Aus dem Kalten Krieg: Für Reagan ein Schock – Kriegszustand in der Volksrepublik Polen

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„Einhaltung des Arbeitsrechts“, „Sichere Rente“, „Gute medizinische Versorgung“, „Friedliche Arbeit“, „Sicherer Lohn“, „Sichere Arbeitsplätze“, „Sicherheit für Sie und Ihren Betrieb“ - so großartig hatten die Versprechungen von „Solidarność“ ausgesehen. Die bittere Wirklichkeit sieht heute anders aus.

Von Hans-Joachim Weise 

 

Der Herbst des Jahres 1980 vermittelte ein seltsames Gefühl: Mir war, als wäre eine Tür ins Schloss gefallen, und zwar so, dass sie auf Jahre hinaus nicht mehr zu öffnen sein würde, jedenfalls nicht ohne weiteres. Im August hatte ich wieder einige Urlaubstage bei Bekannten in der Volksrepublik Polen verbracht und auch auf der Rückfahrt schien die Welt noch wenigstens halbwegs in Ordnung zu sein. Jedenfalls kam kein Gedanke daran auf, dass es schon bald mit dem pass- und visafreien Reiseverkehr vorbei sein würde – ausgesetzt, vorübergehend natürlich nur, wie es amtlich hieß. Dabei war zumindest auf dem Lande noch alles ruhig gewesen, von dem, was sich in großen Städten und vielen Betrieben des Nachbarlandes schon seit Monaten abspielte, war da kaum etwas zu spüren. Aus den Medien der DDR war auch sehr wenig Genaues zu erfahren, dort hielt man sich mehr als nur bedeckt, sprach gelegentlich von erneuten Provokationen einer in jenem Jahr gegründeten Organisation, die sich „Solidarność“ nannte, was im Deutschen nichts weiter als „Solidarität“ hieß. Eine Gewerkschaft sollte es sein, jedenfalls wurde dieser Anspruch von deren Anführern erhoben und in aktuellen Lexika hieß es unter dem Stichwort „Polen, Volksrepublik“ so allgemein wie nichtssagend „Gegenwärtig zeichnen sich neue Formen in der Gewerkschaftsbewegung ab.“ Die Medien der BRD dagegen schossen da längst aus allen Rohren, lobten diese angebliche Gewerkschaft in den höchsten Tönen und priesen deren Vorsitzenden Lech Walęsa, streng katholisch erzogener und bislang mittelmäßig begabter Elektriker auf der Lenin-Werft in Gdańsk, lauthals als „Arbeiterführer“. Man bedenke, ausgerechnet dort, wo den Eignern der großen Industrie-, Finanz- und Agrarkapitalien Gewerkschaften als arges Hindernis bei der Erwirtschaftung von Maximalgewinnen galten, wo sie in den Betrieben nichts zu suchen hatten und wo alles unternommen wurde, um sich Branchengewerkschaften wenigstens gefügig zu machen oder ihnen handzahme, unternehmerfreundliche „christliche Gewerkschaften“ entgegenzusetzen, gab es ungeteilte Begeisterung für jene „Solidarność“ und den angeblichen „Arbeiterführer“. Es blieb auch nicht lange geheim, dass diese Organisation zu einem erheblichen Teil mit Geldern aus den USA und anderen NATO-Staaten finanziert wurde und von der stramm antikommunistischen katholischen Kirche wärmste Unterstützung erhielt. Ebenso wenig blieb es lange geheim, dass jener „Arbeiterführer“ keineswegs im Interesse der polnischen Arbeiter handelte, sondern bestrebt war, nicht nur der offiziellen Gewerkschaft OPZZ das Wasser abzugraben, sondern mit massenhaften, letztlich klerikal-antikommunistisch motivierten Streiks die ohnehin mehr schlecht als recht funktionierende Wirtschaft lahmzulegen. Zu wessen Nutzen das war, bewies nicht nur die Tatsache, dass „Solidarność“ keinerlei Interesse an Beziehungen zu den Gewerkschaftsverbänden der anderen sozialistischen Länder und zum Weltgewerkschaftsbund (WGB) zeigte, sondern dem reformistischen