Willi Münzenberg und die radikale Solidarität
2019 steht der 130. Geburtstag des Verlegers und Filmproduzenten Willi Münzenbergs an – Zeit, dass Erfurt den Sohn der Stadt öffentlich wahrnehmbar ehrt.
Von Paul Wellsow
Die große, internationale Solidaritätsaktion, der Kampf für die Gewährung des vollen, uneingeschränkten Asylrechts, die Bemühungen um die Sicherstellung der Existenz der proletarischen Emigranten (...) sind ein wichtiges Stück antifaschistischen Kampfes. Sie müssen, sie werden fortgeführt und gesteigert werden. (...) Und wer kann, wird helfen.“
Dieses Zitat, das aus einem Beitrag zur aktuellen Debatte um Flucht und Migration stammen könnte, ist der „Arbeiter Illustrierten Zeitung“ (AIZ) von 1934 (Nr. 14) entnommen. Unter der Überschrift „Die über die Grenze kamen“ wurde das Schicksal jener Emigrant*innen geschildert, die vor dem deutschen Faschismus in die benachbarten Länder fliehen mussten. Nur auf „Schleichwegen“ sei das möglich. Im Exil erwarte sie ein „strenges Verbot der Arbeitssuche“ und immer wieder drohe Ausweisung, berichtete die AIZ. Die internationale Arbeiter*innenbewegung müsse den Kampf um das Asylrecht führen und praktische Solidarität zur materiellen Unterstützung organisieren.
Die AIZ erschien zwischen 1921 und 1933 in Berlin und ab 1933 aus dem Prager Exil – anfänglich unter dem Titel „Sowjet-Russland im Bild“ und ab 1924 als „A-I-Z“. Gründer und Chef war Willi Münzenberg, der 1889 in Erfurt geboren wurde und bis 1910 in der Region und der Stadt lebte. Die Zeitschrift war ein „Gegenmodell zur bürgerlichen Illustrierten“ (Gabriele Ricke) und ein Werkzeug kommunistischer Medien- und Kulturpolitik. Sie versuchte nicht nur die Massen zu erreichen – sie schaffte es. Ihre Auflage erreichte zeitweise eine halbe Million Exemplare. Renommierte Schriftsteller*innen und Autor*innen schrieben für das Blatt, das neben Politik auch Kultur, Reportage, Literatur und praktische Tips bot. Durch ihre populäre Aufmachung, den intensiven Einsatz von Bildern und Fotomontagen und die Themen erreichte sie teils auch jene, die der KPD nicht nahestanden.
Die AIZ habe „kompromisslos auf der Seite der Unterdrückten“ gestanden, schrieben Marcel Bois und Stefan Bornost in einem Porträt des Blattes. „Radikale Solidarität und globales Engagement“ (Kasper Braskén/Uwe Sonnenberg) waren auch Kern von Münzenbergs „Internationaler Arbeiterhilfe“ (IAH). Mit zeitweise weltweit 18 Millionen Einzel- und Kollektivmitgliedern wurde sie – auf Initiative der „Kommunistischen Internationale“ 1921 gegründet – ein „globales Solidaritätsnetzwerk der Arbeitsbewegung“. Suppenküchen, Spendensammlungen, Kinderheime, Unterstützung für Streikende und Exilierte und Medien-Arbeit, das waren die Aktivitäten der von Münzenberg geformten IAH.
