage der DDR durch die Tatsache, dass sie der Konfrontation mit dem Kapitalismus am härtesten ausgesetzt war, wurde doch insbesondere durch die BRD nicht nur der Bau einer sozialistischen Gesellschaft, sondern darüber hinaus ihre staatliche Existenz auf das Äußerste bedroht. Die für Verteidigung und Sicherheitsorgane aufgewandten Mittel stellten eine große Belastung des Staatshaushaltes dar. In dem Bewusstsein, dass der Aufbau des Sozialismus einen verhältnismäßig langen Zeitraum umfassen musste, setzte der in strategischen Dimensionen denkende Walter Ulbricht auf die umfangreiche Entwicklung von Wissenschaft und Technik, um die Arbeitsproduktivität rasch steigern zu können. Auf der anderen Seite konnten wegen der insgesamt begrenzten Mittel Wohnungsbau und Konsumgüterindustrie nicht in dem Maße entwickelt werden wie es Bedarf und Bedürfnisse der Bevölkerung erfordert hätten. Unter seinem auf kurzfristige Erfolge setzenden Nachfolger Erich Honecker wurde das Verhältnis nicht etwa verbessert, sondern einfach umgekehrt: Mit einem gigantischen Wohnungsbauprogramm sollte das Wohnungsproblem als soziale Frage innerhalb von 20 Jahren gelöst werden. Dieses Programm war einerseits eine gesellschaftliche Notwendigkeit und eine humanistische Großtat, andererseits ging es zu Lasten der für die Industrie notwendigen Investitionen. Wirtschaftspolitik verkam so unter dem überdies sehr überheblichen und selbstherrlichen Günter Mittag zwangsläufig zur Flickschusterei. Es trat genau das ein, wovor Nikita Sergejewitsch Chrustschow auf dem VI. Parteitag der SED 1963 so eindringlich gewarnt hatte: „Nicht jeder versteht die Probleme des Kampfes zwischen den Gesellschaftsordnungen ohne weiteres. Er vergleicht einfach: Was erhält Fritz in der DDR und was erhält Gustav, der in Westdeutschland arbeitet. Darum ist eure Aufgabe, die Produktion so zu organisieren, die Arbeitsproduktivität so zu steigern, daß sie höher ist als in den kapitalistischen Ländern. Kein Teufel, kein Kaiser kann Brot, Butter und Milch geben, wenn ihr es nicht selbst durch eigene Arbeit schafft. Auch das ist, glaube ich, klar. Um über noch mehr zu verfügen, muß man die Arbeitsproduktivität steigern. Wenn wir nur mehr konsumieren, werden wir nicht reicher werden. Wir werden das Grundkapital aufessen und arm werden. Und betteln werden wir nicht. Einige Kapitalisten stehen mit offener Hand da. Sie tun etwas in die Hand hinein, um so den Kampf gegen uns zu führen. Wir haben nichts zu erwarten von irgendeinem reichen Onkel.“

Ein ebenso wunder Punkt blieb die im „Neuen Kurs“ festgelegte wahrheitsgemäße Berichterstattung in den Medien. In dieser Frage fehlten der politischen Führung Souveränität und Gelassenheit. Sie war stets und ständig von der Angst besessen, die offene und öffentliche Diskussion gesellschaftlicher Probleme würde dem Gegner nützen und man müsse ihm doch nicht noch die Munition liefern. Doch gerade Verschweigen und Schönfärberei sowie langweilige und langweilende „Hofberichterstattung“ über alle möglichen öffentlichen Auftritte von Mitgliedern der Parteiführung waren dem Gegner von größtem Nutzen: Die von Joachim Herrmann zu verantwortende Medienpolitik trieb viele Bürgerinnen und Bürger den Sendern von ARD und ZDF geradezu in die Arme. Unter solchen Bedingungen kam auch eine wahrheitsgemäße und journalistisch gut gemachte Berichterstattung über die Verhältnisse in kapitalistischen Staaten nur ungenügend an. Dabei entspricht es keineswegs den Tatsachen, dass aus den Sendungen von ARD und ZDF nun wirklich und wahrhaftig zu erfahren war, was wirklich in der Welt vor sich ging. Doch wohlfeile Lügen, Halbwahrheiten und Sensatiönchen waren eingängiger als Tatsachen, nahmen sie doch das Denken nicht in Anspruch, sondern setzten vielmehr auf irrationale Gefühlsaufwallungen mit nachfolgenden endlosen und vor allem erregten Diskussionen im Arbeitskollektiv. Interessant ist dabei die Erkenntnis, dass dennoch unterschwellig und unbewusst ein bestimmtes Maß an Rationalität verblieb, denn wer sich an ARD und ZDF ausrichtete, filterte fast immer nur das heraus, was er hören und sehen wollte. Sobald „heute“ oder „tagesschau“ über steigende Arbeitslosenzahlen, Miet- und Preiserhöhungen, Obdachlosigkeit oder ausufernde Kriminalität in der BRD berichteten, wurde weggeschaut und weggehört. Wer von vermeintlicher Reisefreiheit schwärmte, hatte ebenfalls die sich zu Beginn der 1980er Jahre bei ARD und ZDF häufenden Klagen über den mangels Geld hervorgerufenen deutlichen Rückgang der nach Mallorca und anderen kapitalistischen Ferienparadisen reisenden Bundesbürger überhört. Die zunehmende Zahl von Menschen, die sich nur noch den „Urlaub“ in „Balkonien“, also in der eigenen Wohnung, oder in „Gartenien“, also dem eigenen Garten oder Kleingarten, leisten konnten, war von den wenigsten der sich über ARD und ZDF „Informierenden“ zur Kenntnis genommen worden. So war auch in Sachen Medienpolitik aus den verhängnisvollen Junitagen des Jahres 1953 nichts gelernt worden, was sich vor allem im Sommer 1989 in bislang ungekannter Schärfe zeigen sollte. Die verheerenden Folgen sind alle bekannt.