und daher kapitalfreundlichen „Internationalen Bund Freier Gewerkschaften“ (IBFG) beitrat: Lech Walęsa wurde in der kapitalistischen Welt mit Auszeichnungen und Ehrungen geradezu überhäuft – Wahl zum „Mann des Jahres“ durch das US-amerikanische Magazin „Time“, „Freiheitspreis“ (50.000 Schwedische Kronen) der schwedischen Zeitung „Dagens Nyheter“ und des dänischen Blattes „Politiken“, „Shalom-Preis“ der bundesdeutschen katholischen Organisation „Arbeitskreis für Gerechtigkeit und Frieden“ (gegenwärtig 5.000 bis 15.000 Euro) und die Krone wurde dem Ganzen schließlich 1983 mit der Verleihung des Friedensnobelpreises aufgesetzt. Was dieser „Arbeiterführer“ für den Frieden getan haben soll, blieb das Geheimnis des Nobelkomitees, das diesen Preis seit 1945 noch nie einem Politiker zuerkannt hatte, der wirklich bedeutsame Schritte für Frieden und Abrüstung eingeleitet hatte. Ihn hatte es weder für die Initiatoren des Stockholmer Appells zur Ächtung der Atombombe noch für den polnischen Außenminister Adam Rapacki als Initiator der Schaffung atomwaffenfreier Zonen in Europa gegeben. Alle diese Gelder flossen in die „Solidarność“ genannte und in der kapitalistischen Welt so bejubelte und geförderte Organisation, dienten also ihrer Finanzierung. Sinn und Zweck dieser Schöpfung von US-amerikanischen und vatikanischen Gnaden waren damit unschwer zu erraten: Die führungsschwache, seit Jahren von erheblichen wirtschaftlichen und Versorgungsproblemen geschüttelte Volksrepublik Polen, auf deren Bevölkerungsmehrheit die katholische Kirche traditionell einen starken Einfluss hatte, galt der NATO, vor allem seit dem Amtsantritt des militant-antikommunistischen US-Präsidenten Ronald Reagan, als schwächstes Glied innerhalb des Warschauer Vertrages und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Das Herausbrechen des Landes aus dieser Gemeinschaft musste schwerwiegende Folgen für ihren Bestand haben: So wäre die DDR als ihr westlichster Vorposten von einem kapitalistischen und zumindest NATO-freundlichen Polen und der ihr von Anfang an nach dem Leben trachtenden BRD gleichsam in die Zange genommen worden, eine Entwicklung, die durch die „Frontstadt“ Berlin (West) zusätzlich verschärft worden wäre. Angesichts dessen konnte man sich an den fünf Fingern abzählen, warum ausgerechnet der polnische Kardinal Karol Wojtyła zum Papst Johannes Paul II. gewählt worden war. Nie zuvor war ein katholischer Würdenträger aus einem sozialistischen Land auf den „Stuhl Petri“ berufen worden, ein Zeichen dafür, dass mit dieser Wahl dem polnischen Papst eine Schlüsselrolle beim Herausbrechen der Volksrepublik zugedacht war.

Die andauernden Streiks, die Scharfmacher in der „Solidarność“ wie Anna Walentynowicz schließlich und endlich bis zum Generalstreik anheizen wollten, hatten schwerwiegende Folgen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit der RGW-Staaten. So blieben vertraglich vereinbarte Lieferungen in die DDR entweder ganz aus, wurden verzögert oder nur teilweise erfüllt. Schwer getroffen wurde beispielsweise die Deutsche Reichsbahn, weil die Volksrepublik Polen keine oder zu geringe Mengen an Steinkohle für die noch zahlreich im Einsatz befindlichen Dampfloks lieferte. Betriebe der DDR fanden für ihre Erzeugnisse keinen Absatz, weil die bestreikten Partnerunternehmen nichts abnehmen konnten, was natürlich den Zahlungsverkehr erheblich beeinträchtigte. Bei ohnehin angespannter Wirtschaftslage wurden millionenschwere Investitionen