Kurt Schröder: Trotz „Blauem Schein“ ins Strafbataillon 999
„Blauer Schein“, so wurde im „Dritten Reich“ ein auf blaues Papier gedrucktes Dokument genannt, dessen Besitz gemeinhin als ehrenrührig galt. Es bescheinigte dessen Inhaber, „wehrunwürdig“ und damit „vom Dienst in der Wehrmacht ausgeschlossen“ zu sein. Doch manche Antifschisten sollten dennoch Kanonenfutter „unschädlich" gemacht werden.
„Blauer Schein“, so wurde im „Dritten Reich“ ein auf blaues Papier gedrucktes Dokument genannt, dessen Besitz gemeinhin als ehrenrührig galt. Es bescheinigte nämlich dessen Inhaber, „wehrunwürdig“ und damit „vom Dienst in der Wehrmacht im Frieden und im Kriege dauernd ausgeschlossen“ zu sein. Weiter hieß es: „Er scheidet auf die vorstehend eingetragene Dauer aus dem Wehrpflichtverhältnis aus.“ Dass es in erster Linie Gegner des Faschismus traf, der Ausschluss also vorwiegend politische Gründe hatte, liegt auf der Hand. Ebenso klar ist, dass sich keiner von den Nazi-Gegnern davon sonderlich beschwert fühlte, hatte doch schon Karl Liebknecht bei seiner Verurteilung durch die kaiserliche Justiz 1916 gesagt, dass niemand „den Zuchthauskittel mit größerer Ehre“ tragen werde als er. Schlimmer wogen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen, war es doch mit jenem Schein schwer, eine angemessen bezahlte Arbeit zu bekommen, von deren Verdienst man seine Familie ernähren konnte.
Zu denen, die aus politischen Gründen für „wehrunwürdig“ erklärt wurden, gehörte der am 16. Januar 1907 geborene Ilmenauer Glasmacher Kurt Schröder. Seit seiner durch den Ersten Weltkrieg mit Hunger und Not sowie die in der Schule übliche Rohrstock-„Pädagogik“ geprägten weitgehend freudlosen Jahre der Kindheit wusste er, was es hieß, zeitlebens zu den armen Leuten gehören zu müssen. Den Gürtel enger zu schnallen – das war ihm frühzeitig aufgezwungen worden, doch er sah auch, dass die so etwas salbungsvoll predigenden Glashüttenbesitzer für sich selbst keinerlei Notwendigkeit für Bescheidenheit und Sparsamkeit sahen. Er erlebte ebenso die Willkür der Unternehmer und ihrer Verbände, die mit Aussperrung und Entlassung schnell bei der Hand waren, wenn sich die Beschäftigten gegen Lohnkürzungen und die Aushebelung des durch die Novemberrevolution hart erkämpften Acht-Stunden-Tages wehrten: Die ostthüringische Textil-, Gips- und Ziegelindustrie wurde 1924 durch massenhafte Streiks für seine Beibehaltung ebenso erschüttert wie die Ilmenauer Porzellanfabrik AG und die Firma Galluba & Hofmann. Der „Arbeitgeberverband der Deutschen Feinkeramischen Industrie“ antwortete mit der Verhängung der Aussperrung in sämtlichen ihm angehörenden Betrieben Thüringens und Bayerns. Der Staat setzte alle seine Machtmittel ein, um die Arbeitskämpfe im Sinne der Unternehmer zu beenden: Am 1. Mai 1924 ging Polizei am Wenzelsberg mit gefälltem Karabiner gegen den Demonstrationszug vor. Das alles erlebte auch der junge Kurt Schröder und er wollte mithelfen, den Interessen der Glas- und Porzellanarbeiter Geltung zu verschaffen. Deshalb wurde er Mitglied des Jungspartakusbundes und seines Nachfolgers, des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD). Er trat dem 1925 gegründeten Rotfrontkämpferbund (RFB) und 1927 auch der Kommunistischen Partei Deutschlands bei. Das brachte ihm nach dem Machtantritt der Nazi-Partei am 30. Januar 1933 kurz nach dem Reichstagsbrand die erste Verhaftung und drei Wochen „Schutzhaft“ ein. Im Jahre 1934 folgten zweimal nacheinander je sechs Wochen Untersuchungshaft. Ein Jahr später wurde er zusammen mit dem Glasmacher Paul Böhm, dem Erdarbeiter Otto Böhm, dem Fahrer Oskar Greiner, dem Glasmacher Kurt Heinz und dem Transportarbeiter Willy Lörzing wegen illegaler Tätigkeit für KPD und RFB vom Oberlandesgericht Jena zu insgesamt 9 Jahren und 4 Monaten Gefängnis verurteilt. Seine wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verhängte Strafe von 2 Jahren und 8 Monaten verbüßte er in den Landesstrafanstalten Ichtershausen und Gräfentonna.
