Grüße aus der Blumenstadt

Ein Jahr Tabubruch ist auch ein Jahr Flower Power: Nach dem Blumenwurf folgte der große Protest auf der Straße. UNZ sprach mit ganz unterschiedlichen Menschen über den gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus und welche neuen Bündnisse aus ihm entstanden sind.

„Wusste, dass ich ihm nicht die Hand geben kann“ 

 

Der Tabubruch von Erfurt war noch keine zwei Stunden alt, da endete die kurze Schockstarre mit der ersten Demo vor dem Erfurter Landtag. Die Zivilgesellschaft machte mobil, thüringen- und deutschlandweit. Bis Kemmerich  seinen Rückzug bekannt gab und das große Bündnis von Gewerkschaften über Omas gegen Rechts bis zu Fridays for Future jubeln konnte. UNZ sprach ein Jahr danach mit Akteuren aus der Zivilgesellschaft und mit der Fachfrau für Haltung: Susanne Hennig-Wellsow. 

Im Vorfeld gab es nur wenige, die mutmaßten, CDU und FDP würden die Chance, Bodo Ramelow und Rot-Rot-Grün eins reinzuwürgen, nicht ungenutzt lassen. „Vorher sind wir immer wieder auf CDU und FDP zugegangen. Dass die das so durchziehen, haben wir für möglich aber unrealistisch gehalten“, erinnert sich Susanne Hennig-Wellsow.  Als das Ergebnis verkündet wurde, schoss der LINKEN-Fraktionsvorsitzenden durch den Kopf: „Was passiert nur mit diesem Land?“ Wenige Minuten später entstand das Foto des Jahres: Der Blumenwurf von Erfurt. „Als ich auf Kemmerich zugegangen bin, wusste ich nur, dass ich ihm nicht die Hand geben kann“, sagt Susanne Hennig-Wellsow über die spontane Aktion. 

 

„Das lassen wir nicht einfach so stehen“ 

 

Auch der Gewerkschafter Michael Lemm hätte sich nicht vorstellen können, „dass die das ernsthaft durchziehen“. Der DGB-Kreisvorsitzende aus Eisenach war an jenem 5. Februar im Erfurter Gewerkschaftshaus und schaute mit Kolleg*innen den Live-Stream. „Wir haben uns erst mal irritiert angeguckt. Dann wurde schnell klar, dass wir das nicht einfach so stehen lassen können. Es ging wie ein Lauffeuer durch das ganze Haus: Wir machen sofort eine Demo am Landtag!“, so Lemms Erinnerung. Während im rot-rot-grünen Lager viele geschockt wirkten, ergriffen einige die Initiative. 

So füllte sich noch vor Sonnenuntergang der Platz vor dem Landtag: 50, 100, 200, am Ende  über 1000  Menschen machten lautstark ihrem Ärger Luft: „Alles zusammen gegen den Faschismus“, halte es aus ihren Kehlen. Es sollte das Motto der Flower-Power-Tage von Erfurt werden.

 

Die Mobilisierung war gigantisch

 

„E-Mail, SMS, Telefon, Whatsapp, jeder rief jeden an. Schon als wir am Gewerkschaftshaus los liefen, waren wir 50 Leute. Am Landtag warteten schon 200. Direkt danach ging es weiter  zur Staatskanzlei.  Die Mobilisierung war gigantisch. Da war Druck auf dem Kessel, die Leute wollten das so nicht hinnehmen“.  Ähnliche Bilder boten sich auch in anderen Thüringer Städten, ja ganz Deutschland. 

Allen voran: Fridays for Future und die Omas gegen Rechts“.  

Caro, Aktivistin von Fridays for Future Erfurt, war zunächst geschockt und stand völlig neben sich. Aber: „Wir haben uns dann sofort, entschlossen eine Anti-Kemmerich-Demo anzumelden und am Abend war die Staatskanzlei umzingelt. Alle riefen: Nicht mein Ministerpräsident“. 

 

Das waren nicht nur Linke

 

Das konnte niemand ignorieren. „Der Aufschrei der Zivilgesellschaft war mir ein deutliches Signal. Abends beim Bier im RedroXX war mir klar, die werden es sehr schwer haben, durchzuhalten. Sie haben es gewollt, aber nicht gekonnt“, lautete das kämpferische Fazit von Susanne Hennig-Wellsow am Ende des Tages. 

Am nächsten Tag: wieder über 1.000 Leute, Zelte, Decken, Heißgetränke. „Das waren nicht nur Linke, das war die ganze Bandbreite der Zivilgesellschaft“, ist sich Michael Lemm sicher. 

