Menschenwürde? Ja, aber ...

Jens Petermann, Richter am Sozialgericht Gotha, sieht dass Hartz-IV-Urteil positiv. Die Verpflichtung, das Existenzminimum sicherzustellen gilt auch bei Menschen, die sich nicht konform verhalten. Ob sich auch die unwürdige Praxis der Jobcenter ändert, muss sich noch zeigen.

 

 

Das Verfassungsgericht hat die Regelungen des SGB II zu den Hartz-IV-Sanktionen für verfassungswidrig erklärt. Künftig können nur noch maximal 30 Prozent der Regelleistung gekürzt werden. Ändert das auch etwas am System Hartz IV und der menschenunwürdigen Praxis der Jobcenter?

 

Vorangestellt hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Urteilsbegründung, dass es sich um einen grundrechtlich sensiblen Bereich handelt. Wie die Umsetzung des Urteils im Detail erfolgt, bleibt abzuwarten. Der Ball liegt jetzt beim Gesetzgeber. Mit dem Urteil wurde die bisherige Rechtslage teilweise für verfassungswidrig erklärt. Menschen können nicht mehr mit dem kompletten Streichen des Existenzminimums bestraft werden. Der Charakter der Sanktion als Strafmaßnahme ist damit infrage gestellt. „Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich unwürdiges Verhalten nicht verloren“, heißt es in dem Leitsätzen aus dem Urteil vom 5. November. D. h., selbst wenn sich jemand nicht konform verhält, bleibt die grundgesetzliche Verpflichtung des Gesetzgebers, das Existenzminimum sicherzustellen. Jetzt kommt das Aber: Wer diese Leistung beanspruchen will, muss in irgendeiner Form mitwirken. In der Vergangenheit war es leichter, „unbotmäßiges“ Verhalten zu  bestrafen. 

Das Sozialgesetzbuch II ist mit dieser Entscheidung gleichwohl vom Kopf auf die Füße gestellt. Jedenfalls unter der Prämisse, dass der Grundsatz „fördern und fordern“ richtig ist. Die anspruchstellenden Menschen müssen nun genauer betrachtet werden, bevor man mit Maßnahmen vorgehen kann. Die als unwürdige Praxis beschriebene Vorgehensweise der Jobcenter wird es zukünftig so nicht mehr geben. Maßnahmen müssen künftig passgenau auf die Situation der Betroffenen zugeschnitten sein. Vor dieser Herausforderung stehen nun die Jobcenter und auch die Bundesagentur für Arbeit. Das wird auch einen zielgerichteteren Personaleinsatz erfordern. Neu ist nach dem Urteil auch, dass der Betreuungsgedanke deutlich stärker betont wird. Den Menschen muss eine geeignete Brücke in die Erwerbsarbeit aufgezeigt werden. Das Urteil ist somit ein Erfolg mit einer juristischen und einer politischen Seite.

 

In der Vergangenheit wurden die Menschen in oft völlig sinnlose Maßnahmen (Es gibt Berichte über Lama-Wanderungen!) geschickt. Wer sich weigert, dem wird der Regelsatz auch weiterhin um bis zu 30 Prozent gekürzt. Wie können sich Betroffene dagegen wehren?

 

Wenn Leistungen gekürzt werden, können die Betroffenen weiterhin Widerspruch einlegen und notfalls den Rechtsweg zu den Sozialgerichten bestreiten. Die offene Frage ist: Wie wird der Prüfungsmaßstab zukünftig sein? Dazu bedarf es einer Neuregelung. Interessanterweise gibt es keine Vorgabe des Verfassungsgerichtes, bis wann das Gesetz geändert werden muss. Bis dahin hat das Gericht aber Übergangsregeln aufgestellt. Das bedeutet unter anderem, dass die Kürzungen von 60 oder sogar 100 Prozent nicht mehr zulässig sind, dass außergewöhnliche Härtefälle beachtet werden müssen und die Starre von Kürzungen für drei Monate nicht haltbar ist.

 

Wie sehen solche Härtefälle aus?