Münzenberg wurde am 14. August 1889 in Erfurt geboren. Er ging in Friemar, Eberstädt und Gotha zur Schule und arbeitete von 1904 bis 1910 in der Erfurter Schuhfabrik Lingel. Hier fand er den Weg in die Arbeiter*innenbewegung. 1906 trat er in den sozialdemokratischen Bildungsverein „Propaganda“ ein. In später verfassten Erinnerungen beschrieb er den ersten Kontakt: „Nach langem Zögern und Zaudern fassten wir, unserer vier oder fünf, endlich Mut und machten uns auf, den geheimnisvollen Verein ´Propaganda´ zu besuchen. Aber am ersten Abend gelangten wir nur bis in die Wirtschaft, in deren oberen Räumen der Verein seine Versammlungen abhielt, dort saßen wir, klopften Karten und musterten scheu die Besucher, die nach dem oberen Saal stiegen. Nachzufolgen fehlte uns der Mut und wir kehrten unverrichteter Sache nach Hause zurück. Zum zweiten Mal, einige Wochen später, begleitete mich nur ein Kollege, den anderen war die Lust vergangen. Diesmal nahm sich ein älterer Genosse, jedenfalls durch den Wirt aufmerksam gemacht, unserer an und wir folgten ihm nach oben.“
1910 verließ Münzenberg Erfurt nach Zürich, Arbeit fand er hier durch seine politische Betätigung nicht mehr. Auch in der Schweiz wurde er in der sozialistischen Bewegung führend tätig und 1918 als „Anhänger der Oktoberrevolution“ des Landes verwiesen. Zurück in Deutschland wurde er Gründungsmitglied der KPD, Vorsitzender der „Kommunistischen Jugend-internationale“, später Mitglied des Zentralkomitees der KPD (1924 – 1933) und Abgeordneter des Reichstags. Er wurde einer der wichtigsten Propagandisten für die Sowjetunion und schaffte es mit seinen Kongressen und Medien, der KPD ein politisches Umfeld aufzubauen, das weit über den Kreis der Partei hinausreichte. 1933 floh er nach der Machtübertragung an die NSDAP ins Exil nach Paris. Von dort organisierte er antifaschistische Aktivitäten und Publizistik, unter anderem verlegte er das „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror“. Münzenberg setzte auf politische Zusammenarbeit sozialdemokratischer, kommunistischer und bürgerlicher Hitler-Gegner*innen. Nach zunehmender Kritik am Stalinismus und der Entwicklungen von KPD und Komintern kam er seinem Ausschluss aus der Partei 1939 durch Austritt zuvor. Auf der Flucht vor der vorrückenden Wehrmacht starb Münzenberg unter bis heute ungeklärten Umständen im Juni 1940 in Frankreich.
Sucht man heute nach Spuren von Münzenberg in seiner Geburtsstadt, findet man nicht viel. „Ihre Suche nach ‘Münzenberg’ ergab 0 Treffer“, so lautete bis vor kurzem die Antwort der Suchmaschine auf der offiziellen Website der Stadt. Doch seit wenigen Wochen taucht sein Name dort endlich auf. Aber nur im Zusammenhang mit der aktuellen Ausstellung „Die zwei Tode des Paul Schäfer“. Denn der war Mitstreiter von Münzenberg und 1926 Sekretär der IAH. Eine eigenständige Erwähnung findet Münzenberg bis heute auf der Website der Stadt nicht. Und auch: Keine Straße und kein Platz ist nach dem Sohn der Stadt benannt. Als Erfurter ist Münzenberg im Gedächtnis hier kaum vorhanden. Seit 1999 hängt wenigstens in der Augustinerstraße eine Gedenktafel: „Hier stand das Geburtshaus von Willi Münzenberg. 1889 – 1940. Publizist im Widerstand gegen Hitler und Stalin.“ Doch zwischenzeitlich musste der kleine „Willi-Münzenberg-Freundeskreis“ um Dirk Teschner vom Erfurter Kunsthaus dafür streiten, dass nach Umbauarbeiten die Tafel wieder angebracht wurde. Wenige Veranstaltungen versuchten, Münzenbergs Wirken ins Gedächtnis zu rufen – unter anderem die Ausstellungen „Der rote Faden. Münzenberg als Brücke zum 21. Jahrhundert“ und die nun erneut durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen gezeigten Tafeln „Vom Verschwinden des Willi Münzenberg“. Seit 2010 erinnert zudem in der Fraktion DIE LINKE im Landtag eine Tafel an Münzenberg.
Münzenbergs „radikale Solidarität und globales Engagement“ griff DIE LINKE an seinem 129. Geburtstag auf. Wie in den vergangenen Jahren legten Vertreter*innen der Partei, darunter die Thüringer Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow und Ministerpräsident Bodo Ramelow, an der Erfurter Gedenktafel Blumen nieder. Zudem war eine Aktion zur Unterstützung der Seenot-Rettung von Geflüchteten vorbereitet: „Radikale Solidarität im Sinne Münzenbergs heißt heute, das Recht zu verteidigen – so absurd sind die Zeiten – Menschen aus dem Mittelmeer zu retten. (…) Wenn wir als LINKE heute die Bewegung ‘Seebrücke’ unterstützen und dem seit 2015 beschleunigten Rechtsruck entgegentreten, nehmen wir diese radikale Solidarität auf. Wir bringen das von Münzenberg mitgestaltete Erbe der Arbeiterbewegung ins Heute.“ 2019 ist Münzenbergs 130. Geburtstag und 2020 jährt sich sein Tod zum 80. Mal. Es wird Zeit, dass Erfurt den Sohn der Stadt öffentlich wahrnehmbar ehrt – zum Beispiel durch die Benennung einer Straße oder eines Platzes.