Da er somit im Sinne der nazistischen Justiz vorbestraft war, galt er als „wehrunwürdig“, wurde doch der im Zuge der Kriegsvorbereitung wieder zur Pflicht gemachte Waffendienst offiziell als „Ehrenpflicht“ hingestellt. Dafür war natürlich ein wegen Widerstandes gegen die Nazi-Herrschaft Vorbestrafter nicht „würdig“. Außerdem mochte man solchem „unsicheren Kantonisten“ keine Waffe in die Hand geben. Das Erlebnis der Novemberrevolution von 1918, wo Soldaten und Matrosen die Waffen umgedreht und die Monarchie gestürzt hatten, saß der Führung des „Dritten Reiches“ noch viel zu tief in den Knochen. So war es kein Wunder, dass auch Kurt Schröder mit jenem „Blauen Schein“ der Ausschluss vom Kriegsdienst bestätigt wurde. Allerdings sollte dieser Zustand nicht lange währen, war doch die Wehrmachtsführung angesichts der beim heimtückischen Überfall auf die Sowjetunion bis zum Dezember 1941 erlittenen personellen Verluste nicht mehr in der Lage, die für die Wiederherstellung der erforderlichen Truppenstärke von 340.000 Soldaten notwendigen Mannschaften zu rekrutieren. Mit der ersten schweren Niederlage in der Schlacht vor Moskau wurden die deutsch-faschistischen Aggressoren nicht nur um bis zu 400 km nach Westen zurückgeworfen, sie erlitten mit 120.000 Gefallenen und Erfrorenen ebenso starke personelle Verluste. Um zu retten, was noch irgendwie zu retten schien, wurde mit Verfügung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 2. Oktober 1942 die „Wehrunwürdigkeit für die Dauer des Krieges aufgehoben“ und somit auch Antifaschisten zum Kriegsdienst gezwungen. Auf Grund dessen wurden Sondereinheiten aufgestellt, die offiziell als „Bewährungseinheiten“, von den Betroffenen aber richtigerweise als Strafeinheiten bezeichnet wurden. Die bekannteste und bedeutendste war die unter dem Namen „Strafbataillon 999“ in die Geschichte eingegangene Einheit, die aber von der Stärke her als „Strafdivision 999“ einzuordnen ist: Ein Bataillon umfasste 300 bis 1.200 Mann, die Division aber 10.000 bis 30.000 Mann und jene „Bewährungseinheit 999“ erreichte einschließlich 9.000 Mann Stammpersonal eine Stärke von 37.000.
