Nächstenliebe spielt in Politik und Wirtschaft keine große Rolle

Interview

Konstantin Pal, erster Rabbiner in der Thüringischen Landsgemeinde seit 72 Jahren, findet es problematisch, wenn von jüdisch-christlichen Wurzeln Europas gesprochen wird – Politiker erinnern sich an die Juden, wenn sie es für sinnvoll halten

Wie kommt man als in der Sowjetunion geborener und aufgewachsener Jude auf die Idee, Rabbiner zu werden und dann auch noch ausgerechnet nach Deutschland zu gehen? 

Bei der Frage merkt man, dass Sie von einer linken Zeitung kommen ... Es gab sicher viele Ereignisse im Laufe meines Lebens, die zu dieser Entscheidung geführt haben. Es war aber nicht das eine Ereignis, dass dazu geführt hat morgens aufzustehen und diesen Entschluss zu fassen. Ich wollte Religionslehrer werden und das hat in einem langen Prozess letztlich zu dieser Entscheidung geführt.


Sie haben 2004 ein Praktikum bei der Bundesmarine absolviert. Haben Sie – überspitzt formuliert – jemals gedacht, dass Sie damit Teil der Armee der Täter sind?


Es ging um die Frage der Militärseelsorge, die gibt es in jeder Armee. Eine militärische Ausbildung habe ich nicht absolviert. Die Alternative dazu wäre ein Praktikum in einem Krankenhaus gewesen, das ist nicht so mein Ding. So bin ich lieber zur Marine gegangen. 

Was denkt man, wenn man als Jude nach Deutschland kommt und von den Debatten mit rassistischem Unterton á la Sarrazin hört?



Das Berliner Stadtmagazin tip hat kürzlich eine Liste mit den 100 peinlichsten Berlinern aufgestellt. Sarrazin lag auf Platz drei. Er hat seine Meinung und in einer Demokratie darf die natürlich jeder sagen, aber er hat gewisse Grenzen definitiv überschritten. Bemerkenswert ist, dass er die Verhältnisse umkehrt und die Juden als die Guten und die Moslems als die Bösen hinstellen will. Sarrazin ist leider kein Einzelfall. Im Vergleich zu Holland, Belgien, Dänemark oder Österreich ist das sogar noch gemäßigt. Sarrazin ist auch nicht total verblödet und weiß sehr gut, wie man mit solchen Büchern viel Geld verdienen kann. 

Wenn es um grundsätzliche Fragen der Identität Deutschlands und Europa geht, betont man gerade in letzter Zeit wieder vermehrt von konservativer Seite die jüdisch-christlichen Wurzeln. Was soll das für den Alltag bedeuten?



Es ist schon interessant, wie sich manche Politiker, wenn sie es für sinnvoll halten, an die Juden erinnern. Vielleicht nennt sich die CDU bald in CJDU um (lacht) ... Ernsthaft gesagt habe ich schon ein gewisses Problem damit, wenn von jüdisch-christlichen Wurzeln gesprochen wird. Das Judentum war Jahrhunderte lang in Europa nicht gerade herzlich willkommen. Die Kirche war ebenso lange Zeit alles andere als judenfreundlich. Jetzt, da viele Angst vor Überfremdung durch den Islam haben, sagt man, die gemeinsamen Werte basieren auf dem Alten und dem Neuen Testament. Letztlich sind das polemische Debatten, die immer mal auftauchen und auch wieder verschwinden.


Sie würden folglich keine systematische Verbindung zwischen den angeblich jüdisch-christlichen Wurzeln und dem bestehenden System aus Kapitalismus und Nationalstaaten sehen? 



Die Werte Europas basieren nicht wirklich auf biblischen Werten. Die Nächstenliebe spielt in der Politik und Wirtschaft keine große Rolle, sehr wohl aber die Frage der Gewinnsteigerung.


Nächstenliebe findet man ebenso nicht in der Außenpolitik, wo auch Deutschland wieder Kriege führt. Wie ist ihre Meinung zu Afghanistan? 



