Der „Werwolf“ - Geheimarmee für den Kampf fünf Minuten nach zwölf

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Vor 70 Jahren wurde Deutschland vom Faschismus befreit. Nächst dem „Volkssturm“ war die bewusst geheimnisumwitterte Organisation „Werwolf“ die zweite Säule beim wahnwitzigen Versuch, den längst verlorenen Kampf nicht nur in den letzten Wochen und Monaten des Krieges, sondern auch nach dessen Ende fortzusetzen.

Nächst dem „Volkssturm“ war die bewusst geheimnisumwitterte Organisation „Werwolf“ die zweite Säule beim wahnwitzigen Versuch, den längst verlorenen Kampf nicht nur in den letzten Wochen und Monaten des Krieges, sondern auch nach dessen Ende fortzusetzen. Beim Werwolf im ursprünglichen Sinne handelt es sich um eine Sagengestalt, der in der germanischen Mythologie die Eigenschaft zugeschrieben wurde, sich vom Menschen in einen reißenden Wolf verwandeln zu können. Viele Sagen berichten, dass das nur solchen Männern gelang, die zuvor einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatten, von dem sie daraufhin einen Gürtel aus Wolfsfell erhielten, der ihnen diese Zauberkraft verlieh. Diese Möglichkeit, sich als Raubtier durch Verwandlung in einen Menschen zu tarnen, also einmal harmlos und ein anderes Mal gefährlich zu erscheinen und großes Unheil anzurichten, war den Schöpfern der diesen Namen tragenden Geheimorganisation Anlass, sie so zu nennen. Dass deren Mitglieder einen Pakt mit dem Teufel in Gestalt des Hitler-Faschismus geschlossen hatten, trifft dabei durchaus den Kern der Sache. Zudem steht die der Sagengestalt zugeschriebene Möglichkeit des ständigen Wechsels zwischen harmlosem und raubtierhaftem Wesen für den um diese Organisation aufgebauten Mythos: Sie sollte hinter einer Art Nebelvorhang verborgen bleiben, um dann völlig unerwartet aus diesem Nebelschleier aufzutauchen und überraschend und wirksam zuzuschlagen. Niemand sollte wissen, wo er sich gerade befand, aber jeder sollte mit seinem plötzlichen Erscheinen rechnen und seine Rache fürchten müssen. Die Angst vor dem „Werwolf“ sollte umgehen und das Verhalten vieler Menschen sowohl vor und während des Einmarschs der Truppen der Anti-Hitler-Koalition als auch nach der Bedingungslosen Kapitulation des „Dritten Reiches“ nachhaltig beeinflussen. Darin bestand das Hauptziel der Mitglieder der faschistischen Führung, die mit der Ausarbeitung der Pläne zur Schaffung dieser Organisation befasst waren. Nach den Vorstellungen von NSDAP-Reichsleiter Martin Bormann und Reichsführer SS Heinrich Himmler sollte der „Werwolf“ eine aus besonders fanatischen Angehörigen von NSDAP, HJ, SA, SS und weiteren „Gliederungen“ der Nazi-Partei sowie der Wehrmacht gebildete im Untergrund tätige Terroristen- und Diversantenorganisation werden. Als militärischen Berater und Chef der aufzustellenden „Werwolf“-Verbände erkoren sich beide mit SS-Obergruppenführer Hans-Adolf Prützmann (1901 bis 1945) einen ausgewiesenen Fachmann für die Anwendung der berüchtigten „Taktik der verbrannten Erde“. Nicht umsonst war der für die systematische Ausrottung jüdischer Bürger im besetzten Teil der UdSSR verantwortliche „Höchste SS- und Polizeiführer Ukraine“ schon im September 1944 zum „Generalinspekteur für Spezialabwehr beim Reichsführer SS“ ernannt worden.