notwendig, um durch verstärkte Elektrifizierung des Schienennetzes die Abhängigkeit von polnischer Steinkohle (letztlich auch von sowjetischem Erdöl) zu verringern sowie die Transportwege zur UdSSR durch Einrichtung der Fährverbindung Mukran – Klaipeda von Polen unabhängiger und damit sicherer zu machen, wodurch zwangsläufig der Volksrepublik wiederum Einnahmen entgehen mussten. Zudem überschwemmte „Solidarność“ das Land mit einer Flut demagogischer Propaganda, die von Freiheits- und Menschenrechtsphrasen nur so strotzte, und war auch bestrebt, diese in die Nachbarländer zu „exportieren“. Die Partei- und Staatsführung der DDR sah das Land in großer Gefahr und glaubte, diese durch weitgehende Einschränkung menschlicher Kontakte mittels Aussetzung des pass- und visafreien Reiseverkehrs abwenden zu können. Gerade diese Maßnahme aber war falsch, denn sie war Ausdruck grenzenlosen Misstrauens: Zu jenem Zeitpunkt fanden sowohl antikommunistische Propaganda als auch die Streikhysterie von „Solidarność“ bei der großen Mehrheit der Bevölkerung praktisch keine Unterstützung und auch kein Verständnis. In vielen Diskussionen wurde die Meinung vertreten, dass sich in einer volkseigenen Wirtschaft die Werktätigen damit nur selber schaden. Dass das in durch ausbleibende oder stockende Lieferungen bzw. Erzeugnisabnahme betroffenen Betrieben besonders stark zum Ausdruck kam, war nicht verwunderlich. Leute, die sich für „Solidarność“ begeisterten, bildeten damals eine kaum bedeutende Minderheit, die aus Personen bestand, die sich wie ein Wolfgang Templin in ARD und ZDF wohlwollender Unterstützung erfreuten und als „DDR-Opposition“, „Bürgerrechtler“ und was sonst noch alles in dieser Preislage gehandelt sowie vom CIA-Vertreter in der USA-Botschaft in der DDR, Imre Lipping, abgeschöpft und geführt wurden. Die von „Solidarność“ verbreiteten Pamphlete fanden schon allein wegen sprachlicher Probleme allenfalls in diesen Kreisen Interesse, bei der Mehrheit der Bevölkerung aber keineswegs, sie wurden auch politisch abgelehnt. Anstatt darauf zu bauen und somit zu vertrauen, wurde das Gegenteil getan. Statt umfassender Information über den wahren Charakter der in der kapitalistischen Welt so hofierten „Solidarność“ und politischer Offensive wurde letztlich entmündigt.

Von den verheerenden Auswirkungen der „Solidarność“-Aktionen konnte ich mich im Juli 1981 während einer „Jugentourist“-Reise nach Wrocław selbst überzeugen: Bereits im Grenzbahnhof Forst begannen die Probleme, als, ganz offensichtlich auf Grund streikbedingter unzureichender Instandhaltung, nacheinander zwei Dieselloks der Polnischen Staatsbahnen den Dienst versagten, bis schließlich eine Dampflok der einstigen deutschen Kriegsbaureihe 52 den Zug bis zum nächsten Bahnhof schleppte. Nachdem dort endlich eine betriebssichere Diesellok zur Verfügung stand, kamen wir zwar glücklich, aber mit erheblicher Verspätung in Wrocław an. In der Stadt waren ganze Häuserwände, Bauzäune und was sonst noch alles mit „Solidarność“-Losungen beklebt und verschandelt. Was dort zu lesen war, das waren aus kapitalistischer Propaganda sattsam bekannte Phrasen von Freiheit, Menschenrechten, Wahrheit, Recht, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und so weiter und so fort. Dazu kam ein von „Solidarność“ angeheizter nahezu grenzenloser Nationalismus, der freilich gegen mit ihren D-Mark-Scheinen protzende BRD-Bürger nichts hatte, das Verhältnis zu DDR-Bürgern jedoch mindestens sehr