Ein Häuschen im Grünen

Jahrzehntelang rauschten Autos quasi durch den Vorgarten. Seit 2015 erobert sich die Natur das Leutratal zurück. UNZ war zum 100. Geburtstag des Naturerlebnishauses zu Besuch und stellte fest, wie schön die Welt ohne Autos sein kann.

Der Radweg vom Bahnhof Jena-Göschwitz ins nur wenige Kilometer entfernte Leutratal ist erfreulich gut ausgebaut. Aber in der „Lichtstadt“ geht es sowieso allerorts ständig kräftig voran. Wo vor wenigen Jahren noch Industriebrachen aus Zeiten des Zeiss-Kombinates vor sich hin gammelten, sprießen überall Hightech-Unternehmen wie Pilze aus dem Boden. Das Einzige, was in Jena noch schneller wächst, sind leider die Mieten. 

Als vor ein paar Jahren durchsickerte, dass die A4 zwischen Schorba und Jena-Göschwitz durch einen neuen Tunnel, statt durchs Leutratal führen sollte, tauchten gleich die ersten SUV aus Jena auf, deren Fahrer sich für den Kauf des Naturerlebnishauses interessierten. Zum Glück war der NABU Thüringen schneller und kaufte das Haus im Grünen für seine Jugendorganisation NAJU, bevor es sich bourgoise Anwälte oder Immobilienhaie unter ihre gierigen Nägel reißen konnten. 

 

 

 

Zum 100. Geburtstag veranstaltete der NAJU ein großes Hüttenfest. Dabei traf UNZ nicht nur auf Naturschützer*innen, sondern auch wieder Michael Bicker (siehe UNZ 9/20) Chief Innovation Officer von der rooom AG, ein rasant wachsendes Startup, ohne das Google und Co. so manches mal aufgeschmissen wären. Mit seiner Drohne gelangen Bicker nicht nur spektakuläre Bilder und Videos: Als wäre es nur Pillepalle wurde nebenbei gleich noch ein 3D-Modell der ganzen Umgebung erstellt. 

 

 

 

Doch zurück zur Natur – buchstäblich, denn die Trasse der Autobahn wurde  komplett zurückgebaut. Weil plötzlich totale Stille herrscht, konnten einige der Bewohner*innen im Dörfchen Leutra nicht einschlafen, weil sie zu sehr an das monotone Rauschen von der A4 gewohnt waren. Die alte Trasse will natürlich trotzdem niemand zurück. Im Gegenteil: Viele Ältere erinnern sich gerne an die Zeit, als der Verkehr weit weniger dicht war und das Haus noch genutzt werden konnte. Als der Autoverkehr auch in der DDR immer stärker zunahm war es damit vorbei.

Erbaut wurde das Haus 1921 als Wanderheim Leutratal in drei Jahren durch den Jenaer Touristen- und Wintersportverein als Steinhütte mit Fachwerkaufbau. Das Baumaterial stammte aus einem vor Ort angelegten Steinbruch. Schon bald wurde die Hütte um ein Stockwerk ergänz, 1928 sogar ein mit Leutra-Wasser gespeistes Freibad angelegt. 1933 wurde der Wanderverein von Nazis verboten und durfte auch nach der Befreiung nicht wieder gegründet werden. So kam die Hütte zu Schott Jena, die es anfangs als Kinderferienlager nutzte. 1990 wurde sie an die Jenaer Ortsgruppe der Naturfreunde vermietet, denen 2010 die NAJU folgte, ehe der NABU 2017 das Haus erwarb.

Eine der vielen Besonderheiten ist das Fledermausquartier im Dachboden: Seit 2011 nutzt die Kleine Hufeisennase, eine gefährdete Art, das Quartier im Sommer. Im Naturschutzgebiet Leutratal und Cospoth sind verschiedene Wald- und Wiesenbiotope zu bestaunen. Da tummeln sich selten gewordene Waldschmetterlinge wie Kleiner Eisvogel, Ulmen-Zipfelfalter oder Großer Fuchs. Unglaubliche 27 verschiedene Orchideenarten sind ebenso zu finden wie Ringelnattern auf der Suche nach Beute und sogar der Schwarzstorch ist als seltener Gast auf Nahrungssuche.

 

 

 

Die herrliche Artenvielfalt beruht vor allem auf dem Engagement der NAJU Thüringen. Sie sind schon seit 2010 auf der Fläche aktiv und helfen nicht nur der Hufeisennase. Mit dem Anbringen von Nistkästen wurden Brutplätze für Wasseramseln, Grauschnäpper und Gebirgsstelzen geschaffen. Auch für Insekten wurde neuer Wohnraum eingerichtet. Auf einer Schmetterlingswiese finden Großes Ochsenauge, Schachbrettfalter und Spanische Flagge Nektar. Eine Nisthilfe am Wiesenrand bietet Brutröhren für Wildbienen. In Anlehnung an den Hollywood-Blockbuster Ghostbusters werden regelmäßig Müllsammelaktionen unter der Losung „Trashbusters“ organisiert.

So ist das Haus auch eine gute Gelegenheit für gestresste Städter, nicht nur aus dem nahen Jena, für ein paar Tagr eine intakte Natur ganz neu zu entdecken. Dafür ganz das Haus auch gemietet werden . 

 

Im Vordergrund stehen aber die Kinder. Da geht es auch mal magisch zu, wenn die NAJU-Aktiven ein Harry-Potter-Style Waldzaubercamp anbieten. Nur auf das alte Schwimmbad muss verzichtet werden. Aber wenn es einer Abkühlung bedarf, wird einfach wie früher kurzerhand die Leutra angestaut. Morgens Vögel beobachten, mittags Staudamm bauen, nachmittags die Natur mit einer Drohne von oben bestaunen und abends die Bundesregierung kritisieren. Da hätten wohl auch Karl Marx und Rosa Luxemburg ihre helle Freude. 

 

Und dass Naturschutz und Hightech kein Widerspruch sein müssen, lässt sich Kindern nebenbei auch noch spielerich vermitteln. Schließlich lässt sich mit einem Smartphone die herrliche Natur gut festhalten. Ein Tiktok-Video von einem Schmetterling dürfte doch wohl auch die 10-Jährigen mehr beeindrucken, als so mancher Quatsch, der sonst über die asozialen Medien geteilt wird.  

 

Die meisten Besucher*innen werden auf das Handy  bestens verzichten können. Schließlich gibt es mehr als genug zu entdecken. Und die NAJU wird, wenn die Pandemie  endlich vorbei ist, ihre kreativen Köpfe von der Leine lassen. Dann wird vielleicht auch wieder gezaubert.                   

 

 

 

Thomas Holzmann