Entgegen dem von Propagandaminister Joseph Goebbels verbreiteten Heldenmythos, beim „Werwolf“ handle es sich um den aufopferungsvollen heroischen Kampf „unausgebildeter Jugendlicher und Frauen“, ging Hans-Adolf Prützmann an die Schaffung einer im Stil der SS-Jagdverbände operierenden Untergrundorganisation. Deren Hauptaufgabe sollte im Verüben von Terror- und gezielten Mordanschlägen gegen Angehörige der Armeen der Anti-Hitler-Koalition und für den Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung wirkende deutsche Bürgerinnen und Bürger sowie Anschläge gegen militärische Einrichtungen und Nachschubwege sein. Mit Gewalt und Terror sollte die kampflose Übergabe von Städten und Gemeinden an die vorrückenden alliierten Truppen verhindert sowie die Zerstörung von Verkehrs- und Industrieanlagen gesichert werden. Natürlich war den „Schöpfern“ dieser Terror- und Diversantenorganisation von vornherein klar, dass für einen schnellen Aufbau reichsweiter Strukturen gar keine Zeit mehr blieb. Es war immerhin schon März 1945, die Rote Armee stand bereits in Hinterpommern und Oberschlesien. Bei Küstrin hatte sie die Oder erreicht und einen Brückenkopf geschaffen, in Ostpreußen und bei Danzig waren mehrere Verbände der Wehrmacht eingeschlossen. Es gab keine durchgehende Front mehr und im Süden stieß die Rote Armee aus Westungarn auf Wien vor. Britische, kanadische und US-amerikanische Einheiten hatten den Rhein erreicht, den sie am 23. und am 26. März zunächst bei Wesel und dann auch bei Worms überschritten. Drei Tage später hatten sie Frankfurt/Main und Mannheim besetzt. Angesichts der dadurch bedingten Unmöglichkeit einer flächendeckenden Schaffung von „Werwolf“-Einheiten fiel Propagandaminister Goebbels die Hauptaufgabe zu – mittels Rundfunk und Zeitungen sowie durch Flüsterpropaganda den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. So wurde die Untergrundorganisation mit großem Pomp bekanntgemacht. Wie der „Völkische Beobachter“ verkündete, galt für alle „Werwolf“-Angehörigen der Grundsatz „Hass ist unser Gebet, Rache ist unser Kampfruf!“ Am 2. April meldete das „Deutsche Nachrichten-Büro“ (DNB), mit dem „Geheimsender Werwolf“ habe das „Organ nationalsozialistischer Freiheitskämpfer“ zu arbeiten begonnen. Dieser Sender verbreitete seitdem an jedem Abend punkt 19.00 Uhr Berichte über Anschläge auf US-amerikanische Soldaten, Überfälle auf Nachschubtransporte, Sprengstoffanschläge und Strafaktionen gegen Wehrmachtsangehörige, die das Morden und Zerstören nicht mehr mitmachen wollten. Alle der in den letzten Wochen vor dem Untergang des Deutschen Reiches in der Umgebung Hitlers ausgebrüteten Pläne hatten aber nicht nur Terror und Sabotage sowie die Verbreitung von Angst, sondern auch und vor allem die Schaffung von für einen Wiederaufbau der Nazi-Partei geeigneten Strukturen zum Ziel. So sahen Historiker hierin ebenso Bestrebungen, mit „Werwolf“ und „Volkssturm“ eine Art Skelett ihrer künftigen Militärorganisation zu errichten.
Militärisch war der „Werwolf“ nichts anderes als der Irreführung von Anti-Hitler-Koalition und Bevölkerung dienendes Blendwerk, doch dieses Blendwerk war ein so folgenreiches wie folgenschweres: Der von Joseph Goebbels raffiniert inszenierte Propagandafeldzug hatte tatsächlich Ängste und Befürchtungen geschürt, der „Werwolf“ lauere überall und es sei stets und ständig damit zu rechnen, dass er plötzlich aus dem um ihn gewobenen Nebelvorhang auftauchen, blitzschnell und mit aller Brutalität zuschlagen und dann ebenso rasch wieder verschwinden könnte. So warnte denn auch die britische Presse vor den „Werwölfen“ und „ihrem tollkühnen Kampfeswesen“, die US-Truppen stellten sich auf „einen langen und bitteren Guerilla-Krieg“ ein. Vor allem bei ihren Einheiten ging daher zeitweise eine regelrechte „Werwolf“-Hysterie um, womit sich im wesentlichen auch erklärt, warum damals viele Jugendliche beschuldigt wurden, Angehörige dieser Terrororganisation zu sein. Solcher von wem auch immer