 

„Da wurde mir klar: Wir sind nicht alleine“

 

Stets ganz vorn dabei: die jungen Klimaschützer*innen und die Omas gegen Rechts. Eine von ihnen ist Renate Wanner-Hopp. Sie war Mitglied der ersten Stunde, der noch während der großen Mai-Demo 2019 gegründeten Erfurter Omas-gegen-Rechts-Gruppe. Den Tabubruch hätte sie sich aber „nicht im Traum vorstellen können, vor allem nicht durch so eine Trickserei.“ Was folgte war auch hier zunächst „ohnmächtiges Entsetzen“. Aber dann: „Ich musste einfach zu der Demo, um ein Ventil zu haben und andere Leute zu treffen, die genauso empfinden. Da habe ich Leute aus meinem Quartier getroffen, Mitarbeiterinnen vom Amtsgericht, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie mitlaufen. Da wurde mir klar: Wir sind nicht alleine“, erinnert sich Wanner-Hopp an den Abend des 5. Februars. Neben den täglichen Demos standen die Omas jeden Tag mit einer Mahnwache vor der Staatskanzlei, sogar das belgische Fernsehen berichtete. 

Wanner-Hopp, die im Westen aufgewachsen ist und auch in der Anti-Atomkraft-Bewegung und im Kampf gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen aktiv war, hat auf Demos „übelste Dinge“ erlebt. Aber nie so eine „Selbstwirksamkeit, mit Demonstrationen etwas zu erreichen. Ihre Motivation: „Wenn mich meine Enkel fragen, will ich sagen können: Ich habe etwas getan“. 

 

„Wenn die Omas kommen, sind wir auch dabei“

 

Also Bahn frei für ganz neue Bündnisse?  „Das leben wir schon. Zum Jahrestag des Anschlags von Halle haben wir eine generationsübergreifende Kundgebung vor der Erfurter Synagoge organisiert. Die jungen Leute sagen immer: Wenn die Omas kommen, sind wir auch dabei. Die bringen auch die Technik mit.“ 

 

Eine intensive und aufregende Zeit 

 

Nächste geplante Aktion: „Flammenzeichen“:  Eine Veranstaltungsreihe zur Bücherverbrennung durch die Nazis. Zukünftig soll es aber auch noch mehr um das Für gehen: Für Demokratie, für Erinnerungskultur. „Die Demos waren für mich eine sehr intensive und aufregende Zeit. so Caros Rückblich auf die Flower-Power-Tage. „Die vielen Proteste und meine Freund*innen haben mir  sehr viel Kraft und Hoffnung gegeben. Denke ich an diese Zeit zurück, fühlt es sich an, als wäre es ein Film gewesen“. Entsprechend  vorsichtig optimistisch ist ihr Blick nach vorn:  „Ich glaube, ich habe zu keinem Zeitpunkt vorher so bewusst wahrgenommen, was so ein Protest von der Straße bewirken kann und wie wichtig es ist, gegen den Status quo und für Antifaschismus auf die Straße zu gehen“, so das Fazit der Studentin. 

 

Aufbruch zu neuen Bündnissen? 

 

Und wie sehen die Jungen die Chance für dauerhafte, neue Bündnisse? „Durch den Tabubruch entstand direkt eine Zusammenarbeit mit dem großen zivilgesellschaftlichen Bündnis ‘Unteilbar’. Mit dem fand am 15.2.20 die große ‘Nicht mit uns Demo’ in Erfurt statt. Da konnten wir mit 18.000 Teilnehmer- *innen ein ganz starkes Zeichen für eine offene, solidarische Gesellschaft und gegen jeglichen Pakt mit Faschist*innen setzen. Unsere Ortsgruppe hat sich maßgeblich an der Organisation und Durchführung dieser Demo beteiligt“, fasst Caro zusammen.   Außerdem entstand der Ratschlag „Solidarischer Osten“, aus dem das Bündnis „Solidarisches Thüringen“ hervor ging, welches weiter für eine bessere, progressive Welt kämpft. Gemeinsames Ziel: „Für Antifaschismus, Antirassismus, für die Menschenrechte von Schutzsuchenden, Klimagerechtigkeit, Queerfeminismus, soziale Gerechtigkeit und viel mehr“, erklärt Caro.  

 

„Es gilt jetzt umso mehr, Demokratie zu leben“

 

Bei soviel Kampf an allen Fronten, vergessen die Klimaschützer*innen auch nicht ihr ursprüngliches Hauptanliegen.  „Am 19.03. steht ein globaler Streik an. Aufgrund der Pandemie wissen wir aber noch nicht, wie wir diesen umsetzen können. Eventuell werden wir da viele dezentrale Aktionen in der Stadt machen“,  kündigt Caro an. 

Bleibt zum Schluss noch die Frage an Susanne Hennig-Wellsow: Wie kann DIE LINKE nach dem Tabubruch noch mit der CDU zusammenarbeiten? „Natürlich ist das Vertrauen in die demokratische Entschiedenheit der CDU bei uns zerstört. Es gilt jetzt umso mehr, Demokratie zu leben und in diesem Rahmen das politisch Machbare zu leisten. Dabei vergessen wir nie die politische Zerrissenheit der CDU“, fasst Susanne Hennig zusammen. Wollen wir hoffen, dass es auch die Mehrheit der Wähler*innen nicht vergisst. Ansonsten müssen sie wohl wieder von der Zivilgesellschaft daran erinnert werden. 

 

Thomas Holzmann