Natürlich war sich die Führung des „Dritten Reiches“ darüber im Klaren, dass Antifaschisten wie Kurt Schröder keinerlei Neigung zeigen würden, sich in deren Sinne zu „bewähren“. So wurde nach dem alten römischen Grundsatz „Divide et impera“ („Teile und herrsche“) verfahren: Der Anteil der Antifaschisten wurde mit 30 % so klein wie möglich gehalten, wogegen der Bestand an Kriminellen 70 % betrug. Zu diesen zählten Kleinkriminelle ebenso wie im Nazi-Jargon als „Berufsverbrecher“ bezeichnete Schwerverbrecher. Auch andere Personen, die mit der faschistischen Gesetzgebung in Konflikt gekommen waren, wurden als Kriminelle gebrandmarkt und in die Strafdivision 999 gepresst – Männer, die gegen die „Nürnberger Gesetze“ verstoßen oder aus Not ohne Genehmigung geschlachtet hatten und daher „Schwarzschlächter“ genannt wurden, Wilddiebe und Schleichhändler. Diese „Intellektuellen unter den Kriminellen“ sahen sich meist als Gegner des „Dritten Reiches“ und unterstützten daher häufig die Politischen, zu denen Kommunisten, Sozialdemokraten, Pfarrer und Zeugen Jehovas zählten. Die Mehrheit der Klein- und Schwerkriminellen aber betätigte sich als gegen die Politischen wirkende Spitzel, Zuträger und Provokateure. Diese Kriminellen sahen den Zwangsdienst in der Strafdivision 999 oftmals tatsächlich als „Bewährungschance“, verschafften sie sich doch als willige Werkzeuge der Divisionsführung gegen die Politischen jene kleinen Vorteile, mit denen sie sich auf deren Kosten den höllischen Dienst erleichtern konnten. Außerdem hoffte so mancher, seine Raub- und Mordgelüste bei eventuellen „Bewährungseinsätzen“ ungehindert austoben zu können. Nicht viel besser waren meistenteils die eingesetzten Wach- und Ausbildungsmannschaften, wurden doch dafür bevorzugt fanatische Nazis ausgewählt. Ebenso wurden wegen verschiedenster Vergehen degradierte und bestrafte Wehrmachtsangehörige eingesetzt, von denen sich ebenfalls so mancher durch besonders scharfes Vorgehen wieder hochdienen wollte.
Kurt Schröder erreichten der Bescheid über die „Aufhebung der Wehrunwürdigkeit für die Dauer des Krieges“ und der sofortige Einberufungsbefehl im Jahre 1943, nachdem mit Gefängnis, Zuchthaus oder KZ bestrafte Antifaschisten bereits 1940 zur Musterung erscheinen mussten. Was ihm dabei unbekannt blieb, war das raffinierte Zusammenspiel zwischen Gestapo und Wehrbezirkskommando: Erstere bestimmte, wer aus seinem heimatlichen Wirkungsbereich zu entfernen war, um besser unter Kontrolle gehalten und am Ende als Kanonenfutter „unschädlich gemacht“ zu werden. Wie auch der Gehrener Glasbläser Karl Stieler wurde er mit einem Sammeltransport in die im Südostzipfel Badens gelegene Gemeinde Stetten am kalten Markt verbracht. Schon der Name lässt schaudern und gedanklich das Blut in den Adern gerinnen, erinnert er doch unwillkürlich an das in der Schwäbischen Alb herrschende rauhe Klima, von dem Einheimische sagen, es bringe ein dreiviertel Jahr überaus harten Winter und ein viertel Jahr grimmigste Kälte. Als Ausbildungslager diente der einsam gelegene, ab 1910 errichtete Truppenübungsplatz auf dem Großen Heuberg, der schon in der kaiserlichen Armee als „Schleifstein des Reiches“ berüchtigt, gefürchtet und verhasst war. Zwischen 980 und 1.015 m erhebt sich hier die Hochfläche der Schwäbischen Alb, das Klima ist von Kälte und jährlichen Niederschlägen von bis zu 1.100 mm pro Quadratmeter geprägt. Wer in dieses Lager, von dem ein Teil 1933 das erste und äußerst berüchtigte KZ im Südwesten des „Dritten Reiches“ gewesen war, verbracht wurde, musste schon die sprichwörtliche Pferdenatur besitzen, um in dem zur Verfügung gestellten dünnen Drillichzeug nicht an langwierigen Erkältungskrankheiten leiden zu müssen. Ja, anfangs gab es nicht einmal genügend Uniformen, weshalb über mehrere Wochen die eigene Zivilkleidung zu tragen war. Was Kurt Schröder im Heuberg-Lager vorfand, war ein nahezu von der Außenwelt abgeschnittenes unwirtliches Gebiet. In der näheren Umgebung befanden sich keinerlei Häuser oder gar Dörfer. So konnten sich die Wachmannschaften ungehindert austoben. Wie schlimm die Misshandlungen auch waren, außerhalb des Stacheldrahtes wurden sie weder gehört noch gesehen. Hierbei taten sich vor allem fanatische Nazis hervor, denen Antifaschisten grundsätzlich als „Untermenschen“ galten. Zu diesen gesellten sich brutale, niederträchtige und hinterhältige Schleifertypen. Andererseits gab es auch menschlich Gesinnte, von denen einige den Politischen gar eine gewisse Hochachtung zollten. Fast alle dieser freilich wenigen Vorgesetzten und Soldaten waren vor allem durch den Verlauf des Krieges gegen die Sowjetunion ernüchtert worden.
