Der Verfassungsschutz kann das nicht

Martina Renner, Sprecherin für antifaschistische Politik der Linksfraktion im Bundestag, über Terror von Rechts, zivilgesellschaftliche Initiativen und das Versagen der Sicherheitsbehörden.

Seit dem Mord an Walter Lübcke reden selbst Seehofer und Co. von einer neuen Qualität rechten Terrors. Gibt es das Problem nicht schon sehr viel länger? 

 

Wir haben eine falsche Definition von Terror. Der Rechtsterror wurde nicht als Terrorismus bewertet und deswegen auch nicht in dem Maße verfolgt, weil immer die Grundannahme bestand, politisch motivierte Gewalt richte sich gegen den Staat und seine Institutionen. Migranten und Migrantinnen, Obdachlose, nicht rechte Jugendliche, Menschen mit Beein- trächtigungen wurden als Opfer solcher Gewalttaten individualisiert. Man hat nicht erkannt, dass sie stellvertretend für Minderheitengruppen in der Gesellschaft angegriffen, verletzt, getötet wurden und dass hier ein ebenso erheblicher Angriff auf die Demokratie und den Rechtsstaat wie auch auf die unveräußerlichen Werte unserer Verfassung vorliegt, als wenn ein offizieller Vertreter einer Behörde in den Fokus gerät. 

 

War es angesichts der vielen im Internet kursierenden Gewaltfantasien nur eine Frage der Zeit, bis es einen hochrangigen Politiker treffen würde?

 

Ja. Seit Jahren befasse ich mich mit dem Thema militanter, bewaffneter Rechter und tatentschlossener Rassisten. Wir haben seit der Selbstenttarnung des NSU etliche versuchte und vollendete Tötungsdelikte zu verzeichnen. Diese Zahlen frage ich regelmäßig ab, sie steigen an. Zugleich finden immer mehr rechts motivierte Taten unter Waffen- und Sprengstoffeinsatz statt. Fast wöchentlich werden bei sogenannten Reichsbürgern und organisierten Rechten Munition, Waffen, fertige Rohrbomben gefunden. Wir wissen auch, dass rassistische Mörder wie Brenton Tarrant, der Attentäter von Christ Church, in der Szene verehrt werden und man sich an ihren Taten inspiriert.

 

Lübckes mutmaßlicher Mörder war lange als gefährlicher Rechtsextremist bekannt. Wie auch in anderen Fällen, etwa beim Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri, hat das nichts genutzt. 

 

Und es wird wie bei Amri laufen. Ich wage mal eine Prognose: Schon bald wird man sagen, dass die Version, er sei zuletzt 2009 aufgefallen, so nicht mehr zu halten ist. Es wird sich herausstellen, dass er und sein Umfeld durchaus auch später noch im Visier verschiedener Behörden waren. Er war seit den frühen Neunzigern Teil der extrem rechten Szene in Kassel, stand in engstem Kontakt zu Führungsleuten der bewaffneten Neonazi-Organisation „Combat 18“. Die Version, die derzeit vertreten wird, ist der untaugliche Versuch, von der Verantwortung der Behörden abzulenken. 

 

Sie sehen ein Versagen der Sicherheitsbehörden? Und wenn ja, wie erklärt es sich? 

 

„Combat 18“ ist eine der am besten aufgeklärten Strukturen, weil es sich um die gefährlichste europäische Rechtsterror-Organisation handelt. Man kann hier von einem massiven Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel ausgehen. Möglicherweise aus diesem Grund wurde, als im Jahr 2000 die Mutterorganisation „Blood and Honour“ verboten wurde, „Combat 18“ nicht ebenfalls verboten, weil das zur Folge gehabt hätte, dass V-Leute der Nachrichtendienste in den Fokus der Sicherheitsbehörden gelangt wären. Das könnte auch jetzt Ursache dafür sein, dass man den Schutz der menschlichen Quellen höher bewertet als das Erfordernis, in diesem Kontext gewonnene Informationen preiszugeben. Dem entspricht, dass entsprechende Akten des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses für 120 Jahre gesperrt sind.