unsicher machte. So nahm ich vorsichtshalber von meinem mit dem Reiseleiter abgesprochenen Vorhaben, die knapp 50 km lange Strecke zu meinen Bekannten mit dem Bus zurückzulegen, wegen befürchteter Anpöbeleien und streikbedingter unsicherer Fahrzeiten wieder Abstand und beließ es bei Kartengrüßen. Am schlimmsten aber waren die immer weiter verschärften Versorgungsprobleme, wodurch zahlreiche Geschäfte, vor allem für Waren des Grundbedarfs, wie leergefegt waren. Es mangelte an Butter und anderen Molkereierzeugnissen, Fleisch und Wurst, teilweise auch an Brot sowie an Haushaltschemikalien. War gerade einmal eine Lieferung eingetroffen, bildeten sich schnell lange Schlangen vor den Geschäften, die über Stunden nicht abnahmen. So konnte ich eine solche, mehrere hundert Meter lange Menschenschlange vor einem Geschäft fotografieren, das gerade mit dem unserem altvertrauten „IMI“ ähnelnden Reinigungsmittel „Ixi“ beliefert worden war. „Solidarność“ ging es niemals um eine Stabilisierung der Wirtschaft und schon gar nicht der Versorgung der Bevölkerung, sondern um die Schaffung des vollendeten Chaos, an dessen Schluss der Zusammenbruch von Staat und Wirtschaft stehen sollte. Dass es sich hierbei nicht lediglich um eine bloße Vermutung oder gar Unterstellung handelte, bewies der letzte Abend unserer Reisegruppe im Jugendhotel „Almatur“: Uns war ein Gespräch zur politischen Lage angeboten worden, ganz offensichtlich in der Erwartung, dass wir ablehnen würden. Da wir jedoch bei unserer Ankunft von anderen „Jugendtourist“-Gruppen erfahren hatten, dass Jugendliche aus der DDR sehr offensiv diskutierten und die anwesenden „Solidarność“-Funktionäre dadurch häufig in Verlegenheit brachten, wollten wir es ebenfalls genauer wissen. Nun aber geschah etwas Seltsames – nach unserer Zusage wurde dieses Gespräch von Stunde zu Stunde verschoben. Auf unser wiederholtes Drängen und Nachfragen fand es dann endlich eine Stunde vor unserer Abreise statt und was uns der dort anwesende Funktionär eines „Solidarność“ nahestehenden Jugendverbandes bot, war wirklich und wahrhaftig ein Sammelsurium der genannten Schlagwörter. Zudem erzählte er voller Stolz, wie die Verteilung von „Solidarność“-Flugblättern mit Streik- und Boykottaufrufen organisiert und Angehörige der Miliz solange bedrängt oder gar bedroht wurden, bis sie festgenommene Verteiler so hilflos wie entnervt freiließen. Alle Maßnahmen und Vorschläge der Partei- und Staatsführung zu einer Verständigung und einer Beruhigung der aufgeheizten Lage stellte er als verlogene Manöver hin, mit denen „Solidarność“ lediglich das Wasser abgegraben werden sollte. Das klang alles so, als sei es auch für uns als eine Art Anleitung zum Handeln gedacht. Konkreten Fragen nach den genauen Zielen von „Solidarność“, nach der Haltung zur Volksrepublik und zum Bau einer sozialistischen Gesellschaft wich er ebenso aus wie er jede inhaltliche Erläuterung der von ihm benutzten Schlagwörter vermied. Wortreich, aber letztlich nichtssagend ging er um die Dinge herum wie die Katze um den sprichwörtlichen heißen Brei. Das einzig Konkrete, das ihm zu entlocken war, bestand darin, die Partei- und Staatsführung der Volksrepublik Polen als Marionette der UdSSR hinzustellen und im übrigen der Politik der USA Lobeshymnen zu singen. Damit war klar, wessen Interessen „Solidarność“ vertrat und dass sie letztlich keine Gewerkschaft, sondern diese Bezeichnung allenfalls Tarnung für eine konterrevolutionäre Organisation war.