Die Verpflegung war schlecht und keineswegs ausreichend. Über mehrere Wochen war jeder Kontakt mit der Außenwelt streng verboten, weder gab es Ausgang noch durften Briefe an die Angehörigen geschrieben werden. Schließlich wurden wenigstens der Empfang von Post und die Abgabe der für die Familien bestimmten Mitteilungen auf der Schreibstube gestattet - im offenen Umschlag natürlich. Besuche von Frauen und Kindern waren ebenfalls verboten, doch ließen sich viele von ihnen allen Behinderungen und Schikanen zum Trotz nicht davon abhalten. Auch Toni Schröder nahm ihren ganzen Mut zusammen und wagte gemeinsam mit weiteren Frauen die beschwerliche Bahnreise nach Stetten am kalten Markt. Zwar versuchten örtliche NS-Funktionäre alles, um sie durch Beherbergungs- und Verpflegungsverbote zur sofortigen Rückfahrt zu zwingen, doch fanden sich immer wieder Einheimische, die Hilfe gewährten. Sie hatten ihre Gründe dafür – bei manchen waren es einfach menschliche Anteilnahme und Mitgefühl. Viele andere waren auch auf die Nazi-Herrschaft nicht gut zu sprechen, hatte sich doch ihre Lebenslage seit 1933 kaum verbessert. Allen großartigen Versprechungen zum Trotz war die Schwäbische Alb Notstandsgebiet geblieben und wer konnte, suchte sein Heil im Verlassen der unwirtlichen Heimat mit ihren wenig fruchtbaren Böden. Mehrere Tage lang wagten die angereisten Frauen von 999ern den beschwerlichen Aufstieg auf den Großen Heuberg und forderten am Stacheldrahtzaun so lautstark „Wir wollen unsere Männer sehen!“, bis ihnen dort wenigstens ein kurzes Gespräch erlaubt wurde. Danach genehmigte die Divisionsführung endlich einen zeitlich streng begrenzten Ausgang nach Stetten am kalten Markt, so dass sich Familien dort immerhin für ein paar Stunden treffen durften.