und aus welchen Gründen auch immer in die Welt gesetzter Verdacht brachte neben wirklichen „Werwölfen“ zahlreichen Unschuldigen Verhaftung und Gefängnisaufenthalt oder Internierung ein. Wo es allerdings doch noch gelungen war, funktionierende Strukturen aufzubauen, schlugen „Werwolf“-Gruppen tatsächlich und mit aller Brutalität zu. Am bekanntesten ist das als „Penzberger Mordnacht“ in die Geschichte eingegangene Massaker, bei dem am 28. April 1945 insgesamt 16 Antifaschisten ermordet wurden: Am Morgen hatte die von Hauptmann Rupprecht Gerngross (1915 bis 1996) geführte und von der Widerstandsgruppe O 7 unterstützte „Freiheitsaktion Bayern“ zwei Münchener Rundfunksender besetzt und zur Beendigung aller Kampfhandlungen sowie zur Entmachtung der Nazi-Partei aufgerufen. Daraufhin hatte im oberbayerischen Bergbauort Penzberg der 1933 aus dem Amt gejagte sozialdemokratische Bürgermeister Hans Rummer (1880 bis 1945) Gleichgesinnte um sich geschart, setzte den NSDAP-Bürgermeister Vonwerden ab, ergriff Maßnahmen zur Verhinderung der geplanten Sprengung der Schachtanlagen, sorgte für die Befreiung von Zwangsarbeitern und Häftlingen aus benachbarten Lagern und traf erste Maßnahmen für einen Neuaufbau der Verwaltung. In München hatte Gauleiter Paul Giesler (1895 bis 1945) inzwischen Gestapo und SS-Einheiten zur brutalen Niederschlagung des von der „Freiheitsaktion Bayern“ begonnenen Aufstands in Marsch gesetzt. Das Penzberger Rathaus wurde vom Werferregiment 22 umstellt, sein Kommandeur Oberstleutnant Berthold Ohm ließ Hans Rummer und sieben seiner Mitstreiter festnehmen und auf Befehl des Gauleiters - „Rummer und seine Leute werden umgelegt!“ - erschießen. Damit nicht genug ließ er eine von SA-Brigadeführer Hans Zöberlein, als Schriftsteller Verfasser kriegsverherrlichender und von antisemitischer Hetze strotzender Romane, geführte Einheit des „Werwolf Oberbayern“ zur Unterstützung des Werferregiments in Marsch setzen, die das Massaker vollendete: Ihr „Fliegendes Standgericht“ verurteilte auf Grund von Denunziationen verhaftete weitere acht Männer und Frauen, darunter eine Schwangere, zum Tode und erhängte sie. Nur zwei der insgesamt 18 Verurteilten gelang die Flucht. Sie waren die einzigen Teilnehmer der Widerstandsaktion, die zwei Tage später die Befreiung durch die US-amerikanische Armee erlebten. Den Ermordeten waren Schilder mit der Aufschrift „Werwolf Oberbayern“ umgehängt worden, zudem hatten einige der Mörder Handzettel mit der Drohung „Warnung an alle Verräter und Liebesdiener des Feindes! Der Oberbayerische Werwolf warnt vorsorglich alle diejenigen, die dem Feinde Vorschub leisten wollen oder Deutsche und deren Angehörige bedrohen oder schikanieren, die Adolf Hitler die Treue hielten. Wir warnen! Verräter und Verbrecher am Volke büßen mit dem Leben und ihrer ganzen Sippe. Dorfgemeinschaften, die sich versündigen am Leben der Unseren oder die weiße Fahne zeigen, werden ein vernichtendes Haberfeldtreiben erleben, früher oder später. Unsere Rache ist tödlich! Der Werwolf“ verteilt.
Im gemäß der nazistischen „Blut-und-Boden“-Ideologie zum „Reichsmusterdorf“ erhobenen niedersächsischen Dötlingen ermordeten Angehörige der „Werwolf“-Einheit „Kampfgruppe Wichmann“ am 14. April 1945 den politisch als „Störenfried“ geltenden Bauern Willi Rogge. Dem Toten war ein Schild mit der Aufschrift „Wer sein Volk verrät, stirbt“ umgehängt und in der „Oldenburgischen Staatszeitung“ ein die Mörder und ihre Hintermänner lobender Artikel mit der Überschrift „Verräter gerichtet“ veröffentlicht worden. In Eberswalde verübten „Werwölfe“ Brandanschläge auf mehrere Gebäude, darunter den Aussichtsturm und die Ausflugsgaststätte „Wasserfall“. Die Rote Armee konnte dadurch nicht aufgehalten werden, zumal sie die Stadt vorerst umgangen hatte, um schneller nach Berlin vorstoßen zu können. Im Ruhrgebiet kommandierte mit SS-Obergruppenführer Karl Gutenberger der Höhere SS- und Polizeiführer West eine am 25. März 1945 zur Ermordung