In den folgenden Monaten wurde die politische und wirtschaftliche Lage zusehends verschärft. Die Volksrepublik Polen wurde in RGW und Warschauer Vertrag ein immer unsicherer, ja unberechenbarer Partner, wofür der Beifall in der kapitalistischen Welt weiter anschwoll. Die Besorgnis wuchs und in vielen Arbeitskollektiven wurde die Frage gestellt, wann die polnische Partei- und Staatsführung endlich geordnete Verhältnisse herbeiführen würde. So kam der 13. Dezember 1981, ein Tag, der zunächst ein ruhiger zu werden versprach, als ich am Morgen meinen planmäßigen 24-Stunden-Dienst angetreten hatte. Gegen 22.00 Uhr aber war es mit der Ruhe vorbei, als unerwartet der Fernschreiber losrasselte. Das ausgedruckte Blatt enthielt nur wenige Worte, die Uneingeweihten nichts sagten - „Fieber“, Kennwort „Blutdruck“. Für den Diensthabenden jedoch war das die Anweisung, sofort den zugehörigen Umschlag zu öffnen und nach dem vorgegebenen Plan Alarm auszulösen. Es musste etwas sehr Schwerwiegendes im Gange sein, denn ich hatte das Fernschreiben noch nicht zu Ende gelesen, als auch schon das Telefon klingelte und der Diensthabende der Bezirksleitung in barschem Tone fragte, wann ich dessen Eingang zu bestätigen gedächte. Er beruhigte sich erst, als ich ihm versicherte, bereits dabei gewesen zu sein, als er mir um wenige Sekunden zuvorgekommen war. Sodann holte ich den Ersten Sekretär der Kreisleitung aus dem Bett, der ebenfalls völlig ahnungslos war und sich zunächst mit seinem Persönlichen Mitarbeiter für Sicherheitsfragen verbinden ließ, ehe er schließlich die Weisung gab, gemäß Alarmplan vorerst die telefonisch erreichbaren Mitarbeiter zu verständigen. Das war in einigen Fällen gar nicht so einfach, denn mancher befand sich bereits im Weihnachtsurlaub oder war über das Wochenende verreist. Während die Alarmierung lief, schaltete ich das Radio ein, um festzustellen, ob den Nachrichten etwas zu entnehmen wäre. Und siehe da, gegen Mitternacht meldete Radio DDR die Verhängung des in der dortigen Verfassung als Kriegsrecht bezeichneten Ausnahmezustands in der Volksrepublik Polen. Nach dem Bekanntwerden von Umsturzplänen der „Solidarność“ hatte ein Militärrat zur nationalen Rettung unter Leitung des Ersten Sekretärs des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und Ministerpräsidenten, Armeegeneral Wojciech Jaruzelski, die Regierungsgewalt übernommen. Die Tätigkeit dieser angeblichen Gewerkschaft wurde offiziell ausgesetzt, ihre Führer interniert. Damit lagen die Gründe für die plötzliche Alarmierung auf der Hand. Nachdem von der Bezirksleitung nähere Informationen eingegangen waren, beorderte das Sekretariat der Kreisleitung die verfügbaren Sekretäre, Abteilungsleiter und Mitarbeiter in die Betriebe, in denen in rollender Schicht gearbeitet wurde, um die Arbeitskollektive von der Entwicklung in Kenntnis zu setzen. Das Ergebnis der Gespräche war ein großes Aufatmen – „Endlich tut sich etwas!“ war die nahezu einhellige Meinung. Die kapitalistische Welt freilich erlitt einen Schock, denn damit war nicht gerechnet worden. Dementsprechend fielen die Reaktionen aus: Als sie sich vom ersten Schrecken etwas erholt hatten, ließen führende Politiker der „freien“ westlichen Welt ihrer maßlosen Wut ungehemmten Lauf und ergingen sich in Tobsuchtsanfällen. Es hagelte Protestnoten, Botschafter wurden abbe- und Boykotte ausgerufen, schließlich gar die Verurteilung der Volksrepublik durch die UNO und die Verhängung von Sanktionen verlangt. Alles wegen einer Gewerkschaft? Da musste auch dem Letzten und Unbedarftesten klar sein, welche Rolle „Solidarność“ im Kampf um das „roll back“ dessen, was in den USA unter Kommunismus verstanden wurde, zu spielen gehabt hatte.