 

Das Urteil bleibt hier abstrakt. Das wird also auch eine Frage der zukünftigen Rechtssprechung sein. Es ist zu erwarten, dass die Bundesagentur für Arbeit neue Richtlinien erstellen wird. Es wird eine gewisse Zeit dauern, bis es Rechtssicherheit gibt. Jemand, der eine Sanktion erhält und sich am nächsten Tag entschließt den Forderungen des Jobcenters zu entsprechen, soll die Leistung wieder in voller Höhe erhalten. Vorher hatten die Betroffenen keine Chance, durch entsprechendes Verhalten unverzüglich die Sanktionen zu beenden. Aber auch mit 30 Prozent Kürzungen schwebt das Damoklesschwert immer noch über den Leuten. Es ist nur nicht mehr so schwer und trifft nicht mehr so hart.

 

Was passierte eigentlich vorher mit Menschen, denen 100 Prozent der Leistung gestrichen wurde? Hatten die keinerlei Einkommen mehr und verhungerten oder erfroren?

 

Es gibt tatsächlich Berichte über die gesundheitlichen – mitunter tödlichen Folgen von Totalsanktionen. Derartige Fälle und die ganzen Auswirkungen wurden von verschiedenen Arbeitslosenverbänden dokumentiert und waren auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe. Auch deswegen hat die Verhandlung über 7 Stunden gedauert. Das hatte letztlich auch Einfluss auf die Urteilsfindung. Wer als Erwerbsfähiger dem Wirkungskreis des SGB II unterfällt, gelangt nicht ohne weiteres in einen anderen Rechtskreis. Gleichwohl bestand bei den schweren Sanktionen die Möglichkeit, Sachleistungen wie Lebensmittelgutscheine zu beantragen. Darauf bestand aber kein Rechtsanspruch. Es war eine Ermessensentscheidung des Jobcenters.

 

Gab es Fälle, bei denen Leute gegen die 100-Prozent-Sanktion geklagt und Recht bekommen haben? 

 

Solche Klagen gab es und es gab auch Fälle bei den Sanktionsentscheidungen, zugunsten der Leistungsempfänger abgeändert wurden. Es sind Fälle bekannt, bei denen es offensichtlich unzumutbare Maßnahmen gab, welche die Betroffenen gar nicht hätten wahrnehmen können oder die ihnen nichts gebracht hätten. Es gab Fälle, wo Sanktionen aufgehoben, aber auch bestätigt wurden. Beim Sozialgericht Gotha gab es 2016 den Fall einer 60-Prozent-Sanktion wegen wiederholter Pflichtverletzung. Da stellte sich die Frage, ob die zugrunde liegende Regelung im SGB II verfassungskonform ist. Diese an das Bundesverfassungsgericht per Vorlagebeschluss gerichtete Frage wurde nun mit dem Urteil vom 5. November beantwortet.

 

Wie kommt ein Mensch, der sich keinen Anwalt leisten kann überhaupt zu seinem Recht?

 

Wenn ein Anwalt zu dem Schluss kommt, dass ein Verfahren Erfolgsaussichten hat, gibt es die Möglichkeit, Prozesskostenhilfe zu beantragen. Der Anwalt erhält seine Gebühren aus der Staatskasse. Gerichtskosten entstehen nicht.

 

Gerade ältere Menschen, die in Hartz IV rutschen, müssen erst ihr  angespartes Vermögen aufbrauchen, bevor sie überhaupt Anspruch haben. Hat das Verfassungsgericht auch hierzu geurteilt?

 

Daran hat sich im Grundsatz nichts geändert. Hier gilt für die Berechnung des Anspruchs weiterhin die ALG-II-Verordnung. 

 

Inwieweit kann man das Urteil als Anfang vom Ende des Hartz-IV-Systems bewerten und als Beginn für ein irgendwie geartetes sanktionsfreies Grundeinkommen?

 

Das Verfassungsgericht gibt in dieser Frage zumindest nichts vor. Die Politik ist relativ frei darin, wie das Grundrecht auf Gewährleistung des sozio-kulturellen Existenzminimums umsetzt. Das kann mit bestimmten Pflichten verbunden werden.  Ohne konkrete Mitwirkungshandlungen, Antragstellung und Ausfüllen eines Formulares geht es derzeit nicht. Ein Modell, bei dem das ganz anders organisiert ist, sehe ich im Moment nicht. Jedenfalls lässt sich das nicht aus dem Urteil ableiten. Was sich daraus aber ableiten lässt ist, dass die Praxis der Arbeitsvermittlung besser werden muss, zielgenauer und individueller, also geeigneter. Alles andere ist eine Frage von neuen Ideen und von politischen Mehrheiten.      

         

th