des Aachener Oberbürgermeisters Franz Oppenhoff in Marsch gesetzte „Werwolf“-Gruppe. Im April 1945 ermordete ein Angehöriger einer „Werwolf“-Gruppe im sächsischen Siegmar-Schönau eine Frau, die zuvor gemeinsam mit ihrem Mann eine weiße Fahne gehisst hatte. Nach seiner Flucht in die US-Amerikanische Besatzungszone auf Antrag des Landgerichts Chemnitz 1946 ausgeliefert, wurde er zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im südlichen Ostpreußen hatte sich eine vom ehemaligen HJ-Führer Joachim Schaak befehligte „Werwolf“-Einheit in den fast undurchdringlichen Wäldern verschanzt. Von ihrem Schlupfwinkel brach sie zu nächtlichen Überfällen auf, um in zahlreichen Dörfern polnische Neusiedler zu terrorisieren. Erst nach einem siebenjährigen Kleinkrieg, in dem die „Werwölfe“ vielerorts Angst und Schrecken verbreitet hatten, gelang es Einheiten von Miliz und polnischer Armee, ihrer Herr zu werden und sie vor Gericht zu stellen. Ihr Anführer wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Die Mörder von Penzberg dagegen kamen letztendlich billig davon: Oberstleutnant Berthold Ohm erhielt im am 14. Juni 1948 begonnenen Prozess 15 Jahre Zuchthaus. Hans Zöberlein als Anführer der „Werwolf“-Einheit und Hans Bauernfeind, Chef ihres „Fliegenden Standgerichts“, wurden zum Tode verurteilt, entgingen aber mit Gründung der BRD der Vollstreckung durch Umwandlung in lebenslängliche Freiheitsstrafen. Ohm und Bauernfeind wurden schon 1956 bzw. 1950 begnadigt und in Freiheit gesetzt, Zöberlein 1958 aus gesundheitlichen Gründen entlassen. Zwei weitere Mitglieder der „Werwolf“-Einheit wurden zu lebenslänglichem Zuchthaus, ein drittes zu drei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. Zwei Angehörige des Werferregiments wurden freigesprochen.
Auch die für den Mord an Willi Rogge Verantwortlichen erfuhren gerichtliche Nachsicht und Milde: Der ehemalige NSDAP-Gauleiter von Weser-Ems, Paul Wegener, wurde 1953 vom Schwurgericht Oldenburg freigesprochen, obwohl er mit seinem Befehl, wonach „Volksverräter und Defaitisten und ähnliche Elemente mit aller Schärfe und Schnelligkeit ausgemerzt“ werden sollten, die Begründung für das Verbrechen erlassen hatte. Für einen Schuldspruch der an der Ermordung unmittelbar Beteiligten bedurfte es insgesamt vier Prozesse. Der Anstifter Heinrich Brockshus, zum Tatzeitpunkt stellvertretender Ortsgruppenleiter der NSDAP, wurde 1947 vom Landgericht Oldenburg zu lebenslanger Haft verurteilt, sieben weitere Angeklagte erhielten mehrjährige Haftstrafen. Zwei nachfolgende Prozesse führten jedoch zu erheblich milderen Urteilen. Am 18. Juni 1953 verurteilte das Schwurgericht Oldenburg Heinz Günter Wichmann nicht mehr wegen Mordes, sondern lediglich wegen Totschlags zu drei Jahren, seinen Adjutanten Georg Schnibben nur wegen „Beihilfe“ zu zwei Jahren und neun Monaten Freiheitsentzug. Die restlichen Täter, darunter Heinrich Cordes und der eigentliche Mörder Wilhelm Piening, erhielten Haftstrafen von lediglich zwei Jahren und sechs Monaten. Der Richter, August von Döllen, war während des Krieges Oberstabsrichter der Wehrmacht gewesen.
Ebenfalls billig davon kamen SS-Obergruppenführer Karl Gutenberger und weitere Mitglieder der „Werwolf“-Gruppe: Zwar verurteilte ihn ein britisches Militärgericht 1948 zu 12 Jahren Haft, aus der er jedoch schon am 9. Mai 1953 entlassen wurde. Gegen die vom britischen Geheimdienst aufgespürten Mitglieder verhängte das Aachener Landgericht äußerst milde Haftstrafen von einem Jahr und vier Jahren, wogegen die BDM-Hauptgruppenführerin Ilse Hirsch freigesprochen und gegen ein 16 Jahre altes HJ-Mitglied gar keine Anklage erhoben wurde. In zwei Nachfolgeverfahren wurden die Strafen weiter verringert und auf Grund des „Straffreiheitsgesetzes“ von 1954 wegen angeblichen „Befehlsnotstandes“ gänzlich erlassen. Erst im Jahre 2013 wurde ermittelt, dass der Vorsitzende Richter seit 1937 Mitglied der NSDAP und an einem faschistischen Sondergericht tätig gewesen war.