In Polen ebbte die bisherige Streikwelle ab, das Land begann sich langsam zu stabilisieren, die Versorgungslage allmählich zu verbessern. Ich konnte mich davon 1983 und 1987 auf „Jugendtourist“-Reisen selbst überzeugen. Dennoch blieb die allgemeine Lage angespannt, zumal „Solidarność“ mit tatkräftiger Unterstützung der „freien“ westlichen Welt und der polnischen katholischen Kirche im Untergrund wühlte. In Brüssel wurde gar ein Exil-Vorstand unterhalten, finanziert unter anderem aus dem Lech Walęsa zugeschanzten Geld für den Friedensnobelpreis. Mit dem Ausnahmezustand war dem Land eine Atempause verschafft worden, mehr nicht. Der Druck auf Partei- und Staatsführung wurde immer stärker, weshalb schließlich Gespräche am sogenannten Runden Tisch vereinbart wurden. Damit besserte sich freilich die Lage im Lande um keinen Deut, denn „Solidarność“ hatte daran nach wie vor keinerlei Interesse. Gnadenlos wurde die Tatsache ausgenutzt, dass die Volksrepublik Polen wie auch die Ungarische Volksrepublik, die Volksrepublik Bulgarien und die Sozialistische Republik Rumänien bei kapitalistischen Großbanken hochverschuldet und damit erpressbar waren. In dem Irrglauben, mit westlicher Technik und Technologie die eigene Wirtschaft in kürzester Zeit modernisieren und so den Kapitalismus überflügeln, ihn gewissermaßen überlisten zu können, hatten sie sich in die Schuldenfalle begeben, aus der kein Entrinnen mehr möglich war. Immer noch auf einen Ausweg hoffend wurden alle verfügbaren Waren zu Billigpreisen in die Gläubigerländer exportiert – ein wesentlicher Grund für die zahlreichen Versorgungsprobleme. Dafür wurde auch die Nichteinhaltung von Verträgen mit Partnerländern in Kauf genommen, wodurch beispielsweise in der DDR das Angebot an Obst und Gemüse, so Weintrauben und Paprika, zusehends geringer wurde. In Rumänien, wo mehr aus Größenwahn denn aus wirklicher Notwendigkeit Betriebe errichtet worden waren, deren Kapazitäten überhaupt nicht ausgelastet werden konnten, wurde ein rigoroser Sparkurs durchgesetzt, der auf Kosten weiter Teile der Bevölkerung ging. Über Jahre gab es selbst in kältesten Wintern zu wenig Brennstoffe, dafür um so häufiger Stromabschaltungen. Um davon abzulenken, wurde auf die nationalistische Karte gesetzt, was zu Lasten der nationalen Minderheiten ging und zu erheblichen Spannungen mit Ungarn führte. In Bulgarien wurde ein ähnlicher Kurs gefahren, durch den vor allem die Rechte der türkischen Minderheit eingeschränkt wurden. Ungarn näherte sich politisch und ideologisch zusehends dem Kapitalismus, weshalb gerade dieses Land 1989 nach bei Geheimgesprächen auf Schloss Gymnich bei Bonn ausgehandelten Zahlungen in Höhe von 500 Millionen D-Mark eine unheilvolle Rolle spielte, um die DDR „sturmreif“ zu schießen. Der wichtigste Schlüssel aber lag in Moskau, wo nach dem raschen Dahinscheiden von nacheinander drei Generalsekretären des ZK der KPdSU (Breshnew, Andropow, Tschernenko) 1985 mit Michail Gorbatschow ein Mann in diese Spitzenfunktion gebracht wurde, der für sowjetische Verhältnisse als außerordentlich jung galt und der einen neuen Kurs versprach, mit dem verkrustete Strukturen überwunden werden sollten. Doch er praktizierte nur ein anderes Extrem – von der bürokratischen Kommandowirtschaft wurde das führende sozialistische Land in Anarchie und totales Chaos gebracht. Und wieder waren es Politik und Medien vor allem der Länder, die seit Ronald Reagan angetreten waren, das „Reich des Bösen“ auf den „Müllhaufen der Geschichte zu kehren“, die Gorbatschow als „Reformer“ bejubelten und „Glasnost“ und „Perestrojka“ in den höchsten Tönen priesen. In Erinnerung an den Ausspruch August Bebels „Wenn Dich Deine Feinde loben, dann hast Du etwas falsch gemacht.