Moderner Menschenhandel

Politik im Land

Ohne ausländische Beschäftigte würde in Thüringen kaum ein Paket ausgeliefert, der Spargel auf den Felder verrotten und das Gesundheitssystem kollabieren. Trotzdem schuften sie unter oft unwürdigen Bedingungen. UNZ sprach mit der Gewerkschafterin Tina Morgenroth über den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen.

Weiße, meist klapprige Lieferwagen mit polnischen Kennzeichen gehören auch in Thüringen seit zwei Jahren zum Straßenbild. Wenn andere längst ihren Feierabend genießen, schuften die Zusteller*innen vom Online-Giganten Amazon noch immer, um im Schneesturm Bikinis zu liefern. Gefühlt scheinen fast alle dort Beschäftigten aus dem Ausland zu kommen. Ein Phänomen, das sich auch in anderen Branchen beobachten lässt: Sei es beim von vielen heiß geliebten Spargel, in der Pflege, dem Gesundheitswesen oder auf dem Bau. Ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland würde Thüringen zusammenbrechen. Aber wie geht es den Beschäftigten, die für uns die „Drecksarbeit“ machen? 

 

Mit den Betroffenen direkt ins Gespräch zu kommen, ist extrem schwer. Nicht nur wegen der coronoa-bedingten Kontaktbeschränkungen. Die meisten haben schlichtweg Angst. Denn, wer als Nicht-EU-Ausländer seinen Job verliert, fürchtet nicht selten aus dem Land zu fliegen. Und wer kündigt schon einen beschissenen Job, wenn sie oder er fürchten muss, in ein Land abgeschoben zu werden, wo Gefängnis oder sogar Tod drohen? 

 

UNZ sprach deshalb mit der Sozialarbeiterin Tina Morgenroth, Koordinatorin der Anlauf- und Beratungsstelle „Faire Mobilität in Thüringen“ beim DGB-Bildungswerk. Ihre Hauptaufgabe: Politische Lobbyarbeit für Arbeitnehmer*- innen aus der EU, aber auch für andere Gruppen, die marginalisiert werden. 

 

„Das sind keine bedauerlichen Einzelfälle, sondern strukturelle Probleme“, sagt Morgenroth. Deswegen ist Netzwerkarbeit und der Austausch mit den Gewerkschaften Kern der täglichen Arbeit, wie auch Aufklärungsaktionen vor den Betrieben oder auf Feldern. Nur so können ausländische Beschäftigte über ihre Rechte aufgeklärt werden. Neben diesem Bildungsauftrag ist für die Frau, die auch für die progressive Fraktion Mehrwertstadt im Erfurter Stadtrat sitzt, der Kampf gegen die zahlreichen Diskriminierungen Motivation für ihre Arbeit. 

 

Über 600 Kurierfahrer*innen arbeiteten für Amazon allein in Erfurt im letzten Herbst, weiß Morgenroth und schätzt, dass es aktuell sogar noch deutlich mehr sind. Dazu kommen hunderte Beschäftigte im Lagerbereich. In Gera wird seit letztem August schon der nächste Logistikklotz für 1.000 Beschäftigte in die Landschaft gesetzt. Das Ausbeutungssystem läuft dabei auch in Thüringen wie geschmiert: „In Erfurt werden die Arbeitsgesetze häufig nicht eingehalten und alle Graubereiche ausgenutzt“, so Morgenroths Erfahrungen. Und es wird immer schlimmer. Noch vor wenigen Jahren hat DHL den Löwenanteil der Amazon-Pakte zugestellt. „Mittlerweile will Amazon sehr stark in den deutschen Versandmarkt vordringen. Der Rückgang bei DHL, einem Betrieb, der gewerkschaftlich ganz gut organisiert ist, ist deutlich spürbar. Die Zusteller*innen sind auch nicht bei Amazon, sondern bei Sub- und Sub-Sub-Unternehmen beschäftigt. Dazu kommt das Amazon-Flex-Modell, bei dem nicht nur die Gewerkschaften vermuten, dass es sich hierbei um ein typisches Beispiel für Scheinselbstständigkeit handelt“, fasst Tina Morgenroth zusammen.

 

Solche Geschäftsgebaren gibt es nicht nur bei Amazon, und sie haben in Thüringen auch noch ganz speziell etwas mit dem Image als Billiglohnland zu tun: „Der Niedriglohnsektor ist in Thüringen enorm groß. Es gab Zeiten, da hat Thüringen sogar damit geworben, den besten Niedriglohnsektor überhaupt zu haben“, erinnert Tina Morgenroth an die Ära schwarzer Traurigkeit vor Rot-Rot-Grün. 