 

 Das heißt, der Verfassungsschutz und andere Sicherheitsorgane schonen Mörder und Komplizen, um ihre Methoden und Spitzel nicht der Öffentlichkeit zu präsentieren?

 

Genau so ist es. Nach dem „Blood and Honour“-Verbot im Jahr 2000 gab es immer wieder Versuche der Strafverfolgungsbehörden, Personen zu belangen, die verdächtig waren, die verbotene Organisation weiterzuführen. Alle diese Verfahren sind im Sande verlaufen, obwohl die Beweislage erdrückend war. Man hatte immer das Gefühl: Über „Blood and Honour“, über „Combat 18“ wird eine schützende Hand gehalten. 

 

 Antifaschistische oder wissenschaftliche Gruppen scheinen besser über die rechtsextreme Szene informiert zu sein als die Behörden. Oft hört man dann, diese könnten ja auch viel freier agieren. 

 

Über diese Ausrede kann ich wirklich nur lachen. Die Verfassungsschutzbehörden haben unglaubliche Befugnisse, tief in die Grundrechte einzugreifen, verdeckte Maßnahmen zu fahren, niemandem darüber Rechenschaft abzulegen. Nein, man muss einfach mal anerkennen, dass antifaschistische Initiativen und investigative Journalisten über viele Jahre hinweg Erkenntnisse gewonnen haben, die es ermöglichen, bei einem so schrecklichen Ereignis wie dem Mord an Walter Lübcke innerhalb kürzester Zeit die Zusammenhänge einzuschätzen, in denen sich der mutmaßliche Täter bewegte. Der Verfassungsschutz kann das nicht, weil er nicht in Netzwerken denkt, weil er seine Quellen schützt, weil er keinen Begriff hat von der aktuellen Rechtsterror-Gefahr. 

 

 Angeblich soll Walter Lübcke auch bereits auf einer Todesliste des NSU mit über 10.000 Namen gestanden haben.  

 

Mir ist das aus den NSU-Akten nicht erinnerlich, anderen auch nicht. Es kann stimmen, muss nicht. 

 

Haben die Behörden die NSU-Liste nicht ernst genug genommen?

 

Es war ein Detail der Aufklärung, das angesichts viel drängenderer Fragen in den Hintergrund gerückt ist. Die Liste wurde erst später zum Thema, als der Eindruck entstand, dass solche Listen im aktuellen Rechts-Terror wieder eine neue Bedeutung bekommen. Gegeben hat es so etwas auch früher, aber jetzt nimmt es eine hoch organisierte Form an. Durch Ausspäh-Maßnahmen, durch Zugriffe auf Dienstrechner werden Informationen gewonnen, aus denen solche Listen entstehen. Im Innenausschuss hat die Generalbundesanwaltschaft bisher allerdings die Ansicht vertreten, man solle solche Listen nicht so ernst nehmen, weil sie ja nicht mit dem Wort „Todesliste“ überschrieben seien. Außerdem gebe allein die hohe Zahl der gesammelten Namen Anlass zu Zweifeln, dass es um konkrete Anschlagsvorbereitungen gehe. 

 

Informiert die Polizei Betroffene über solche Listen? 

 

Nein, und das finde ich fahrlässig. Die Betroffenen könnten ja, wenn sie informiert würden, selber Wahrnehmungen beitragen, die die Ermittlungen voranbringen. Im Übrigen sollte jeder, der in den Fokus solcher Rechtsterror-Gruppierungen gerät, den Anspruch haben, informiert zu sein. 

 

Was ist nach dem Mord an Walter Lübcke am Dringendsten zu tun?

 

Wir brauchen ein Verbot von „Combat 18“. Die Szene muss entwaffnet werden. Wir müssen die Netzwerke aufklären und mögliche Mittäter und Unterstützer zur Verantwortung ziehen – auch rückblickend zum Beispiel beim NSU. Da harren noch neun weitere Beschuldigte der Anklage. Außerdem müssen die Mobilen Beratungsprojekte gegen Rechtsextremismus und die Opferberatungsstellen dauerhaft gefördert werden.