Ziel der kurzen, aber harten und schikanösen Ausbildung, die Kurt Schröder erlebte, waren die Ausmerzung jeglichen selbständigen Denkens durch Erziehung zu blindem Gehorsam. Nicht einmal auf Altersunterschiede wurde bei diesem Drill Rücksicht genommen und ebenso wenig interessierte es, dass viele durch vorangegangene Haftjahre geschwächt waren. Als Schikanen waren bei Vorgesetzten das Strafexerzieren wegen Nachlässigkeiten in der Dienstausführung, das Säubern der durch die Ausbildung stark verschmutzten Uniformen in unzumutbar kurzer Frist und die Reinigung der Unterkunft mit primitiven Hilfsmitteln unter größtem Zeitdruck besonders beliebt. Häufig hatte der Unteroffizier vom Dienst dabei erst für Dreck und Unordnung gesorgt. Ebenso erlebte Kurt Schröder willkürliche Urlaubs- und Ausgangssperren sowie eine strenge Postzensur. Wer sich bei Unterhaltungen auch nur kritisch zur Nazi-Herrschaft äußerte oder am „Endsieg“ zweifelte, der hatte, wenn er von einem als Spitzel eingesetzten Kriminellen belauscht worden war, sein Todesurteil ebenso in der Tasche wie jeder, der dem unmenschlichen Drill durch Desertieren entfliehen wollte oder sich lediglich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte. Dabei war es völlig gleichgültig, ob der Fahnenflüchtige von Polizei oder Feldgendarmerie gestellt worden oder angesichts der Aussichtslosigkeit seines Vorhabens aus eigenem Entschluss zurückgekehrt war. Ebenso betroffen waren Bibelforscher, die Kriegsdienst und Eidesleistung grundsätzlich ablehnten: Mehr als neununddreißigmal knallten zwischen Dezember 1942 und November 1943 auf dem MG-Schießstand die Salven des aus Angehörigen des Stammpersonals bestehenden Exekutionskommandos, wurde das Leben von Menschen ausgelöscht, die sich dem faschistischen Raubkrieg verweigerten. Zur Abschreckung musste die ganze Kompanie zusehen, obwohl die Dienstvorschrift dazu das Einverständnis der Soldaten verlangte. Die zunächst auf dem Stettener Friedhof beigesetzten Leichen wurden auf Anordnung des Nazi-Bürgermeisters wieder ausgegraben und auf dem Großen Heuberg namenlos verscharrt. Aufschlussreich ist hier übrigens, dass sich die Staatsanwaltschaft Konstanz am 30. Juli 1965 strikt weigerte, die dort begangenen Morde als strafbare Handlungen zu werten. Faschistisches „Recht“, das letztlich darin bestand, den Tod in Paragrafen und die Paragrafen in den Tod zu verwandeln, wurde somit offiziell als legal anerkannt!
Drill, Schikanen und Bespitzelung konnten freilich nicht verhindern, dass sich Politische nach und nach zu illegalen Widerstandsgruppen zusammenfanden. Wer sich wie Kurt Schröder und Karl Stieler seit Jahren kannte, wusste, dass einer dem anderen vertrauen und sich auf ihn verlassen konnte. In der großen Mehrzahl der Fälle aber musste man sich erst einmal mit äußerster Vorsicht herantasten, um festzustellen, mit wem eine Zusammenarbeit überhaupt möglich war. Stets galten der Grundsatz strengster Konspiration und der Wille, bei Vorgesetzten und Kriminellen niemals negativ aufzufallen oder sich gar zu unbedachten Äußerungen und Handlungen hinreißen zu lassen: Im 1969 gesendeten Fernsehfilm „Hans Beimler“ gibt es eine heroisch anmutende Szene, in der er den hier als Eisenbrenner bezeichneten Dachauer KZ-Kommandanten Theodor Eicke einen Mordbrenner nennt und anschließend gemeinsam mit den angetretenen Häftlingen unter dem wütenden Geschrei der SS-Wachmannschaften die „Internationale“ anstimmt. Gerade diese Sequenzen wurden von ehemaligen Häftlingen, darunter 999ern, nicht nur als maßlos übertrieben, sondern als völlig unmöglich, weil lebensgefährlich gewesen, heftig kritisiert. Im Heuberg-Lager hätte so etwas unweigerlich mit dem sinnlosen Tod auf dem MG-Schießstand geendet! Nein, illegale Arbeit sah anders aus: Wem es beispielsweise gelungen war, eine gewisse Vertrauensstellung zu erlangen, etwa den Dienst auf der Schreibstube, der hörte und sah manches. So erlangte Informationen über die Kriegslage oder bevorstehende Transporte an die Fronten wurden heimlich weitergegeben. Vor einem Fronteinsatz stehende Kameraden schmuggelten Briefe, in denen die Wahrheit über die Zustände im Heuberg-Lager geschildert wurden, an der Zensur vorbei und ließen sie auf verschlungenen Wegen vertrauenswürdigen Personen zukommen. Unter strengen Sichherheitsvorkehrungen wurden auch Gespräche mit längst desillusionierten Ausbildern gesucht, um sie in ihrer Haltung zu bestärken. Ebenso galt es, besonders brutale und gefährliche Soldatenschleifer und Kriminelle zu isolieren. Das sind freilich nur einige Beispiele für die Vielfalt der illegalen Tätigkeit im Heuberg-Lager.