Ich versuche immer, mich möglichst aus der Politik rauszuhalten, auch wenn ich dazu natürlich eine Meinung habe. Aber die muss ich nicht immer unbedingt kundtun. Kriege sind immer furchtbar, egal unter welcher Fahne sie geführt werden. Leider ist der Mensch nicht in der Lage, zu erkennen, dass er keine Kriege braucht. Fragen sie mal die Rüstungskonzerne wie viel Geld sie mit Waffenexporten verdienen. Natürlich sind Kriege manchmal unvermeidbar. Wenn man angegriffen wird, darf man sich auch verteidigen,  es gilt natürlich alles auf diplomatischen Wege zu tun, um Kriege zu verhindern. Nur mit den Taliban kann man aus meiner Sicht nicht verhandeln. Ob das den Krieg rechtfertigt, ist wieder eine ganz andere Frage. Auch wenn die Kriege der letzten Jahre nicht von großem Ausmaß waren, so zeigen sie letztlich doch die Beschränktheit der Menschen, die scheinbar nichts dazu gelernt haben.


Sie selbst gehören der Union progressiver Juden an. Was genau versteht man darunter?



Das bedeutet vor allem, mit der Zeit zu gehen und sich nicht hinter in einem geistigen und gesellschaftlichen Ghetto zu verschanzen. Aber wir werfen unsere Traditionen nicht einfach über Bord, sondern versuchen, an der Gesellschaft teilzuhaben und sie auch in gewisser Weise nach dem ethischen Bild des Judentums zu verändern. Natürlich darf man Integration nicht mit Assimilierung verwechseln, denn dann besteht die Gefahr, die religiöse Identität zu verlieren.


Obwohl es in Deutschland keine nennenswerten Integrationsprobleme von Juden gibt, hat man es doch immer wieder mit Alltags-Antisemitismus zu tun. So sind z. B. auch in Thüringer Fußballstadien antisemitische Gesänge zu hören, die den Gegner beleidigen sollen. Wie schätzen Sie die Gefahr ein? 



Antisemitismus beim Fußball ist leider ein Thema, dass schon lange bekannt ist. Diesen Alltags-Antisemitismus gibt es aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft. Die Ursachen dafür sind immer die gleichen: Unwissen und Dummheit. Viele Menschen wissen nicht, wie sie mit Juden umgehen sollen und sagen dann Dinge, die sehr bedenklich sind. Ich muss aber auch sagen, dass ich persönlich bis jetzt nur wenig von diesem Alltags-Antisemitismus gespürt habe, trotz Drohungen oder Schmierereien, die es gibt. Auch der Nahost-Konflikt spielt manchmal eine Rolle.


Haben sie es schon erlebt, dass Juden wegen der Außenpolitik Israels beschimpft wurden?



Man hört schon manchmal Sätze wie: Was macht ihr denn da unten? Klar sind alle jüdischen Gemeinden in der Welt irgendwie mit Israel, dem Ort wo man immer hin kann, wenn es brenzlig wird, verbunden. Aber die deutschen Juden leben hier, haben hier ihren Lebensmittelpunkt. Sie müssen sich nicht ständig dafür rechtfertigen, wenn in Israel etwas schief läuft. 


Wie ist es eigentlich, wenn ein Deutscher Kritik an der Außenpolitik Israels übt, darf man das vor dem Hintergrund der Geschichte überhaupt? 


Die schärfsten Kritiker der israelischen Politik leben in Israel. Schauen sie sich allein die NGOs an, die direkt vor Ort operieren. Kritik, die aus Deutschland kommt, ist da vergleichsweise mild. Was den meisten in Israel daran missfällt, ist mehr die unerlaubte Einmischung des Auslands in interne Angelegenheiten als Fragen der Geschichte. 


Am 27. Januar steht der Gedenktag für die Opfer des Faschismus an. Wie bewerten Sie die Erinnerungskultur an den Holocaust in Deutschland? 


Veranstaltungen wie diese müssen einfach statt finden, damit das Ganze nicht in Vergessenheit gerät. Gerade für die jüngere Generation ist es wichtig, damit sie die Demokratie und den Staat, der heute zumindest 99 Prozent der Menschenrechte wahrt, schätzen lernt. Jeder hat natürlich seine eigene Form des Gedenkens und Erinnerns. Die einen gedenken im Kopf, die anderen bauen lieber ein millionenteures Denkmal. Toll finde ich die Gedenk-nadeln in Erfurt, die wesentlich besser sichtbar sind als die Stolpersteine, die es mittlerweile in fast allen Städten gibt. Wichtig ist, dass das Gedenken erhalten bleibt und auch in den Schulen thematisiert wird. Dabei sollte das Thema auch nicht überstrapaziert werden. Aber es darf niemals einen Punkt geben, an dem man es einfach für erledigt erklärt. 


Thomas Holzmann