Die Folgen dieser Armutspolitik treffen vor allem, aber keineswegs allein nur ausländische Beschäftigte. „Gerade im Kurier- und Expressbereich haben mir auch viele deutsche Beschäftige von ganz unterirdischen Arbeitsbedingungen berichtet: 11-Stunden-Schichten ohne Pause, sechs Tage die Woche. Das ist mit keinen Gesetz vereinbar“, kritisiert die Gewerkschafterin. 

Neben den Arbeitskräften im Niedriglohnsektor werden in Thüringen aber auch Fachkräfte aus dem Ausland dringend benötigt. Was in der Pflege- und Gesundheitsbranche noch halbwegs funktioniert, endet in anderen Branchen für viele in einer Sackgasse. Problem: „Die Qualifizierungsanerkennung funktioniert in Thüringen unfassbar schlecht, auch im Vergleich zu anderen Bundesländern. Deshalb arbeiten viele unter ihrem eigentlichen Qualifikationsniveau. Auch in der Pflege arbeiten Fachkräfte oft nur als Hilfskräfte. Da wird aus unserer Erfahrung gerne getrickst, um die Menschen besonders billig zu beschäftigten.“

Geworben werden die Arbeitskräfte mit so genannten Headhuntern vor Ort, aber vor allem im Internet. „Online wird in den jeweiligen Sprache intensiv mit den tollsten Versprechungen gelockt: Stundensatz deutlich über dem Mindestlohn, Perspektiven und ein leichter Einstieg. Das ist moderner Menschenhandel zum Zwecke der Arbeits-ausbeutung.“ 

 

Morgenroths Kollegen*innen von der Fairen Integration, die sich intensiv mit Geflüchteten beschäftigen, berichten, dass die „Droh- kulisse Abschiebung“ oft genutzt wird, um die Leute in miesen Jobs zu halten. Solche Strukturen gibt es nicht nur bei Amazon, sondern auch in der Fleischindustrie oder der Landwirtschaft: die Situation der Menschen wird gnadenlos ausgenutzt. Und: „Für viele Betriebe gibt es kaum Alternativen, weil die Abwanderung in Thüringen nach wie vor besonders groß ist“, fügt Morgenroth hinzu. 

 

Wie kann angesichts der scheinbar unüberwindbaren Ausbeutungsstrukturen etwas besser werden? Können deutsche Gewerkschaften überhaupt effektiv Amazon, Zalando oder die Spargelernte bestreiken? 

 

„Die meisten wissen gar nicht, welche Rechte und Möglichkeiten sie haben. Bei Saisonbeschäftigten, wie in der Spargelernte, ist es ganz besonders schwierig, sie aufzuklären. Die Gewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt hat für diese sehr mobile Zielgruppe extra ein eigenes Mitgliedschaftsmodell nur für Saisonbeschäftigte entwickelt. Da greift sofort der Rechtsschutz und die Leute sind für ein Jahr Mitglied. Trotzdem bleibt es schwierig, weil es kaum möglich ist, an die Saison-Beschäftigten aus Osteuropa überhaupt ranzukommen. Gerade in Thüringen gibt es ganz vehemente Abwehrmechanismen der Arbeitgeber. Und Amazon rühmt sich sowieso gerne als gewerkschaftsfreie Zone“, so Morgenroths bittere Analyse. 

Da bleibt der große Amazon- und Spargelstreik vorerst nur ein „interessantes Gedankenspiel“. 

 

Zumal das für die Streikenden bedeuten könnte, dass sie nicht nur für einen Monat, sondern für ein ganzes Jahr kein Geld bekommen. Dazu kommt: „Die migrantische Reservearmee ist riesengroß“, seufzt Morgenroth. Auch das ist kein gänzlich neues Phänomen, sondern die globalisierte Form des klassischen Streikbrechers. 

Da hilft nur mehr zivilgesellschaftlicher Druck von den Gewerkschaften bis hin zu neuen Bündnissen wie Fridays for Future. Und natürlich lokale Netzwerke aufbauen. Ein Buch kann mensch sich in Erfurt auch in der Contineo-Buchhandlung bestellen und mit dem Lastenrad liefern lassen. Und wer auf dem Dorf wohnt, kann viele Produkte direkt bei Onlineshops, weniger ausbeuterischer Firmen, ordern. Und wer für Döner oder Pizza auf die Abzocker und Ausbeuter von Lieferando setzt, statt einfach direkt anzurufen, glaubt auch an Echsenmenschen und tödliche Masken.

 

Thomas Holzmann