Insgesamt erwies sich die Strafdivision 999 hinsichtlich der Politischen für die Wehrmachtsführung als Fehlschlag: Ob in Nordafrika, in Frankreich, Griechenland, Albanien, Jugoslawien, Bulgarien oder der Sowjetunion – stets wurde der Kontakt zur einheimischen Widerstandsbewegung gesucht. Viele liefen auch zu Partisaneneinheiten, Befreiungsarmeen oder den alliierten Truppen über und organisierten sich politisch in dem Nationalkomitee Freies Deutschland nahestehenden Verbänden. Wer bei der Unterstützung von Partisanengruppen und alliierten Einheiten oder beim Überlaufen ertappt wurde, bezahlte umgehend mit seinem Leben. So fielen in Griechenland insgesamt 205 politische 999er unter den Kugeln der Erschießungskommandos, nur 56 ihrer Opfer wurden namentlich bekannt. Dazu kamen von einheimischen Faschisten und Kollaborateuren gefasste Überläufer, die entweder auf der Stelle ermordet oder an die Gestapo ausgeliefert wurden.
Kurt Schröder selbst wurde zum Kriegseinsatz nach Frankreich abkommandiert, wo er auch in Gefangenschaft geriet. Französische Kriegsgefangenschaft war, folgt man den Berichten Betroffener, harte Arbeit bei schmaler Kost. Ob zwischen den politischen 999ern und den übrigen Angehörigen der Wehrmacht unterschieden wurde oder ob jeder als „Le Boche“ - eine abfällige Bezeichnung für die 1870, 1914 und 1940 in Frankreich eingefallenen deutschen Militärangehörigen – behandelt wurde, ließ sich bislang nicht feststellen. Als Kurt Schröder 1947 zu Frau und Sohn nach Ilmenau fahren durfte, laut Entlassungsschein ohne Rückkehrmöglichkeit nach Frankreich oder in die Französische Besatzungszone, da die Stadt in der Sowjetischen Besatzungszone lag, hatten Haft, brutaler Drill in der Strafdivision, Kriegseinsatz und Gefangenschaft ihre tiefen Spuren hinterlassen. Er war herz- und nervenkrank, ein Zustand, dessen Auswirkungen bis zu seinem Tode anhalten sollten. Gewiss, er erhielt die Widerstandskämpfern zustehenden Vergünstigungen; Auszeichnungen und Ehrungen waren eine Selbstverständlichkeit. Anlässlich seines 80. Geburtstages und seines 5. Todestages wurde der Betriebsfeuerwehr des VEB Werk für Technisches Glas der Ehrenname „Kurt Schröder“ verliehen. Doch in der bei seiner Entlassung gerade angebrochenen neuen Zeit, die er einst erträumt und erstrebt, wofür er Haft und Strafdivision auf sich genommen hatte und deren Bau viele Jahrzehnte Arbeit erfordern würde, reichte es längst nicht, wie einst beim Glashüttenbesitzer Probleme dadurch lösen zu wollen, dass man laut seine Meinung sagte und mit der Faust auf den Tisch haute. Für seine Mitmenschen war es daher nicht immer leicht, mit ihm zurechtzukommen. Kurt Schröder verstarb kurz nach seinem 75. Geburtstag am 14. April 1982. Die Urne des einstigen 999ers wurde im am 13. September 1987 eingeweihten Ehrenhain für antifaschistische Widerstandskämpfer und Verfolgte des Faschismus auf dem Ilmenauer Friedhof beigesetzt.
H.-J. Weise