“ konnte man nach reiflicher Überlegung nur zu dem Schluss kommen, dass hier mindestens etwas nicht stimmte. Auch wenn es selbst in der Partei DIE LINKE heute noch einzelne Politiker gibt, die Gorbatschow die Stange halten und lauthals beklagen, dass sich die DDR damals „Glasnost“ und „Perestrojka“ verweigert hatte, kommt niemand an der Tatsache vorbei, dass Gorbatschow keineswegs das Gute gewollt und lediglich falsche Mittel eingesetzt hat. Dagegen sprechen seine Selbstzeugnisse, unter anderem ein Vortrag in der Amerikanischen Universität in der türkischen Hauptstadt Ankara, wo er öffentlich bekannte, sein Lebensziel sei die Vernichtung des „Kommunismus“ gewesen. Dagegen spricht, dass er noch heute in der kapitalistischen Welt hofiert, mit Ehrungen überhäuft und hohen Vortragshonoraren bedacht wird. Die Ablehnung von „Glasnost“ und „Perestrojka“ durch die Partei- und Staatsführung der DDR beruhte zudem ganz wesentlich darauf, dass ab 1986 nicht mehr zu verbergen war, welch trügerischen Hoffnungen sich Gorbatschow und seine Berater hingaben: Durch die Preisgabe ihres treuesten, zuverlässigsten und trotz aller Probleme wirtschaftlich immer noch am besten dastehenden Verbündeten glaubten sie Zeit gewinnen zu können, um den eigenen Absturz wenigstens zu verzögern. Was im Sommer 1989 in Ungarn geschah, war genauso in aller Heimlichkeit mit ihm abgesprochen worden wie das, was sich in der Volksrepublik Polen ereignen sollte: „Solidarność“ konnte nicht nur die Wiederzulassung, sondern, zwar noch mit Einschränkungen und Kompromissen, auch Wahlen nach kapitalistischem Muster erzwingen. Dass ihr „Wahlkampf“ mit Geldern aus dem kapitalistischen Ausland bezahlt, mit falschen und verlogenen Versprechungen sowie vereinbarungswidrigen Methoden geführt wurde, konnte ich im Juni 1989 bei einem Besuch meiner Bekannten selbst erleben: Überall auf den Dörfern klebten ihre Wahlplakate, an Hauswänden, Friedhofsmauern, in Bahnhofsgebäuden und in Buswartehäuschen. Sie enthielten außer großen Versprechungen auf ein besseres Leben jede Menge nationalistische und antikommunistische Parolen sowie Werbung für die katholische Kirche. Dass diese Plakate ganz frech und offen den am Runden Tisch getroffenen Vereinbarungen zuwiderliefen, konnte man kleingedruckt unten rechts lesen: „Nur zur Verwendung im innerkirchlichen Bereich zugelassen“. Sie klebten jedoch, als sei das nichtig, überall im öffentlichen Raum! Was die Versprechungen von „Solidarność“ wert gewesen waren, offenbarte sich mir bei meinem letzten Besuch im Sommer 1991, als zwar keine Reisegenehmigung mehr erforderlich war, aber ein mannshoher Gitterzaun auf dem Bahnsteig des Grenzbahnhofes Görlitz nunmehr den zuvor ungehinderten Zustieg in den Schnellzug nach Kraków so lange verhinderte, bis sich ein Angehöriger des polnischen Grenzschutzes meiner erbarmte und fünf Minuten vor der Abfahrt endlich das Tor öffnete.

„Einhaltung des Arbeitsrechts“, „Sichere Rente“, „Gute medizinische Versorgung“, „Friedliche Arbeit“, „Sicherer Lohn“, „Sichere Arbeitsplätze“, „Sicherheit für Sie und Ihren Betrieb“ - so großartig hatten die Versprechungen von „Solidarność“ ausgesehen, mit denen 1989 eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler geködert worden war. Und so sieht die bittere Wirklichkeit heute aus: Niedrigstrente von 164 Euro (732 Złoty, ein Viertel des niedrigsten Satzes in Italien), höchster Monatsbruttolohn für 10 % der Beschäftigten 1.300 Euro (5.800 Złoty), niedrigster für weitere 10 % 333 Euro (1.480 Złoty), offizieller Durchschnitts-Bruttolohn 800 Euro (3.540 Złoty), offizielle Arbeitslosenrate 12,3 %, Arbeitslosengeld für die ersten drei Monate 170 Euro (760 Złoty), danach 133 Euro (590 Złoty), Haushaltsdefizit von 8 Milliarden Euro (35 Milliarden Złoty), für 2012 wurden bereits weitere Erhöhungen der Zuzahlungen für Medikamente, der Gebühren für Kindergärten, der Verbrauchssteuer sowie der Preise für Benzin, Tabakwaren und alkoholische Getränke angekündigt. „Solidarność“ schrumpfte von 10 Millionen Mitgliedern auf 400.000, nur noch 25 % der Beschäftigten sind in Gewerkschaften organisiert, die überdies in 6.300 unterschiedliche Verbände zersplittert sind. Das heutige Polen wird von aus „Solidarność“ hervorgegangenen konservativen, stramm antikommunistischen und russlandfeindlichen klerikal-nationalistischen Politikern regiert, die dem Land mit dem NATO-Beitritt nicht nur hohe Rüstungsausgaben aufgezwungen, sondern es auch in die Kriegsabenteuer des Militärpaktes hineingezogen haben. Trotz offizieller Trennung vom Staat genießt die katholische Kirche nicht nur jede Menge Vorrechte, sondern bestimmt praktisch das gesamte gesellschaftliche Leben. So wurde das in der Volksrepublik eingeführte Recht der Frau auf selbstbestimmte Schwangerschaft nicht nur schlechthin abgeschafft, sondern im Gegenzug eines der rigidesten Abtreibungsgesetze in Europa durchgepeitscht. Die millionenfache Vernichtung von Arbeitsplätzen zwang in den schlesischen Bergbaugebieten entlassene Kohlekumpel, illegal und ohne jede Sicherheitsvorkehrung, unter höchster Lebensgefahr also, Gruben zu betreiben, um ihren Lebensunterhalt wenigstens einigermaßen fristen zu können. Dessen ungeachtet hatte die damals amtierende Regierung unter Ministerpräsident Donald Tusk gegen alle Proteste die 2013 beginnen sollende schrittweise Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre durchgepeitscht. Eine dazu geforderte Volksabstimmung wurde im Parlament mit den Stimmen der Regierungsparteien abgelehnt. Da konnte die Rest-„Solidarność“ noch so laut aufschreien, wäre sie ehrlich, dann würde sie zugeben, dass all das nur die Ernte dessen ist, was sie ab 1980 mit wohlwollender Unterstützung von NATO und Vatikan gesät hat. Selbstverständlich wird auch die Geschichte passend zurechtgebogen: Die durch nichts zu rechtfertigende Ermordung polnischer Militärangehöriger durch Einheiten des sowjetischen Geheimdienstes NKWD wird als schlimmere nationale Tragödie hingestellt als der heimtückische Überfall des „Dritten Reiches“ am 1. September 1939 und die nachfolgende so grausame wie brutale Besatzungs-, Ausplünderungs- und Vernichtungspolitik. Wer auch nur vorsichtig zu bedenken gibt, dass der Einmarsch der Roten Armee vom 17. September 1939 erst dann erfolgte, als der polnische Staat bereits zusammengebrochen war, und das gerade wiedererstandene Polen die Gebiete östlich des Bug entgegen den Festlegungen seiner „Geburtshelfer“, der mit ihm verbündeten „Alliierten und assoziierten Mächte“, durch die Beteiligung an den antisowjetischen Interventionskriegen im Frieden von Riga vom 18. März 1921 an sich gerissen hatte, gilt als „Verräter an der nationalen Sache“. Die in den ersten Nachkriegsjahren in einigen Gebieten des Landes die Bevölkerung terrorisiert und vor Morden an Partei- und Staatsfunktionären nicht zurückgeschreckt habenden antikommunistischen Banden werden in den Rang von „Widerstandskämpfern“ und „Nationalhelden“ erhoben. Bei soviel rigorosem Antikommunismus wäre es wohl auch kein Wunder, würde eines Tages dem ehemaligen HJ-Führer Joachim Schaak, der mit seiner „Werwolf“-Bande im südlichen Teil des vormaligen Ostpreußen die Dörfer polnischer Neusiedler terrorisierte und erst nach siebenjährigem Kampf gefasst, verurteilt und hingerichtet wurde, eine ähnliche Ehrung widerfahren. Mit der BRD jedenfalls wird aller bestenfalls oberflächlich und mit Samthandschuhen erfolgter Aufarbeitung des deutschen Faschismus und seiner Verbrechen zum Trotz fleißig Freundschaft gepflegt, bei der Russischen Föderation sind die Klerikal-Konservativen nicht so pingelig, sondern setzen auf Hass und Feindschaft. Nach dem Vorbild der Gauck-Birthler-Jahn-Behörde wird Jagd auf einstige Mitarbeiter der Sicherheitsorgane der Volksrepublik gemacht und im Rahmen der „Dekommunisierungspolitik“, was so schön zu Herrn Kinkels „Delegitimierung“ passt, mittels „Lustration“ („Durchleuchtung“) maßlose Gesinnungsschnüffelei betrieben. „Unter den Kommunisten ging es uns besser!“ waren die bitteren Worte meines inzwischen verstorbenen Freundes Michał Tarnowski.